Die grosse Abrechnung
Die Wahlen stehen an, die Legislatur ist zu Ende. Was hat die Bundesversammlung in den vergangenen vier Jahren erreicht? Bei welchen Themen ist das Parlament gescheitert, und welche Herausforderungen stehen an? Der Rück- und Ausblick.
Von der Republik-Redaktion, 27.09.2019
Wahljahre sind die Zeit grosser Worte. So wie vor vier Jahren, als SVP, FDP und CVP einen «bürgerlichen Schulterschluss» verkündeten. Gemeinsam wollten die drei Parteien in der neuen Legislatur ihre politische Agenda durchsetzen – und hatten mit diesem Versprechen an den Wahlurnen Erfolg: Nach geschlagener Wahlschlacht am Abend des 18. Oktober 2015 war die Schweiz nach rechts gerutscht, die bürgerlichen Parteien erreichten im Nationalrat gar eine «absolute Mehrheit». Und dann: Schulterschluss?
Es kam etwas anders als versprochen – oder befürchtet.
Rückblickend lässt sich sagen: Der grosse bürgerliche Durchmarsch fand nicht statt. Stattdessen liess sich ein Pingpongspiel zwischen Stände- und Nationalrat beobachten, die sehr selten einer Meinung waren und immer öfter Einigungskonferenzen brauchten. Und statt eines bürgerlichen Schulterschlusses resultierten eher grosse Kompromisse, geschmiedet von Zweckallianzen: Mitte und links schnürten ein Päckchen mit Steuerreform und AHV-Finanzierung, SP und FDP ebneten den Weg für eine abgeschwächte Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative.
Welche Partei sind Sie? Machen Sie den Test!
33 nationale Vorlagen hat die Stimmbevölkerung in dieser Legislatur an der Urne entschieden. Jetzt sind die Wahlunterlagen im Briefkasten – und Sie wissen nicht, welche Partei Sie wählen wollen? Stimmen Sie mit unserem Tool nochmals über die Vorlagen ab – und Sie erfahren, welche Partei Ihnen am nächsten steht.
Was hat das Parlament in den letzten vier Jahren überhaupt erreicht? Wo hat es Lösungen gefunden, wo ist es stecken geblieben, wo hat es versagt? Und welche Antworten findet es zu den grossen Fragen unserer Zeit, zum Beispiel:
Was kann die Schweiz gegen die fortschreitende Klimaerwärmung unternehmen? Wie organisieren wir in Zukunft unseren Energiebedarf?
Welche Chancen und Gefahren bringt die Digitalisierung mit sich? Wo muss gefördert, wo reguliert werden? Und wie kann die Politik dafür sorgen, dass niemand abgehängt wird?
Und wie soll sich die Beziehung zur Europäischen Union entspannen?
Wir blicken auf die letzten vier Jahre Schweizer Politik zurück und ziehen Bilanz der wichtigsten Themen.
Klima: Vom Tiefschlaf in die Schockstarre
Von Elia Blülle
2015 war ein entscheidendes Jahr für die globale Klimapolitik. Einen Monat nach den letzten Schweizer Parlamentswahlen hat die Weltgemeinschaft in Paris das Ziel beschlossen, den globalen Temperaturanstieg auf unter 2 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu beschränken.
Nur: Ziele allein führen noch zu keinen Lösungen. Die allerwenigsten Staaten befinden sich bisher auf einem Kurs, der den Pariser Klimazielen gerecht wird. Auch die Schweiz nicht. Lange sah es sogar danach aus, als ob sie sich in der Liste der Untätigen ganz weit vorne einreihen würde. Bis vor wenigen Monaten hatte das Thema in der politischen Agenda kaum Priorität. Es wurde vor allem in bürgerlichen Kreisen als notwendiges Übel abgetan, das man mit Klein-klein-Politik zu lösen gedachte. Die Verweigerungshaltung gipfelte schliesslich in der desaströs gescheiterten Nationalratsdebatte um das CO2-Gesetz. Noch Ende 2018 versuchte die FDP, die ohnehin schon zahnlose Vorlage noch einmal stark abzuschwächen.
