Paternalisti­sches Überbleibsel oder feministisches Pfand?

Sollen Frauen gleich lang arbeiten müssen wie Männer? Und falls ja, zu welchem Preis? Ein Streitgespräch über Gleichbehandlung und politischen Kampf.

Von Elia Blülle, Olivia Kühni (Text) und Nick Lobeck (Bilder), 24.07.2019

Auch über heiss umkämpfte Themen wie das Frauenrentenalter lässt sich sachlich, fair und zielorientiert diskutieren: Mascha Madörin (ganz links) und Monika Bütler (2. v. l.) im Gespräch mit der Republik (Elia Blülle, Olivia Kühni und – mit dem Rücken zur Kamera – Trainee Ronja Beck).

Seit Jahren wissen Politikerinnen wie Bürger: Die Altersvorsorge in der Schweiz muss reformiert werden. Wie, darüber streiten sich ebenso lange schon verschiedene Parteien und Interessengruppen mit viel Leidenschaft. Die Sozialversicherungen sind grosse Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, Renten betreffen alle, und in der Debatte treffen ganz unterschiedliche Werte und Vorstellungen einer guten Gesellschaft aufeinander.

Mittendrin und heiss umkämpft ist das Rentenalter der Frauen. Es ist heute ein Jahr tiefer als jenes der Männer (64 statt 65 Jahre). Aus Gründen der Gleichbehandlung und aus Spargründen soll sich das, so der aktuelle Vorschlag des Bundesrats, ändern.

Doch eines ist klar: Einfach nur um eine Zahl geht es hier nie. Dafür hat die AHV zu viel Geschichte – und die Wut und der Kampf der Frauen auch.

So wird etwa die feministische Ökonomin Mascha Madörin einer AHV-Vorlage nicht zustimmen, die eine Erhöhung des Frauen­rentenalters verlangt. Sie will mit allen Mitteln verhindern, dass es kampflos aufgegeben wird.

Ganz anders sieht das Monika Bütler, Volkswirtschafts­professorin an der Hochschule St. Gallen. Sie befürwortet eine Erhöhung des Frauen­rentenalters und sagt, es gäbe keinen Grund mehr, der eine frühere Pensionierung der Frauen rechtfertige.

Die Republik hat die beiden Grössen der Schweizer Wirtschafts­wissenschaften zum Streitgespräch getroffen.

Wann und wie lassen Sie sich pensionieren?
Monika Bütler:
Ich habe mir diese Frage kürzlich selber gestellt. Ich werde 58, und ich hätte dieses Jahr erstmals die Möglichkeit gehabt, mich – zwar mit grösseren finanziellen Einbussen – pensionieren zu lassen. Ich habe es kurz in Erwägung gezogen, um etwas ganz anderes zu machen, mich dann aber dagegen entschieden.
Mascha Madörin: Hören Sie noch nicht auf! Das wäre schade. Ich habe mir Ihre Forschung im Vorfeld zu diesem Gespräch noch einmal angeschaut, und das ist hochinteressant, was Sie tun.
Bütler: Danke. Ich habe Sie öfter zitiert in der Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen. Sie sagten, dass es eine Machtfrage bleibt, wer welche Arbeit machen wird, auch wenn es ein Grundeinkommen gäbe. Damit bin ich völlig einverstanden. Das löst Geld nicht.
Madörin: Vor allem im Haushalt.
Bütler: So ist es.

«Frauen verdienen insgesamt 100 Milliarden Franken weniger am Arbeitsmarkt als Männer. Der Hauptgrund dafür sind die Kinder»: Mascha Madörin.

Frau Madörin, wie ist es bei Ihnen mit der Pensionierung?
Madörin:
Ich bin 73 Jahre alt und habe mich vor zehn Jahren frühpensionieren lassen. Ich hatte das Glück, von einer privaten Sponsorin ein Forschungs­stipendium erhalten zu haben, und kann mich nun vertieft ökonomischen Fragen widmen, die mich interessieren: Das ist gegenwärtig die sogenannte bezahlte und unbezahlte care economy, also Bereiche wie Pflege, Kinderbetreuung oder Hausarbeit.

