Das sollten Sie über die AHV wissen
Eigentlich wäre eine Reform gar nicht so schwierig – wären da nicht alte Verletzungen. Eine Analyse kurz vor Bundesrat Alain Bersets neuem Anlauf.
Von Olivia Kühni, 09.02.2018
In wenigen Tagen, das hat das Eidgenössische Departement des Innern von Alain Berset angekündigt, startet der Bundesrat einen weiteren Versuch, endlich zu schaffen, woran seit längerem alle gescheitert sind: eine Reform der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).
Berset hat bereits eine Niederlage hinter sich: Letzten Herbst scheiterte seine Vorlage, die Reformen in AHV und betrieblicher Vorsorge zusammengepackt hatte. Knapp, aber dennoch. Berset befindet sich damit in guter Gesellschaft. Seit Jahren bleibt jeder Vorstoss im politischen Schlamm stecken – blockiert von Misstrauen bei Linken wie Bürgerlichen und mehr oder weniger begründeten Sorgen der Bürgerinnen.
Dabei wäre die Reform rein technisch gesehen gar nicht so schwierig – im Prinzip ist allen Fachleuten klar, was zu tun wäre. Die Hürde ist eine andere: die Bedeutung, die sie für die verschiedenen politischen Lager hat.
Die AHV-Reform weckt Misstrauen und Ängste, die weit in die Vergangenheit reichen.
1. Das Problem
Das Problem der AHV ist schnell erklärt: Ihr geht das Geld aus. Knapp 2,3 Millionen Menschen beziehen jeden Monat eine Rente; 1990 waren es ziemlich genau halb so viele, nämlich rund 1,1 Millionen Menschen. Dank dem starken Arbeitsmarkt und unerwartet vielen Zuzügerinnen nimmt die AHV auch ordentlich Geld ein (Sie sehen Ihren eigenen Beitrag monatlich auf dem Lohnausweis, falls Sie einen haben). Und trotzdem: Hätte die AHV nicht in fetteren Jahren Reserven aufgebaut, würde sie bereits heute Verluste schreiben.
2016 verbuchte die AHV einen Gewinn von 438 Millionen Franken. Das klingt nach viel. Ist es aber nicht, weil die AHV riesige Summen verteilt. Sie zahlte im gleichen Jahr 42,3 Milliarden Franken an Renten aus. Das bedeutet: Hätte sie nur 1,04 Prozent mehr auszahlen müssen, wäre sie in die roten Zahlen gerutscht. Das kann sehr schnell passieren – in den letzten Jahren wuchs die ausbezahlte Rentensumme jährlich stets um mehr als das. (2016: 1,9 Prozent, 2015: 2,1 Prozent, 2014: 2,2 Prozent.)
Nun sind Prognosen immer schwierig, weil sie nun mal die Zukunft betreffen. Niemand kann verlässlich sagen, wie viel Geld der AHV fehlen wird. Doch man darf vernünftigerweise davon ausgehen, dass uns der wichtigste Grundtreiber der steigenden Ausgaben erhalten bleibt: die Langlebigkeit der Menschen. Die Schweiz hat die AHV 1948 eingeführt. Seither ist die Lebenserwartung von Männern um 15,1 Jahre gestiegen, jene von Frauen um 14,4 Jahre. Trotzdem ist das Rentenalter von damals, 65 Jahre, für Männer gleich geblieben und für Frauen sogar gesunken.
Gleichzeitig hat die tatsächliche wöchentliche Arbeitszeit abgenommen. Sie ist bei Männern seit 1991 durchschnittlich von 40,6 auf 37,3 Stunden, bei Frauen von 28,3 auf 26,3 Stunden gesunken. Die unbezahlte Arbeit – die lange überhaupt nicht registriert wurde und oft gar nicht erwähnt wird – hat für Frauen von 33,3 Stunden auf 30,1 Stunden abgenommen und für Männer von 17,3 Stunden auf 19,5 Stunden zugenommen.