Aber das weltweite Erstarken der jugendlichen Klimabewegung änderte die politische Konjunktur. Im Vorfeld der Wahlen sah sich die FDP deshalb gezwungen, ihren klimapolitischen Kurs anzupassen – und bekannte sich zu einer Politik, welche die Klimaneutralität im Jahr 2050 ins Auge fasst. Dass es der Partei Ernst ist, hat sie in den neuerlichen Beratungen des CO2-Gesetzes im Ständerat bewiesen. Die überarbeitete Vorlage hält sich nun an die Pariser Klimaziele und hat das Prädikat «genügend» verdient.
Trotzdem: Angesichts der neusten wissenschaftlichen Prognosen gehen auch diese Absichten noch zu wenig weit.
Frühestens dann, wenn der Bundesrat und das Parlament die Gletscherinitiative behandeln, wird sich zeigen, wie der neue Klimakurs wirklich aussieht. Würde das Stimmvolk einem Verbot von fossilen Energieträgern per 2050 zustimmen, müssten Parlament und Regierung ihre Bestrebungen noch einmal deutlich verschärfen. Klar ist jedenfalls: Vor der Klimapolitik kann sich die nächsten vier Jahre keine Partei mehr drücken.
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Mit Babyschrittchen zur Klimaneutralität: Der Ständerat hat das CO2-Gesetz verabschiedet. Wie klimafreundlich steht die Schweiz nun da? Der aktualisierte Klimapolitik-Report.
Die Geschichte des Klimawandels: Die Republik-Serie.
Das kleine Einmaleins der Klimapolitik: Wie schnell muss die Schweiz ihre Treibhausgasemissionen reduzieren, um die internationalen Klimaziele zu erreichen?
Digitalisierung: Ahoi, kommerzielle Datendigitalisierung!
Von Adrienne Fichter
Insgesamt 449 parlamentarische Geschäfte tragen bis heute den Begriff «Digitalisierung» im Titel. Ein Grossteil davon entfällt auf diese Legislatur. Das Thema brennt also. Das jüngst ausgerufene Credo von Bundespräsident Ueli Maurer fasst die Politik der vergangenen vier Jahre treffend zusammen: «Digitalisierung first, Bedenken second».
So setzte die wirtschaftsliberale Mehrheit viele ihrer Interessen erfolgreich durch: mehr Überwachung (Büpf), mehr Förderung der hiesigen Internetwirtschaft (Glücksspielgesetz samt wirkungsloser Netzsperren für ausländische Glücksspielanbieter), schwache Ausprägung der digitalen Bürgerrechte.
In einigen Fragen agierte das Parlament geradezu fahrlässig. So lässt eine Anpassung des Datenschutzgesetzes an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts immer noch auf sich warten. Das führt dazu, dass gravierende Datenlecks wie bei der Swisscom ohne Konsequenzen bleiben. Wenn Daten falsch aufbewahrt werden, haben Schweizerinnen und Schweizer im Gegensatz zu den Bürgern der Europäischen Union weiterhin keinen Anspruch auf Schadenersatz.
Noch zwei Tage vor Ende der Legislatur wurde im Nationalrat um sämtliche Paragrafen des revidierten Datenschutzgesetzes gefeilscht. Verabschiedet wurde schliesslich ein Entwurf, der zu viele Lücken lässt. Nun ist der Ständerat am Zug.
Die Bürgerlichen drückten auch der E-ID ihren Stempel auf: Bei diesem Projekt wagt die sonst risikoscheue Schweiz wilde Experimente für einen elektronischen Identifizierungsdienst. Falls dieses Vorhaben ein allfälliges Referendum übersteht, werden Privatunternehmen damit beauftragt, eine staatliche digitale Identität herauszugeben. Europaweit wäre das ein Sonderfall.
Immerhin haben sich im Verlauf der vergangenen vier Jahre auch kritische Stimmen mit Vorstössen zur Cybersicherheit der Bundesinfrastruktur, zu ethischen Fragen und mit Bedenken zum risikoreichen E-Voting Gehör verschafft. Und weiterhin tröstlich: Was dem Parlament an Digitalisierungswissen abgeht, macht die Bundesverwaltung wett: Die Departemente rüsten in Sachen IT-Sicherheit und Cyberkompetenzen stark auf.
Fazit: Bei der Digitalisierung wird um jedes Datensammel-Tricklein bis zum bitteren Ende gekämpft. Gut möglich, dass es nach den Wahlen eine Kurskorrektur gibt. Das neue Parlament hätte dann die Chance, sich einer einfachen Binsenwahrheit zu stellen: nämlich der, dass das Schweizer Internet nicht an den geografischen Grenzen endet.