Damit sind wir schon mitten im Thema. Das Hauptargument gegen ein gleiches Rentenalter ist ja jenes, dass Frauen viel mehr unbezahlte Arbeit leisten als Männer und darum zu Recht ein Jahr früher pensioniert werden. Richtig?
Madörin:
Es gab vor der letzten Abstimmung zur AHV-Reform einen Moment, da bin ich wirklich sauwütend geworden. Der Bundesrat hat damals in einem Bericht die Argumente für eine Reform gut ausgeführt, unter anderem ein ganzes Kapitel zur vorgeschlagenen Erhöhung der Mehrwertsteuer. Aber zur Situation der Frauen und zu den möglichen Auswirkungen eines höheren Rentenalters: nichts. Kein Pro und Contra, keine Abwägung, einfach ein stillschweigender Vorschlag. Das ist doch ein Skandal! Das ist eine solche Geringschätzung von immerhin der Hälfte der Bevölkerung.

Es sollte eigentlich keine grossen Worte brauchen, um eine Gleichbehandlung von Frau und Mann zu rechtfertigen.
Madörin: Frauen verdienen insgesamt 100 Milliarden Franken weniger am Arbeitsmarkt als Männer. Der Hauptgrund dafür, und das zeigen Daten immer deutlicher, sind die Kinder. Der monetäre Wert unbezahlter Arbeit für die Kinderbetreuung beträgt geschätzt 105 Milliarden Franken pro Jahr; Frauen tragen etwa 70 Milliarden davon. Das muss man doch diskutieren!

Wie sehen Sie das, Frau Bütler?
Bütler:
Ich bin absolut einverstanden damit, dass wir das diskutieren müssen. Auch damit, dass wir hier viele ungelöste Fragen und Probleme haben. Ich bin aber dagegen, dass wir das über die AHV aushandeln. Die grosse Stärke der AHV ist ja gerade, dass alle fast gleich viel bekommen, unabhängig davon, wer sie sind, was sie arbeiten und wie viel sie einbezahlt haben. Das ist ein grossartiges, schlankes System, um das uns übrigens viele Länder beneiden.
Madörin: Das stimmt.
Bütler: Wir sollten das also verteidigen, statt mit der AHV Probleme lösen zu wollen, die woanders entstehen. Sonst muss man plötzlich allerlei Dinge berücksichtigen: etwa die Tatsache, dass junge Männer heute wesentlich mehr Mühe in der Ausbildung und beim Berufseinstieg haben als junge Frauen. Das grösste Armutsrisiko haben auch nicht pauschal Frauen, sondern beispielsweise Familien mit vielen Kindern. Wissen Sie übrigens, woher das unterschiedliche Rentenalter kommt?

Weil typischerweise Ehefrauen jünger sind als ihre Ehemänner?
Bütler:
Genau. Mit Wertschätzung für die unbezahlte Arbeit der Frauen hatte das wenig zu tun. Bis 1956 war das Rentenalter für alle 65 Jahre. Dann hat man das für Frauen erst auf 63, dann auf 62 gesenkt. Bei der Begründung stehen mir heute noch die Haare zu Berge: Die männlichen Parlamentarier wollten, dass ihre im Schnitt drei Jahre jüngeren Frauen gleichzeitig mit ihnen in Pension gehen. Das ist doch unfassbar paternalistisch!

Zum «unfassbaren Paternalismus»

Über das Rentenalter der Frauen wird gestritten, seit es die AHV gibt. Von Anfang an wollten die männlichen Parlamentarier – es dauerte noch über ein Jahrzehnt, bis Frauen das Stimmrecht und damit die Möglichkeit eines politischen Amtes erhielten – es eigentlich tiefer halten als das der Männer, sahen aber aus finanziellen Gründen davon ab. In der Hochkonjunktur ab 1956 setzten sie erst Rentenalter 63, dann 62 für Frauen durch. Das Hauptargument, tatsächlich: Männer heiraten jüngere Frauen, und die sollen mit ihnen in Rente gehen können. Denn die Ehepaarrente, die erhielt der männliche Familienvorstand.