Taucht man noch tiefer in die Zahlen, lässt sich einiges mehr ablesen. Das Wichtigste ist, dass nichts so simpel ist, wie es scheint. Der grundsätzliche Wohlstandsgewinn etwa wird von vielen nicht erkannt, weil er in längeren Studien, in Auszeiten oder Teilzeitarbeit versteckt ist. Ebenfalls zu beobachten ist eine langsame, aber dennoch sichtbare Veränderung der Rollen von Frauen und Männern. Vor allem aber erkennt man: Es wird in einer vielfältigen Gesellschaft immer schwieriger, in pauschalen Gruppen zu denken. So hat die zeitliche Belastung zwar insgesamt abgenommen, für Eltern von kleinen Kindern aber gilt das nicht. Oder so gibt es in der Schweiz heute zwar weniger arme Menschen als früher, aber viele alleinstehende ältere Frauen haben dennoch zu kämpfen.
Es ist die grosse Stärke der AHV, dass sie eine pauschale Einteilung in Gruppen gar nicht erst versucht. Sie ist die bedingungsloseste Sozialversicherung der Schweiz und ihr effektivstes Umverteilungssystem. Das ist historisch so gewollt – dazu gleich mehr.
2. So funktioniert die AHV
Wie Sie wissen, funktioniert die Kasse nach dem viel zitierten Umlageverfahren oder «pay as you go», wie das die Briten anschaulicher nennen. Das bedeutet: Niemand von uns spart dort Geld an. Was Sie und ich monatlich abgeben – als Erwerbstätige 8,4 Prozent vom Lohn, je zur Hälfte bezahlt von Arbeitgeberin und Arbeitnehmer –, geht direkt in den Topf für die heutigen Rentnerinnen. Ohne Umweg über die Finanzmärkte, ohne aufwendige Verwaltung. Was am Ende Ihres Erwerbslebens für Ihre Rente zählt, ist hauptsächlich, dass Sie all die Jahre mit dabei waren und Ihre Beiträge bezahlt haben. Ein wenig wie in einem Verein.
Das macht die AHV sicher, effizient und kostengünstig. Es macht sie aber eben auch anfällig für Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, vor allem für die beschriebene steigende Lebenserwartung. Weil sie eben so stark von den Menschen abhängt und nicht von irgendeiner Kapitalentwicklung. In wenigen Jahren, da ist man sich grundsätzlich einig, wird die AHV Verluste schreiben.
Nun kann man das drehen und wenden, wie man will. Geht eine Buchhaltung nicht auf, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: mehr Geld einnehmen oder weniger Geld ausgeben. Am besten beides. Gerade wenn einem diese Institution am Herzen liegt. Doch dazu müssen viele von uns tief sitzende Verletzungen überwinden.
3. Almosen
Zürich im 17. Jahrhundert. «Neben den Alten und Verkrüppelten finden wir vaterlose Familien, die im Elend leben: Ein Zimmermann ist ausgewandert und liess seine Kinder allein. Ein Kriegsknecht ist auf fremdem Schlachtfeld gefallen und ‹lasst seine Frau und Kinder am Hungertuch nagen›.»
So beschreibt ein Historiker die Armut im alten Zürich. Kinder, die noch nie Milch getrunken haben, Witwen, die unter freiem Himmel schlafen, Menschen, die sich von Zweigen und Unkraut ernähren und wie «Tote» oder «Skelette» umhergehen. Die hier beschriebene Krise war das Resultat explodierender Getreidepreise und einer europaweiten plötzlichen Geldentwertung. Doch viele Regionen in der Schweiz, diesem zwischen Bergketten gezwängten Land, brauchten keine Krise für eine Katastrophe. Sie waren bis weit ins 19. oder gar 20. Jahrhundert bitterarm.
Es ist eine Erfahrung, die viele Menschen nicht vergessen haben.
Arme und Alte erhielten Brot, Kleider und manchmal auch ein Dach über dem Kopf als Almosen – eine Wohltätigkeit, mit der gute Christinnen im Mittelalter und danach ihren Wert beweisen konnten. Almosen stammt ab von Elemosyne, dem griechischen Wort für Mitleid – und genau das hat das entsprechende Motiv des Gebens zu sein.
Ein Almosen ist kein Recht und kein Fördergeld. Es ist eine Geste der Starken an «die Schwächsten» – eine Haltung, die bis heute nachklingt, wenn es heisst, wir müssten «den Schwachen» in unserer Gesellschaft «helfen», womöglich noch den «sozial Schwachen». Im Mittelalter waren es die Kirchen, die Almosen ausgaben, später – in Zürich auf Initiative Zwinglis – die Gemeinden.