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Das Märchen des unfähigen Staates: Der Staat könne keine digitale Identität herausgeben, findet die Privatwirtschaft. Doch das ist falsch, wie ein Blick auf die EU-Staaten zeigt. Das Volk will mehr Staat – auch in der Schweiz.
Ein unschweizerisches Papier: Das neue Positionspapier von Economiesuisse könnte direkt von Anwälten aus dem Silicon Valley geschrieben worden sein.
Gesundheit: Der Patient lässt sich nicht heilen
Was passiert, wenn sich zu viele Köche über einen Brei beugen, ist bekannt. Was aber passiert, wenn zu viele Ärztinnen am gleichen Patienten herumdoktern, zeigt sich im Bundeshaus. Wobei die Ärzte in diesem Fall die Parlamentarier sind und der Patient die Gesundheitskosten. Seit zwei Jahrzehnten nun schon versucht die Politik erfolglos, die Kosten in den Griff zu bekommen. Ein zentrales Problem sind die Ärzte. Je mehr von ihnen praktizieren, desto stärker werden die Krankenkassen belastet. Seit 2001 gilt deshalb – mit Unterbrüchen – ein Ärztestopp, mit dem die Kantone die Zulassungen kontrollieren können.
Die ursprünglich als Übergangslösung gedachte Massnahme ist längst ein Dauerprovisorium und wurde allein in den letzten vier Jahren zweimal verlängert. Jetzt soll der Ärztestopp sogar hochoffiziell im Krankenversicherungsgesetz festgeschrieben werden. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Zwar sind sich die grosse und die kleine Kammer einig, dass der Zustrom von Ärzten aus dem Ausland gebremst werden muss. Aber nicht darüber, wie das geschehen soll.
Ebenfalls seit bald zwanzig Jahren doktert die Politik an einer weiteren Gesundheitsreform herum, welche die Kosten senken soll. Es geht darum, ambulante und stationäre Leistungen einheitlich zu finanzieren. Konkret heisst das: Die Kantone würden jeweils 25,5 Prozent der Kosten übernehmen, die Krankenkassen 74,5 Prozent – egal, ob die Behandlung im Spital oder beim Hausarzt passiert. Heute beteiligen sich die Kantone nur an stationären Leistungen. Was bedeutet, dass die günstigeren ambulanten Behandlungen trotzdem die Prämien in die Höhe treiben, weil sie komplett von den Kassen übernommen werden.
Doch damit ist der Patient noch nicht fertig behandelt: Auch der Ständerat darf nochmals Hand anlegen. Und die Kantone drohen bereits mit dem Referendum.
Hinweis: Den Abschnitt zur Anpassung der Franchisen an die Kostenentwicklung haben wir entfernt. Der Nationalrat hat die Vorlage in der Schlussabstimmung abgelehnt.
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Renten: Fortschritt aus Verzweiflung
Von Olivia Kühni
Der letzte Grossversuch, das Schweizer Rentensystem für die Zukunft zu rüsten, scheiterte im September 2017 an der Urne. Nun stehen die Chancen aber gut, dass die AHV-Reform endlich vorangeht.
Den Weg frei machte zunächst das sogenannte Staf-Paket, dem die Bürgerinnen diesen Mai zustimmten: Die SP stellte ihren Widerstand gegen die Reform der Unternehmenssteuern ein, die Bürgerlichen stimmten dafür zu, dass künftig jährlich 2 Milliarden Franken in die AHV fliessen.
Das Päckchen geschnürt haben ein paar langjährige Parlamentarier von Mitte und links. Wichtig war unter anderem, dass sich SP-Präsident Christian Levrat öffentlich persönlich dafür ins Zeug legte – und damit seiner Basis signalisierte, dass die Zeit reif ist für einen Kompromiss. Denn ohne die SP ist eine AHV-Reform nicht zu haben.
Mit den 2 Milliarden Franken zusätzlich im Jahr ist es allerdings längst nicht getan.
Und so präsentierte der Bundesrat vor kurzem den nächsten Anlauf zur Reform. Die wichtigsten Punkte: Das Rentenalter der Frauen wird um ein Jahr auf 65 Jahre erhöht und somit dem der Männer angepasst, dafür gibt es Kompensationen. Und das Rentenalter wird – wie seit Jahrzehnten diskutiert – flexibel: Künftig sollen sich Arbeitnehmer irgendwann zwischen 62 und 70 Jahren für eine Pensionierung entscheiden können; je länger sie arbeiten, desto höher fällt ihre Rente aus. Zusätzlich soll die Mehrwertsteuer um 0,7 Prozent steigen.