«Ich habe gesagt, man sollte die Ehepaarrenten bezahlen, wenn die Frau 55-jährig ist, denn die Männer, das wissen Sie alle – die meisten von Ihnen haben das auch getan –, heiraten jüngere Frauen, und zwar manchmal nicht nur solche, die nur 10 Jahre jünger sind, sondern solche, die 15 und 20 Jahre jünger sind; und je älter die Männer werden, desto lieber heiraten sie noch jüngere Frauen.»

So argumentierte gemäss Ratsprotokoll vom September 1956 Nationalrat Philipp Schmid. Das Votum des Demokraten ist durchaus als Spitze zu verstehen – Schmid war einer der engagiertesten Vorkämpfer für AHV, Arbeitslosenkasse und allgemein eine bessere Absicherung von Arbeiterinnen. Gemeinsam mit anderen Räten erreichte er denn auch, was damals als Coup galt: dass eben nicht nur verheiratete Frauen, sondern auch alleinstehende erwerbstätige Frauen früher als Männer in Rente gehen konnten. Noch später gelang der Schritt zum heutigen System: Frauen wie Männer haben je einen individuellen Rentenanspruch.

Stört Sie diese paternalistische Vergangenheit, Frau Madörin?
Madörin:
Ich sehe das nicht als paternalistisch, weil sich das System der AHV inzwischen geändert hat. Früher war die Frauenrente vom Zivilstand abhängig – heute ist sie es von den Leistungen der Frauen. Es war mit der letzten Reform 1997 ein international herausragender feministischer Entscheid, dass man das alte System aufgehoben hat und wir stattdessen individuelle Renten und Gutschriften für die Kinderbetreuung eingeführt haben. Die riesige Asymmetrie bleibt aber trotzdem: Frauen verdienen insgesamt 100 Milliarden weniger, und das wirkt sich auf die Renten aus.
Bütler: Es wirkt sich in der AHV eben gerade nicht auf die Renten aus, das ist ja der Punkt. Alle bekommen gleich viel.
Madörin: Es wirkt sich aber massiv in der Pensionskasse aus. Das lässt sich doch nicht einfach so trennen.

Zu AHV und BVG: Was ist der Unterschied – und werden die Frauen benachteiligt?

Die Schweizer Altersvorsorge basiert auf drei Säulen: Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die berufliche Vorsorge (BVG) und die private Vorsorge. Die AHV und die Pensionskasse funktionieren sehr unterschiedlich. Aus der AHV erhält im Alter jede und jeder fast die gleiche Rente, nämlich zwischen 1185 und 2370 Franken. Dies unabhängig davon, wie viel insgesamt im Laufe des Lebens vom Lohn abgezogen wurde. Weil Männer insgesamt mehr verdienen als Frauen, gibt es darum hier eine Umverteilung von Männern zu Frauen: Männer zahlen 66 Prozent der AHV-Einnahmen ein, beziehen aber nur 45 Prozent der Renten. In der beruflichen Vorsorge hingegen zählt, wie viel Geld jemand individuell einbezahlt hat; ein Pensionskassenkonto hat ausserdem sowieso nur, wer mindestens 21’330 Franken im Jahr verdient. Da viele Frauen Teilzeit arbeiten, sich um die Kinderbetreuung kümmern und weniger verdienen, fällt es ihnen schwer, hohe Kapitalsummen in der zweiten Säule anzusparen. So erhielten im Jahr 2017 neu pensionierte Männer im Schnitt 2301 Franken aus der zweiten Säule, Frauen 1221 Franken.

Es wirkt sich in der Pensionskasse aus, das stimmt. Wobei dort wiederum einiger Ausgleich innerhalb der Ehe passiert. Da gibt es ebenfalls eine Menge zu diskutieren – bleiben wir für heute aber bitte bei der AHV.
Bütler:
Wieso erhöhen wir in der AHV nicht die Gutschrift für Frauen, die Kinder grossziehen oder Angehörige pflegen? Das wäre ein fairer Ausgleich. Es gibt aber einfach keine Rechtfertigung, dass sich alle Frauen früher pensionieren lassen können. Es ist schlicht nicht wahr, dass alle Frauen an sich benachteiligt und alle Männer bevorzugt sind. Junge Männer haben beispielsweise grössere Probleme in der Ausbildung und beim Berufseinstieg als junge Frauen. Und das grösste Armutsrisiko im Alter haben heute nicht Frauen, sondern alleinstehende alte Männer. Das frühere Rentenalter bevorzugt viele privilegierte Frauen und benachteiligt viele schlechter gestellte Männer.
Madörin: Da bin ich sofort dafür, dass man über eine Erhöhung des Kinderbonus spricht, das wäre ein guter Schritt. Familien sind heute sehr belastet. Und wo Sie recht haben: Die Minimalrente ist zu tief, völlig unabhängig vom Geschlechter­thema. Darauf weisen die Gewerkschaften ja seit Jahren hin. Eine Rente ist heute nicht mehr existenzsichernd.