Doch die Hilfe kam mit einem bitteren Preis: Rechenschaftspflicht. Es gab und gibt bis heute Wohltäter, die keinerlei Bedingungen stellen. Vielfach war das Mindeste, was erwartet wurde, ein gottgefälliges Leben. Und der Staat – da mit Steuergeldern finanziert und mit Ziel und Zweck ausgestattet – war keinesfalls grossherziger als Kirchen oder Wohltätigkeitsvereine. Im Gegenteil. Wurden Arme im Christentum (und anderen Religionen) noch als gottgegeben angenommen, sogar manchmal idealisiert, teilte sie der Staat nun nüchtern auf: in «gute» und «schlechte» Arme – anschaulich beschrieben etwa im Neujahrsblatt der Hülfsgesellschaft in Zürich von 1838:
«Aber dieses tägliche Almosen ward jetzt nicht mehr dem ersten besten sich meldenden Armen oder müssigen Bettler ausgetheilt, wie früher, sondern es ward gleichzeitig eine Anweisung des Austheilens, oder eine ‹Almosenordnung› erlassen», heisst es dort. Fortan werde ein sorgfältiger Unterschied gemacht zwischen «würdigen und unwürdigen Armen». Unwürdig waren «Männer oder Weiber», die ein offensichtlich liederliches Leben führten. Menschen, die ihr Geld «unnütz, üppig und überflüssig verthan, verspielt, vergeudet, auch verzehrt (durch Zechen verschwendet) haben und nicht wollen werchen, sondern in den Wirthshäusern, Trinkstuben und in aller Hurerei allweg gelegen, solchen und dergleichen Personen soll man von diesem Almosen nichts geben, bis sie auf die letzte Noth gekommen sind, dann soll es erst an einem Bürgermeister und Rath stehen, wie man dieselben halten wolle».
Ja, tatsächlich: Die Herren Bürgermeister und Räte hatten darüber zu befinden, wer Gnade erfahren sollte. Und die Bürgerinnen ihr Leben offenzulegen.
«Manche Bürgerlichen hätten wohl am liebsten wieder das Almosenwesen zurück», sagt Doris Bianchi, bis vor kurzem beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund und eine der bestinformierten AHV-Expertinnen im Land. Sie sagt es schnell und laut, mit blitzenden Augen in einem sonst ruhigen Gespräch.
Kurz: Das hier ist der alte, zähe Kampf der Linken, ihre Raison d’Etre. Es ist keiner, den sie je aufgeben werden. Oder dürfen. Und keiner, in dem sie leichtfertige Zugeständnisse machen.
4. Einer wie Stampfli
Zum Neujahr 1944 tat Walther Stampfli etwas, das damals die Schweiz verblüffte. Der Bundespräsident trat vor die Bürger und versprach ihnen die Einführung der AHV bis 1948 – eine waghalsige Geste in einem Land der Referenden. Doch Stampfli sollte Wort halten.
Auf den ersten Blick war der Solothurner Freisinnige ein ungewöhnlicher Kandidat, um das lange gewünschte, aber mehrfach gescheiterte Vorhaben endlich durchzubringen. Der kräftig gebaute Familienvater war ETH-Absolvent und Wirtschaftskapitän, in die Regierung gewählt unter Protest der Sozialdemokraten. Auf den zweiten Blick aber war Stampfli genau der Richtige: Er nutzte seine Beziehungen und sein Verhandlungsgeschick, um Wirtschaftsverbände und Unternehmer ins Boot zu holen – und bewies sich in Tat und Charakter als einer der grossen Brückenbauer, wie es im alten Freisinn einige gab.
Als Stampfli 1944 vors Volk trat, waren die grossen Wirtschaftsverbände längst eingeweiht, wie es das wohl beste Buch zu jener Zeit beschreibt. Allerdings nicht nur die: Einer von Stampflis engsten Vertrauten und wichtigsten Mitstreitern war der Bahngewerkschafter und sozialdemokratische Nationalrat Robert Bratschi, der später die Brücke ins Parlament und zu den Genossen aufrechterhielt. In seinem Departement versammelte Stampfli einen kleinen Kreis von drei exzellenten, differenzierten Fachexperten, die sich gegenüber allen Parteien, Einzelinteressen, Polemiken stoisch zeigten.