Die Reaktionen auf den Vorschlag waren so, wie man es erwarten könnte: Economiesuisse und Arbeitgeberverband kritisierten, dass neben den zusätzlichen Steuermilliarden jetzt auch noch die Mehrwertsteuer erhöht werden soll. Der Gewerkschaftsbund bemängelte dafür die Erhöhung des Frauenrentenalters.
Tatsächlich hat diese Reform wohl trotzdem so gute Chancen wie kaum eine bislang. Erstens drängt die Zeit. Zweitens hat der Bundesrat das höhere Frauenrentenalter und die Flexibilisierung mit grosszügigen Zusatzeinnahmen gepolstert. Er hat dabei auf radikalere Forderungen von verschiedenen Seiten – etwa sofortiges Rentenalter 67 oder eine reine Zusatzfinanzierung – verzichtet. Und nicht zuletzt, drittens, haben alle wirklich dermassen genug von den jahrelangen Diskussionen mit den immer gleichen Argumenten, dass eigentlich nur noch die Flucht nach vorne bleibt.
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Europa: Die Selbstverzwergung nimmt kein Ende
Von Christof Moser
Die vergangenen vier Jahre waren europapolitisch geprägt von zwei grossen Themen: der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative und dem Ringen um das Rahmenabkommen mit der EU.
Ersteres ist schnell erzählt. Das neue Parlament einigte sich im Sommer 2016, angeführt von SP und FDP, auf eine abgeschwächte Umsetzung der Initiative. Zentrales Element: der Inländervorrang, der Arbeitgeber in ausgewählten Branchen darauf verpflichtet, zuerst inländische Arbeitskräfte zu rekrutieren. Entscheidend für die sanfte Umsetzung der Initiative war die Befürchtung, die EU könnte sonst die bilateralen Verträge mit der Schweiz kündigen. Die SVP tobte, ergriff aber kein Referendum. Und so gebar der Berg einen Zwerg.
Die Verhandlungen der Schweiz mit der EU über ein Rahmenabkommen überschatteten hingegen die ganze Legislatur.
Zum Tiefpunkt der Beziehungen kam es Ende 2017, als die EU bekannt gab, das Börsengesetz mit der Schweiz werde nur noch ein Jahr als gleichwertig anerkannt. Die damalige Bundespräsidentin Doris Leuthard sprach von einer «klaren Diskriminierung der Schweiz». Im Dezember 2018 brachte Didier Burkhalter die jahrelangen Verhandlungen mit der EU um das Rahmenabkommen zum Abschluss. Seither wird innenpolitisch gestritten. Die Parteien verlangen Konkretisierungen von Vertragspunkten, die Interpretationsspielraum zulassen.
Burkhalter trat zurück, sein Nachfolger Ignazio Cassis versprach, den «Reset-Knopf» zu drücken. Doch seine sechs Kollegen liessen das nicht zu.
Europa wird auch das neue Parlament von Anfang an beschäftigen. Bereits 2020 dürfte die «Kündigungsinitiative» der SVP zur Abstimmung kommen. Ob die unendliche Geschichte des Rahmenabkommens in der neuen Legislatur über die Bühne gebracht werden kann, hängt nicht nur vom Verdikt der Bevölkerung ab, die darüber wird abstimmen können, sondern auch von der neuen EU-Kommission unter Ursula von der Leyen: Wird sie präzisierte Punkte aufnehmen und der Schweiz die nötige Zeit für die innenpolitischen Prozesse lassen?
Wenn nicht, wird die Schweiz – einknicken. Und der Berg den nächsten Zwerg gebären.
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Muss die tote Sau jetzt durchs Dorf geschoben werden? Niemand sucht das Gespräch mit den Gewerkschaften über das Rahmenabkommen mit der EU. Dabei lässt es sich nur mit ihnen retten.
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3 Seiten, 30 Lügen: SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher hielt vor den Delegierten ihrer Partei eine komplett bullshitfreie Rede. Nur mit der Wahrheit nahm sie es nicht so genau.