Sie sind eigentlich gar nicht so weit voneinander entfernt.
Bütler:
Wir können von mir aus auch gerne darüber reden, die Minimalrente zu erhöhen. Das ist nicht sehr teuer, für die Betroffenen aber macht es einen existenziellen Unterschied. Das sind alles sinnvolle Diskussionen. Das unterschiedliche Rentenalter aber ist für mich nicht mehr haltbar. Da geht es um das fundamentale Prinzip der Gleichbehandlung der Geschlechter.
Madörin: Das stimmt, dass es um Gleichbehandlung geht.

Aber?
Madörin:
Nehmen wir an, das Rentenalter wird angehoben: Wie setzen Sie nachher durch, dass die Einkommenslücke tatsächlich angegangen wird? Dass wir die Realität der Frauen im Arbeitsmarkt, vor allem die Benachteiligung älterer Frauen, ernst nehmen? Ich will, dass wir endlich darüber reden, wie wir in Zukunft jene Arbeit finanzieren wollen, die nie effizient sein wird, etwa Kinder­betreuung oder Pflege. Wir haben darauf keine Antwort.

Das sehen sehr viele Menschen ähnlich wie Sie. Wir müssen diese Fragen diskutieren – und in der Schweiz gibt es ein unglaubliches feministisches Momentum, das hat auch der Frauenstreik gezeigt. Aber dazu muss man doch nicht am tieferen Rentenalter festhalten.
Madörin:
Doch! Ich habe lange genug politisches Campaigning gemacht, um zu wissen, dass sonst gar nichts mehr geht.

Das Rentenalter ist Ihr Pfand?
Madörin:
Ja, auch. Wenn Sie so wollen. Geben wir es her, verlieren wir eine wichtige politische Karte.

Gut, dann reden wir doch über den Preis: Was müsste man Ihnen bieten, damit Sie zur Erhöhung des Rentenalters Ja sagen?
Madörin:
Nichts. Wir sparen damit in der AHV vergleichsweise wenig Geld. Dafür verlieren wir auf der anderen Seite die Chance auf eine extrem wichtige Debatte. Das steht in keinem Verhältnis. Das ist ganz einfach ein schlechter Deal.

«Wieso erhöhen wir in der AHV nicht die Gutschrift für Frauen, die Kinder grossziehen oder Angehörige pflegen? Das wäre ein fairer Ausgleich»: Monika Bütler.

Frau Bütler, Sie haben doch eigentlich auch Sympathien für den feministischen Kampf. Verstehen Sie diese Haltung?
Bütler:
Ich würde die Energie lieber brauchen, um dort zu kämpfen, wo wir wirklich Probleme haben. Zum Beispiel dafür, dass in der Pensionskasse endlich auch niedrige Einkommen versichert werden. Ich finde auch, dass wir die Einkommens­unterschiede zwischen Mann und Frau diskutieren müssen. Da lohnt es sich zu kämpfen. Aber doch nicht für etwas, das so künstlich und paternalistisch über die Hintertür reingekommen ist! Das lässt sich nicht mehr rechtfertigen.
Madörin: Als Frau muss man unglaublich hart sein in Verhandlungen. Vor der letzten Abstimmung gab es sehr viel Widerstand gegen die Erhöhung; es gab sogar eine grosse Demo auf dem Bundesplatz. Und was geschieht dann? Das Parlament stimmt über eine Erhöhung ab, und die SP-Frauen kippen einfach um und akzeptieren das. Statt dass man nochmals richtig Rabatz gemacht und eine breite Diskussion begonnen hätte. So vertritt man doch keine Interessen!
Bütler: Frauen sind sehr unterschiedlich. Es gibt viele unterschiedliche Gruppen in der Bevölkerung und viele, die mit dieser Sichtweise nichts anfangen können. Darum wehre ich mich auch immer dagegen, von Frauen als einer Gruppe und Männern als einer Gruppe zu sprechen. Wie gesagt: Ja, beim Kinderhaben gibt es einen klaren Zusammenhang mit dem Geschlecht, da sind es nachweislich vor allem die Frauen, die Einkommens­einbussen hinnehmen müssen. Das sollten wir berücksichtigen. Bei vielen anderen Themen aber ist die Lage weniger klar.
Madörin: Die Lage ist sehr klar. Wir reden von 100 Milliarden Franken!