Der inzwischen verstorbene Ständerat Ernst Leuenberger, ebenfalls Solothurner, skizzierte 2004 in einer Parlamentsrede seinen Landsmann Stampfli und dessen Art. «Wir hätten uns gestritten, wenn wir uns begegnet wären», sagte der Sozialdemokrat Leuenberger. Doch sei es Stampfli gewesen, der zu jener Zeit den Arbeiterinnen der Schuhfabrik Bally zu einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) verholfen habe. Als die Gewerkschafter bei Fabrikchef Iwan Bally auf Granit bissen, hätten sie sich an den Bundesrat gewandt. «Da sagte der Herr Stampfli: ‹Wir wollen geordnete Verhältnisse im Kanton Solothurn›, liess den Iwan Bally kommen und sagte: ‹Iwan, wenn du mit diesen Gewerkschaften nicht einen Gesamtarbeitsvertrag abschliesst, kannst du keine Militärschuhe mehr liefern.›» Bis zum letzten Tag, so Leuenberger, habe die solothurnische Bally einen GAV gehabt.
Bei der AHV balancierten Stampfli, Bratschi und ihre Verbündeten vorsichtig ins Ziel. Stampfli hörte sich die Chefs der grossen Versicherungen an, die um ihr gerade erst richtig anlaufendes Geschäft mit betrieblichen Vorsorgeplänen fürchteten. Auch einige Gewerkschaften setzten eher auf firmeneigene oder branchenweite Sparpläne, von denen sie sich Verhandlungsgewicht und Mitgliederloyalität versprachen – was ihnen von anderen Sozialdemokraten den Vorwurf der Klassenverräter eintrug. Die Katholisch-Konservativen wiederum wollten lieber eine besondere Unterstützung für Familien.
Die Reformer hielten die AHV bescheiden und klein, um private Angebote nicht zu konkurrenzieren. Sie weigerten sich aber, bei bestehenden betrieblichen Plänen irgendeine Art von Rabatt zu überlassen – oder den Versicherungen womöglich noch das ganze Geschäft. Sie machten den Kompromiss in der Grösse, aber keinen Kompromiss in der Sache. Sie gründeten eine Kasse von den Bürgern für die Bürger, strikt getrennt vom Kapitalmarkt. Nur die Konservativen erhielten das (erst Jahrzehnte später eingelöste) Versprechen für eine Mutterschaftsversicherung.
Am 6. Juli 1947 sagten die Schweizer Bürger an der Urne «wuchtig» Ja zur noch bescheidenen neuen Versicherung: 40 Franken im Monat, ab 65 Jahren für beide Geschlechter. Und sorgten auf einen Schlag für zwei Erkenntnisse von historischer Bedeutung.
1. In einer Konsensdemokratie lohnt es sich, Reformen klein und rücksichtsvoll zu gestalten. Selbst oder gerade dann, wenn sie nur der Anfang sind für etwas viel Grösseres.
2. In diesem Land ist die Unterstützung für Alte kein Almosen mehr. Die Rente ist ein Recht und eine Pflicht. Eine Verantwortung, die Bürgerinnen und Bürger füreinander übernehmen. Ein Vertrag, nein, nicht mit «dem Staat»: ein Vertrag miteinander.
Das ist der nicht selbstverständliche Sieg von Sozialdemokratie und Freisinn im zwanzigsten Jahrhundert. Wir tun gut daran, ihn nicht zu vergessen. Und auch jene nicht, die – trotz aller Balance – zurückstecken mussten.
5. Tschudi-Tempo
Er war ein Mann von verbürgt aussergewöhnlicher Geschwindigkeit, und entsprechend knapp soll dieses Kapitel ausfallen: Hans Peter Tschudi, ein brillanter Basler Jurist und Wunderkind angeblich schon im Gymnasium, zog 1959 in den Bundesrat ein – auch das ein Coup von Freisinn mit Teilen der SP, die den Pragmatiker gegen den aktivistischen offiziellen Kandidaten der Linken, Walther Bringolf, ins Amt hievten. Doch Tschudi erwies sich als einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste Schweizer Sozialdemokrat des zwanzigsten Jahrhunderts. «Er argumentierte kurz, aber präzis, mitunter auch mit der dem Basler eigenen Ironie», schrieb die NZZ zu Tschudis Tod 2002. «Dabei verlor er seine eigentlichen Anliegen aber nie aus den Augen, was manche Parlamentarier oft zu spät bemerkten.»