Gleichstellung: Die Schweiz rennt im Stillstand in die Zukunft
Von Andrea Arezina
In den vergangenen vier Jahren war die Gleichstellungspolitik im bürgerlich dominierten Parlament blockiert. Der einzige nennenswerte Erfolg: ein Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen. Im Vergleich zu den visionären Modellen anderer europäischer Staaten ist das eine denkbar konservative Lösung. Aber immerhin: Die Schweiz ist in Sachen Vaterschaftsurlaub keine Insel mehr.
Die zweite Baustelle: fehlende Lohntransparenz. Sie gilt als einer der Hauptgründe, wieso immer noch ein Lohnunterschied zwischen Mann und Frau besteht, der sich nicht erklären lässt. Während in der Bundesverwaltung mittlerweile vollständige Transparenz herrscht, bleiben in der Privatwirtschaft viele Bücher verschlossen. Um das zu ändern, hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga eine Lohngleichheitsanalyse für Firmen auf die Agenda gesetzt. Eine solche müssen künftig jedoch nur 0,85 Prozent der Unternehmen durchführen – jene, die mehr als 100 Angestellte beschäftigen. Eine Bestrafung von Unternehmen, die Männer und Frauen ungleich entlöhnen, ist nicht vorgesehen.
Eine weitere gleichstellungspolitische Forderung betrifft börsenkotierte Unternehmen. Gleichstellung hiesse: 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen in Führungspositionen. Stattdessen hat man sich im Parlament einzig auf einen – Achtung, Zungenbrecher! – «Geschlechterrichtwert» geeinigt. In Verwaltungsräten sollen in Zukunft 30 Prozent und in Geschäftsleitungen 20 Prozent Frauen sitzen. Wird das Ziel nicht umgesetzt, drohen aber auch bei dieser Regelung keine Sanktionen.
Nach dieser Legislatur könnte man also meinen, das Parlament habe in einer SAC-Hütte getagt – und sei nie vom Berg runtergekommen. Obwohl mehrmals Zehntausende Frauen auf die Strasse gingen und für mehr Lohngleichheit und gegen Sexismus demonstrierten, sind gleichstellungspolitische Anliegen weiterhin ein Randthema; die Fortschritte äusserst gering.
In der nächsten Legislatur werden gemäss Prognosen mehr Frauen im Parlament sitzen. Und der erfolgreiche Frauenstreik dürfte dafür sorgen, dass die feministischen Forderungen mit mehr Vehemenz ins Bundeshaus getragen werden als in vergangenen Jahren. Vor allem das Frauenrentenalter und die Ehe für alle werden für lebhafte Diskussionen sorgen. Und weiterhin auf der Agenda: die ausbleibende Umsetzung der Lohngleichheit. Sie steht übrigens seit 38 Jahren in der Verfassung.
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Steuerpolitik: Gerade noch die Kurve gekriegt
Von Simon Schmid
Im Februar 2017 stand das Parlament vor einem Scherbenhaufen. Das Volk hatte in einem Referendum die Unternehmenssteuerreform III krachend abgelehnt. Peinlich war dies vor allem für die FDP und die SVP: Ihr Plan, die neue Mehrheit für einen steuerpolitischen Kahlschlag zu nutzen, war gescheitert. Das Volk trug die äusserst konzernfreundliche USR III nicht mit.
Es brauchte zwei weitere Jahre und viel Verhandlungsgeschick, besonders seitens der CVP, bis die Scharte ausgewetzt war und ein Nachfolgegesetz durch eine Volksabstimmung gebracht werden konnte. In der Staf-Vorlage vom Mai 2019 waren einige Bestimmungen der USR III entschärft worden, ausserdem wurde die Teilsanierung der AHV mit der Steuerreform verknüpft.
Das Resultat stellt zwar niemanden wirklich zufrieden – die Rechte stört sich an der Finanzierung der Altersvorsorge durch höhere Abgaben, die Linke klagt weiter über Steuervorteile für Grossunternehmen –, doch immerhin bewahrt es die Schweiz vor weiteren Retorsionsmassnahmen seitens der EU.
Wie die Kantone mit dem verschärften Steuerwettbewerb zurechtkommen, der sich in den kommenden Jahren einstellen wird, muss sich weisen.
Im Kanton Zürich wurde kürzlich die Umsetzung der Reform auf kantonaler Ebene durchgewinkt. Mit sinkenden Steuereinnahmen von Unternehmen ist zu rechnen. Bereits wenige Tage nach der Abstimmung meldete sich Ernst Stocker, Finanzdirektor des Kantons Zürich, zu Wort und sagte, auf geplante Steuersenkungen für natürliche Personen müsse nun verzichtet werden.