Die Diskussion zur nächsten AHV-Reform läuft gerade jetzt. Wie soll es weitergehen?
Madörin:
Mich stört diese Alternativ­losigkeit in der Debatte. Es wird behauptet, so und nicht anders müsse es sein. Und wenn sich die Frauen gegen das höhere Rentenalter sperren, heisst es, nur deswegen werde nun die AHV gegen die Wand gefahren. Das ist unter jeder Kanone.
Bütler: Das alleine reicht nicht. Das stimmt.
Madörin: Ich will, dass es mindestens noch einmal eine Abstimmung gibt, damit diese Themen um die care economy und die unterschiedlichen Einkommen breit diskutiert werden. Die Erhöhung des Rentenalters darf nicht einfach so durchrutschen. Wenn dann die Mehrheit der Frauen dafür ist, kann ich damit leben. Aber ich will, dass wir kämpfen.
Bütler: Ich bin immer dafür, dass man abstimmen lässt – und ich bin ziemlich überzeugt, dass eine Erhöhung des Rentenalters durchkommt. Weil die AHV eben schlank gebaut ist, alle gleich behandelt, keine Unterschiede macht. Es ist für mich klar, dass das auch für die Geschlechter gelten muss.

Ehe wir zum Schluss kommen, noch eine grundsätzliche Frage. Sie sind beide Ökonominnen. Hört man Ihnen in der öffentlichen Debatte eigentlich zu?
Bütler:
In der Schweiz hört man sich ökonomische Argumente durchaus an, ja. Aber natürlich: Je näher es an den Abstimmungstag geht, desto politischer wird es. Da kommt dann zu jeder Aussage der Hinweis, dieses oder jenes sei «halt politisch nicht machbar». So war das beispielsweise bei der letzten AHV-Revision mit den 70 Franken, die man den Übergangsjahrgängen schenken wollte. Ich habe davor gewarnt, genau wegen des Prinzips der Gleichbehandlung. Da hiess es sofort, sonst sei es halt politisch nicht machbar – letztlich waren wohl diese 70 Franken gerade das Killerargument. Dennoch: Ich bin klar der Meinung, dass wir die Verantwortung haben, uns einzubringen. Mit Zahlen, mit Studien, letztlich auch mit eigenen Standpunkten – eine wertefreie Diskussion gibt es nicht.
Madörin: Das sehe ich sehr ähnlich. Ich bin in einer Arbeitsgruppe zu feministischer Makroökonomie mit Kolleginnen aus Deutschland und Österreich. Da haben wir einmal über das Grundeinkommen gestritten. Ich wies darauf hin, dass das überhaupt nicht die Frage löst, wie wir die Care-Arbeit finanzieren und wer sie übernimmt. Eine österreichische Kollegin sagte: «Weisst du, aus gesamtökonomischer Sicht hast du schon recht. Aber wir können doch jetzt nicht raus zu den Leuten und sie darauf hinweisen, wenn sie grad so grundlegende Diskussionen führen.» Ich war empört: Wie kann man mit einer solchen Haltung die Demokratie verteidigen? Die Leute müssen doch Bescheid wissen, um sich eine Meinung bilden zu können. Man muss immer Einwände einbringen dürfen, selbst wenn grad die schönsten Visionen diskutiert werden.