Der Innenminister baute im «Tschudi-Tempo» die AHV aus. Und hatte die Bevölkerung mit im Boot. Die Bürger bekannten sich immer und immer wieder zur Versicherung: Seit 1947 erhöhten sie mehrmals die Renten und entsprechend die Lohnabzüge. Seit 1980 – auch das ein Verdienst Tschudis – werden die Renten ausserdem automatisch an das allgemeine Lohnwachstum und die Teuerung angepasst. Tschudi war es auch, der 1965 die Einführung von Ergänzungsleistungen durchbrachte, mit denen Bund und Kantone bei existenzieller Not die Renten aufstocken.
Tschudis Erfolg erklärt zudem, warum die auch hier eingangs geführte Rede von der neuzeitlichen «Blockade» in die Irre führen kann. Es ist so erstaunlich auch wieder nicht, dass eine Reform schwieriger ist als früher. Fünfzig Jahre lang wurde die AHV immer nur ausgebaut. Bundesrätin Ruth Dreifuss (SP) bewegte sie 1997 sozusagen seitwärts. Sie brachte durch, dass das Frauenrentenalter von 63 Jahren (1957) und 62 Jahren (1964) wieder auf 64 Jahre stieg, und kompensierte das mit dem sogenannten Einkommenssplitting (bei verheirateten Paaren wird das verdiente Einkommen hälftig beiden Partnern angerechnet) und Erziehungsgutschriften. Jetzt, siebzig Jahre nach der Geburt der AHV, geht es erstmals eindeutig nicht um einen Ausbau.
Bis zu seinem Rücktritt trieb Tschudi auch Investitionen in die Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Lausanne und Zürich voran, baute die Nationalstrassen aus und brachte insgesamt rekordverdächtige 164 Vorlagen ins Parlament. In seine Abschiedsrede vor der Bundesversammlung flocht er einen Appell: «In einer Demokratie, besonders in einer direkten, kann die Regierung ihre Beschlüsse nicht losgelöst von den Strömungen der öffentlichen Meinung fassen», sagte Tschudi. Doch sei es verhängnisvoll, wenn der Bundesrat seine Politik nur nach den wechselnden Tendenzen ausrichte. «Die Exekutive muss ihre Entscheide aufgrund klarer, eingehend erwogener Kriterien und gestützt auf feste unerschütterliche Wertmassstäbe treffen.»
Tschudi und seine Nachfolgerinnen verfestigten, was Stampfli und seine Mitstreiter angelegt hatten: Eine staatlich organisierte Altersversicherung gehört zur Schweiz.
6. Die AHV heute
Meine Grossmutter führte ein Leben, wie es viele Frauen ihrer Generation kannten. Als junges Mädchen wissbegierig, heiratete sie, gebar sechs Kinder und arbeitete als Frau eines Emmentaler Metzgers von morgens bis abends. Langsam schufteten sich die Grosseltern von einem Leben ohne warmes Wasser und Toilette zu einem bescheidenen Kleingewerbleralltag. Jetzt, bis zu ihrem Tod letzten Sommer, lebte sie in lange eingeübter Sparsamkeit von ihrer AHV-Rente, von Ergänzungsleistungen und vom behutsamen Zustupf ihrer Kinder, den sie nie eingefordert hätte. Es ist ein Leben, wie es viele alte Menschen in der Schweiz kennen.
Die Schweizer AHV beruht auf einem heiligen Prinzip, das sie so erfolgreich wie kostengünstig macht: der Gleichbehandlung. Es gelten in der staatlich organisierten Altersversicherung, anders als in anderen Ländern, für alle die gleichen Regeln – auch für Lehrer, Polizistinnen, Kaminfeger, Professorinnen, Bähnler, Kaderangestellte, Hausmänner oder wen auch immer. Das ist der Coup, der den alten Konkordanzpolitikerinnen gelang: das Privilegienwesen aus der ersten Säule fernzuhalten. (Die betriebliche Vorsorge ist ein anderes Thema.)