Passender Lesestoff:
Die nicht gestellte Frage zum Steuer-AHV-Paket. Die Vorlage verletzte die Einheit der Materie. Aber das war gar nicht das Grundsatzproblem.
Wettlauf in die Untiefe der Firmenbesteuerung: Steuern für Unternehmen senken, ein langjähriger Trend, den die Schweiz an vorderster Stelle vorantreibt.
Die Steuervorlage, die Schattenregierung und Frau Martullo-Blocher: Wie ein Kommissionsentscheid die Ems-Chemie-Chefin zur Steuersparerin machte.
Medienpolitik: Der Totalabsturz ist abgewendet
Von Dennis Bühler
Den wichtigsten medienpolitischen Entscheid dieser Legislatur fällte nicht das Parlament, sondern die Stimmbevölkerung. Am 4. März 2018 verwarf sie die No-Billag-Initiative zur Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren wuchtig. Das Schlimmste war damit abgewendet.
Und doch kehrte keine Ruhe ein. Denn wirtschaftlich betrachtet steckt der Journalismus nach wie vor in der Krise: Rasant sind die Werbeerlöse weggebrochen, noch immer hält sich die Zahlungsbereitschaft der Nutzer für Onlinejournalismus in engen Grenzen. National- und Ständeräte haben darauf mit diversen Vorstössen reagiert.
Ihre Devise dabei: kleine Schritte statt eines grossen Wurfs.
Glücklicherweise hat den Lead in der Medienpolitik ohnehin der Bundesrat inne: Nach dem völlig missglückten Versuch Doris Leuthards, ein neues Mediengesetz zu konzipieren, hat er unter deren Nachfolgerin Simonetta Sommaruga umgedacht. Onlinemedien sollen nun innerhalb des bestehenden Radio- und TV-Gesetzes finanziell gefördert werden können. Die geplante Umsetzung ist nicht perfekt, geht aber in die richtige Richtung.
Und: In einem voraussichtlich nach links rutschenden Parlament dürfte das Vorhaben im kommenden Jahr gute Chancen haben. Doch die Gesetzesänderung kommt kaum vor 2022.
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Asyl und Migration: Weniger Ausländer sind der Schweiz immer noch zu viele Ausländer
Von Carlos Hanimann
Das Wahljahr 2015 war geprägt vom europäischen Flüchtlingssommer; der mutigen Angela Merkel und einer überraschenden Willkommenskultur in Deutschland. In der Schweiz befürchtete man eine «Flüchtlingswelle». Doch entgegen den europäischen Trends und den Befürchtungen sind die Asylzahlen über die vergangenen Jahre in der Schweiz gesunken.
Das ist das zweifelhafte Vermächtnis der sozialdemokratischen Asylministerin Simonetta Sommaruga. Kein anderes Land profitiert so stark wie die Schweiz davon, dass Geflüchtete in Europa herumgeschoben werden – Bilanz des Dublin-Systems seit 2015: Die Schweiz hat rund 3000 Personen aufgenommen und 10’000 Personen abgeschoben.
Die wichtigste Neuerung war die Einführung des neuen Asylgesetzes im März 2019. Im Sommer 2016 angenommen, soll das Gesetz mehr Beschleunigung ins Schweizer Asylwesen bringen. Das heisst: effizientere Verfahren, schnellere Abschiebungen, stärkere Isolation der Geflüchteten. Und – so die Befürchtung von Anwältinnen – wegen der Priorisierung von aussichtslosen Fällen allenfalls noch längere Wartezeiten für jene, die gute Chancen auf ein Bleiberecht haben. Noch weiss man wenig über die Wirkung des neuen Gesetzes, die Migrationsbehörde gibt sich zufrieden und hat angekündigt, abgewiesene Asylsuchende noch konsequenter abzuschieben.
Dass sich die Schweiz nicht für den Aufbau einer europäischen Seenotrettung einsetzt, ist eine verpasste Chance. Stattdessen beteiligt sie sich weiterhin an der umstrittenen europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Zudem anerkennt die Schweiz die Flucht vor dem eritreischen Nationaldienst nicht mehr als Asylgrund und riskiert damit, Geflüchtete in Folter zu treiben.
Einziger Fortschritt: Im Herbst 2016 wird die erleichterte Einbürgerung für die dritte (!) Ausländergeneration beschlossen.