Wer jedes Jahr seine Beiträge an die AHV zahlt, bekommt bei der Pensionierung eine Rente zwischen 1175 Franken (Minimum) und 2350 Franken (Maximum) im Monat, Ehepaare gemeinsam höchstens 3525 Franken. Das ist eine ziemlich radikale Umverteilung. Egal, ob jemand ein Erwachsenenleben lang 478 Franken jährlich einzahlte (der aktuelle Mindestbeitrag) oder 20’160 Franken jährlich (das wäre der fällige Beitrag bei einem Monatslohn von 20’000 Franken) – niemand erhält dereinst weniger als 1175 Franken oder mehr als 2350 Franken. Bürgerliche nennen das gern einmal «das Giesskannenprinzip». Und sie haben völlig recht: Das ist es, und zwar erfolgreich und gewollt. Um individuellen Platz zum Wachsen, Toleranz für Pflanzenvielfalt und Extradünger darf und sollte woanders gestritten werden.
Mit diesem Verweis auf die Gleichbehandlung haben übrigens einige Spezialistinnen, so etwa die auf Sozialversicherungen spezialisierte Ökonomin Monika Bütler, den Reformvorschlag von letztem Herbst kritisiert: Der vorgeschlagene 70-Franken-Zuschlag für Neurentner, nicht aber für bestehende, verletze dieses Prinzip ganz grundsätzlich, argumentierten sie. Manche ernteten dafür Spott. Doch ihre Kritik hält stand. Wo die Gleichbehandlung noch nicht etabliert war oder ist – etwa beim Rentenalter für Frauen oder bei den Witwerrenten –, sollte man nach dem Geist der AHV darauf hinarbeiten, diese herzustellen.
7. Der Kampf der Linken
Kein politischer Kopf verhält sich nonchalant, wenn es um den Motor seiner Leidenschaft geht, um die Raison d’Etre der eigenen Bewegung. Es ist darum kein Wunder, dass Doris Bianchi und andere Linke die AHV mit Zähnen und Klauen verteidigen: Sie ist tatsächlich eine historische Errungenschaft. Wer eine nachhaltige Reform der AHV will, wird um Respekt für diesen Kampf nicht herumkommen. Oder, wie Bianchi sagt: «Es geht nicht nur um Pragmatismus; es geht auch um ein bestimmtes Staatsverständnis.»
Dazu kommt, dass die jetzige AHV tatsächlich nicht in jedem Fall optimal funktioniert. Das wohl wichtigste Argument: Alleinstehende Menschen, die nur von der AHV leben, sind tatsächlich deutlich öfter arm als andere Bevölkerungsgruppen. Darunter sind viele Frauen. Niedrige Einkommen sind bis heute in der Pensionskasse nicht versichert. Für bürgerliche Ehefrauen mit traditionellem oder Teilzeitmodell ist das – aus rein finanzieller Sicht – weniger problematisch: Einkommen, AHV-Beiträge und Pensionskasse des Ehemannes tragen sie hälftig mit. Essenzielle Folgen haben die Pensionskassenlücken allerdings für viele alleinstehende Niedrigverdienerinnen oder Arbeiter, die oft auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind.
12,5 Prozent der heutigen Rentner beziehen diese staatlichen Zusatzgelder. Man kann politisch akzeptieren, dass dem Verfassungsauftrag der Existenzsicherung auf diese Weise gefolgt wird. Es ist allerdings aus einem Grund problematisch: Dieses Geld kommt nicht aus dem Budget der AHV, sondern aus dem Haushalt des Staates, insbesondere der Kantone. Man kann durchaus argumentieren, dass dies der starken (und liberalen) Grundidee der AHV – eine Versicherung von den Bürgern für die Bürger – grundsätzlich widerspricht. Es ist nachvollziehbar, dass 2015 mit Nidwalden bereits ein Kanton sich mittels einer Standesinitiative beschwerte.
Dieser Kampf, so vermuten nicht nur Linke wohl zu Recht, hat gerade erst begonnen.
8. Die Skepsis der Bürgerlichen
Viele Bürgerliche kämpfen bei der Diskussion um die AHV-Reform ebenso leidenschaftlich wie die Linke. Die Jungfreisinnigen um Andri Silberschmidt und bürgerliche Frauen wie Karin Keller-Sutter, Regine Sauter und Petra Gössi (alle FDP) setzten sich gar prominent und öffentlich gegen den Reformvorschlag ein. Wer sich bis hierher im Text vorgekämpft hat – und etwas gar unliberale und möglicherweise auch medial verzerrte Auftritte ausklammert –, wird nachvollziehen können, wieso.