Und nun?
Die SVP macht weiterhin die Migration zum grossen Problem der Schweiz – allen Fakten zum Trotz: Die Einwanderung in die Schweiz ist seit Jahren rückläufig. Mit der sogenannten Begrenzungsinitiative wollen die Nationalkonservativen die Personenfreizügigkeit mit der EU kündigen. Der Nationalrat hat die Initiative vergangene Woche abgelehnt.
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«Ob du Fehler machst oder nicht: Am Ende landest du immer im Knast»: Elfmal wurde Herr K. in den vergangenen zehn Jahren für das gleiche Delikt verurteilt. Sein Vergehen ist seine Anwesenheit.
Ein zynisches Urteil: Die Flucht vor dem Nationaldienst in Eritrea gilt in der Schweiz nicht länger als Asylgrund. Damit nimmt das Bundesverwaltungsgericht in Kauf, Asylsuchende in Folter und Zwangsarbeit zu treiben.
33 Fragen und Antworten: Gespräch mit dem Berner Migrationsrechtsforscher Stefan Schlegel.
Energiepolitik: Mit einem Grosserfolg in die ungewisse Zukunft
Von Elia Blülle
Vor acht Jahren, kurz nach dem Atomunglück in Fukushima, entschied der Bundesrat den mittelfristigen Ausstieg aus der nuklearen Energie. Es war eine Kehrtwende, die nicht nur eines der Kernanliegen der Linken erfüllte, sondern von einem Tag auf den anderen die gesamte Schweizer Energiepolitik auf den Kopf stellte.
Schon damals war klar, dass es neue Energiequellen braucht, damit Bevölkerung und Wirtschaft ihren Stromkonsum nicht radikal herunterfahren müssen. Aus diesem Zwang war die Energiestrategie 2050 geboren. Diese ist einer der wenigen politischen Grosserfolge der vergangenen vier Jahre. Der Kompromiss vereinte alle Parteien, mit Ausnahme der SVP. Sogar die ansonsten atomfreundliche FDP trug das neue Gesetz mit, welches nukleare Energie endgültig verbannt, strengere Abgasvorschriften und massive Subventionen für erneuerbare Energien vorsieht. 2017 hiess die Stimmbevölkerung das Massnahmenpaket gut.
Zwei Jahre nach seiner Implementierung ist das Fazit aber durchzogen: Zwar nimmt der Gesamtenergieverbrauch pro Kopf ab, doch gleichzeitig wächst die Schweizer Bevölkerung stark. Insgesamt nimmt der Stromkonsum deshalb weiterhin zu. Bereits diesen Juni hat der Ständerat gewarnt, es brauche zwingend Massnahmen, um die Stromversorgung zu sichern.
Kommt hinzu: Die Windenergie bleibt in der Schweiz weiterhin hinter ihrem Potenzial zurück. Der Bund will 7 Prozent des Strombedarfs durch Windenergie decken. Aktuell sind es lediglich 0,2 Prozent. Viele Projekte sind blockiert oder wurden aufgrund von Protesten aus der Bevölkerung gänzlich eingestellt. Es braucht dringend Ansätze zur Beschleunigung von Windenergieprojekten. Ansonsten drohen Engpässe.
In den nächsten Jahren muss das Parlament ein neues Stromversorgungsgesetz verabschieden, das die Energiewende noch einmal stark vorantreiben und den Strommarkt liberalisieren soll. Ob diese wirtschaftspolitische Massnahme tatsächlich dazu führt, dass die energiepolitischen Ziele besser erreicht werden können, ist umstritten – und ungewiss. Vor allem linke Parteien werden alles daransetzen, eine weitere Liberalisierung des Strommarktes zu verhindern. Es droht die Blockade.
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Eine kleine Energiegeschichte: Wie die Schweiz in nur 100 Jahren zum Vielverbraucher fossiler Treibstoffe wurde – und wie sich der Energiehaushalt des Landes in den nächsten Jahrzehnten verändern muss.
Der Mann an der Sonne: Seit Jahrzehnten erforscht Michael Grätzel in Lausanne, wie sich Sonnenenergie möglichst effizient in Strom verwandeln lässt.
So werden Sie Ihr AKW in 17 Schritten los: Wie man ein Atomkraftwerk baut, weiss man. Viel schwieriger ist der Abbau. Haben Sie dieses Problem? Hier ist die Lösung.