Obwohl Bürgerliche allzu starker Umverteilung tendenziell skeptisch gegenüberstehen, tragen sie die AHV mit ihrem radikal egalitären Prinzip seit Jahrzehnten mit – auch deren Ausbau. Niemand, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stellt die AHV auch heute grundsätzlich infrage. Niemand spricht sich pauschal für Rentenkürzungen aus. Stattdessen schlägt die FDP in ihrem Plan B nach dem herbstlichen Nein an der Urne eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vor, um das Rentenniveau zu sichern. Eine Rentenkürzung, da ist man sich quer durch die Parteien einig, wäre an der Urne chancenlos.
Wenn manche Linke in der AHV von «Rentenklau» sprechen, so wird das bei den Bürgerlichen angesichts der Entwicklung der letzten 70 Jahre berechtigterweise als Affront empfunden. Die Stimmbürgerinnen haben die entsprechend argumentierende Volksinitiative «AHVplus» 2016 denn auch abgelehnt. Die Vorlage wollte alle AHV-Renten, neue wie bestehende, minimale wie maximale, um zehn Prozent erhöhen.
9. Optionen
Damit zurück zum Anfang und zu den zähen Verhandlungen, die Berset zurzeit führt. Geht eine Buchhaltung nicht auf, bleiben zwei Wege: die Einnahmen erhöhen oder die Ausgaben senken, am besten beides.
In der Schweiz haben sämtliche grossen Parteien beteuert, die Renten nicht senken zu wollen. Dies einerseits, weil das an der Urne keine Chance hätte, andererseits aber auch, weil die Renten angesichts des Verfassungsauftrags («Existenzsicherung») tatsächlich nicht zu hoch sind. Die wohl wichtigste langfristige Massnahme wird darum sein, das Rentenalter auf 67 Jahre zu erhöhen und die Pensionierung zu flexibilisieren. Das keineswegs nur, um die Ausgaben zu senken: Es entspricht auch schlicht der heutigen Lebensrealität. Die Lebenserwartung ist stark gestiegen, gleichzeitig sind die Erwerbsbiografien der Menschen heute vielfältiger, individueller und unterschiedlich belastend. Tatsächlich steigt der Anteil der Menschen im Rentenalter, die weiter erwerbstätig bleiben; alleine seit 2009 ist er von 9,3 Prozent auf 12,1 Prozent gestiegen. Ein beachtlicher Teil davon arbeitet im Teilzeitverhältnis.
Hinter den Kulissen wissen alle, dass eine solche Anpassung kommen muss und wird – aber im üblichen Schweizer Konsenstempo, mitsamt sorgfältiger Abfederung und vorsichtigem Ausgleich. Diesen Frühling wird man zunächst noch um einen anderen überfälligen Schritt ringen: die Angleichung des Frauenrentenalters auf 65 Jahre.
Es ist schon nur aus Sicht des Gleichheitsprinzips richtig, das Frauenrentenalter jenem der Männer anzupassen. Auch das sehen in vertraulichen Gesprächen alle Beteiligten ein, und Alain Berset war nicht wagemutig, als er diese Anpassung als einen Grundpfeiler der Reform bereits skizzierte. (Die anderen sind die ebenfalls unumstrittene leichte Erhöhung der Mehrwertsteuer und eine Flexibilisierung.) Der Streit wird um die Details entbrennen: was den Frauen als Ausgleich angeboten wird, damit die Stimmbürgerinnen das Rentenalter 65 akzeptieren.
Im Moment wird diese – richtige und verständliche – Debatte dadurch verkompliziert, dass manche Linke die Frage nach dem Rentenalter mit der Frage der Lohngleichheit verknüpfen. Also damit, dass Frauen am Arbeitsmarkt weniger verdienen als Männer. Konkret schlagen manche Politikerinnen vor, die Angleichung des Rentenalters solle ausgeglichen werden mit von Bundesrätin Simonetta Sommaruga schon länger vorgeschlagenen Massnahmen zur Lohntransparenz und zum Abbau des Gender-Pay-Gap im Arbeitsmarkt. Doch das Thema der Lohngleichheit und Sommarugas Vorschläge sollten unbedingt ausserhalb der AHV-Debatte kritisch gewürdigt werden.
Erstens ist die Lohnungleichheit tatsächlich ein Problem – ein komplexeres, als es auf den ersten Blick den Anschein macht –, aber eben ausgerechnet nicht in der AHV. Wie oben ausführlich besprochen, ist sie genau darauf angelegt, Einkommensunterschiede blind (aus welchen Gründen auch immer sie zustande kommen) über Umverteilung auszugleichen. Entsprechend zahlen Frauen heute nur 33 Prozent aller AHV-Beiträge ein, beziehen aber 56 Prozent der Rentensumme. Der geforderte Ausgleich ist im Fall der AHV bereits ins System eingebaut.
Zweitens, und vielleicht noch wichtiger: Mit einem solchen Kuhhandel läuft man Gefahr, keinem der beiden Themen – Lohngleichheit und fairer Ausgleich für die Rentenaltererhöhung – wirklich gerecht zu werden. Löhne und Lohnungleichheit sind eine äusserst komplexe Angelegenheit, die mit anderen Massnahmen allenfalls effektiver angegangen werden könnten. Vor allem aber, und das müsste für Menschen mit angeblichem sozialem Gewissen und Gerechtigkeitsempfinden eigentlich besonders stossend sein: Es gibt Bevölkerungsgruppen – Alleinstehende und Niedrigverdienerinnen –, die eine Erhöhung des Frauenrentenalters deutlich mehr schmerzt als pauschal alle Frauen an sich. Sie verdienten es, nicht als Pfand für sachfremde Wünsche geopfert zu werden. Erst recht, weil die massiven Lohnunterschiede zwischen ganzen Branchen für Niedrigverdienerinnen das grössere Problem sind als individuelle Gender-Pay-Gaps.
Es ist realpolitisch klar, dass es einen Ausgleich für die Frauen geben muss. Schon, weil alles andere an der Urne scheitern würde. Wie es die GLP-Politikerin Kathrin Bertschy in einem Interview auf den Punkt bringt: «Die Frauen erwarten ein Entgegenkommen für die Erhöhung des Rentenalters. Man darf nicht vergessen, dass sie etwa fünfzig Prozent der Stimmbevölkerung stellen.»
Schön wäre, wenn dieses «Entgegenkommen» einerseits den Frauen (und Männern) zugutekäme, die kaum über die Runden kommen, und wenn gleichzeitig die Aufgabe der Existenzsicherung ganz nach dem Geist der AHV wieder stärker von den Ergänzungsleistungen weg und hin zur Bürgerinnenversicherung übertragen würde. Mit anderen Worten: über eine Erhöhung der Minimalrente für Alleinstehende. Das wäre ein Ausgleich, der einerseits der grossen AHV-Stärke der Gleichbehandlung Rechnung tragen und der andererseits tatsächlich jenen helfen würde, die der Anstieg des Frauenrentenalters potenziell am meisten schmerzt.
Doch hier hat die FDP eine rote Linie gezogen – vielleicht, weil sie dieses Pfand für die spätere Rentenaltererhöhung auf 67 Jahre aufsparen will. «Man kann das Rentensystem nicht ausbauen, wenn man es eigentlich sanieren müsste», heisst es in ihrem Plan B nicht zu Unrecht. Doch eine moderate Erhöhung wäre sicherlich liberaler und schlanker als die zunehmende Ergänzungsleistungsbürokratie für Kantone und Bürgerinnen. Und als eine alljährliche Lohnrechenschaftspflicht für Unternehmen sowieso.
Ständerätin Keller-Sutter hat schon davon gesprochen, sie wolle «die vorzeitige Pensionierung für Personen erleichtern, die wenig verdienen und früh mit Arbeiten begonnen haben». Das ist nach ihrer Aussage ein Angebot für die CVP und die «konstruktiven Kräfte» der Linken.
In diesem Minenfeld muss der Plan von Berset überleben. Es wird nicht ganz einfach werden.
10. Das Fazit
Es fällt ebenso kurz aus, wie dieser Text lang war: Die Schweiz wird einen Weg finden, mit dem ihr eigenen Gewurstel.
Denn dieses ist, so zäh und jämmerlich es sich im Moment jeweils auch anfühlen mag, ihr Erfolgsrezept.
Debatte: Wie soll die Reform der AHV aussehen?
Bundesrat Alain Berset stellt bald seine Pläne vor. Dass sie nötig ist, bezweifelt niemand, aber wie soll die Reform aussehen? Diskutieren Sie mit Autorin Olivia Kühni – hier gehts zur Debatte.