Die Steuervorlage, die Schattenregierung und Frau Martullo-Blocher
Wie ein Kommissionsentscheid die EMS-Chemie-Chefin zur Steuersparerin machte: Ein Rechenbeispiel zur Steuervorlage 17 anhand einer prominenten Unternehmerin und Politikerin.
Von Simon Schmid, 01.06.2018
Steuergesetze sind wie Zwieback: Man befasst sich damit nur, wenn es nicht anders geht – etwa während einer Durchfallerkrankung oder wenn das Parlament gerade die Steuervorlage 17 berät. Was aktuell der Fall ist.
Wie wirkt sich die Steuerreform auf die Firmen aus? Was bedeutet die Sache für Unternehmer und für Gemeinden? Um der Materie etwas die Trockenheit zu nehmen, erklären wir einige Aspekte der Steuervorlage 17 anhand einer bekannten Person: der Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher.
1. Die EMS-Chemie
Martullo-Blocher ist 48 Jahre alt, Sternzeichen Löwe und hat die letzten vierzehn Jahre erfolgreich die EMS-Gruppe geführt: einen Chemie- und Technologiekonzern mit Sitz in Domat/Ems, der 2016 einen Umsatz von knapp 2 Milliarden und einen Gewinn von 456 Millionen Franken erwirtschaftete. Martullo-Blocher leitet die EMS-Chemie nicht nur, sondern besitzt sie mit: 30,5 Prozent der Aktien gehören der SVP-Nationalrätin.
Die Steuervorlage 17 hiess früher einmal Unternehmenssteuerreform III. Aus gutem Grund: Die Gesetzesmodifikation nimmt Anpassungen bei der Besteuerung von Unternehmen vor.
Wir haben die grundsätzliche Mechanik im Ansatz bereits einmal vorgestellt:
Internationale Firmen (sogenannte Statusgesellschaften), die bisher in den Vorzug niedriger Gewinnsteuern kamen, werden auf Druck der OECD den lokalen Firmen gleichgestellt – ihre Steuerprivilegien entfallen.
Im Gegenzug (um die internationalen Firmen nicht zu verscheuchen) werden neue Steuersparinstrumente eingeführt (zum Beispiel die sogenannte Patentbox), von denen alle Firmen prinzipiell profitieren können, egal welchen Status sie zuletzt hatten.
Und es werden, je nach kantonaler Umsetzung, in den meisten Kantonen die Gewinnsteuersätze gesenkt (dieser Schritt gehört technisch gesehen nicht zur Reform, ist aber eine Konsequenz davon).
Die EMS-Chemie ist ein multinationales Unternehmen mit 26 Standorten in 16 Ländern. Die Steuervorlage 17 beeinflusst die Firma in mehrer Hinsicht:
Einerseits negativ. Denn die EMS-Chemie ist als Holding organisiert und profitierte bisher von bestimmten Steuerprivilegien. Diese entfallen nun, wie Generalsekretär Peter Dietrich sagt: «Die Holding bezahlt neu bedeutend mehr Steuern, weil das bisherige Holdingprivileg abgeschafft werden soll.»
Andererseits positiv. Denn Unternehmensgewinne werden im Kanton Graubünden, so sehen es die Pläne des Kantons vor, künftig weniger hoch besteuert: nämlich zu 14,02 statt zu 16,12 Prozent. Das dürfte der EMS-Chemie, die dort ihren Sitz hat, eine gewisse Entlastung bringen.
Unter dem Strich werde die EMS-Chemie nach heutiger Schätzung mit der Reform «wohl gleich viel oder mehr Steuern bezahlen», sagt Dietrich. Es ist eine gute Nachricht für den Fiskus. Für die Ortschaft, wo das Unternehmen zu Hause ist, bringt die Steuervorlage 17 allerdings nicht nur Sonnenschein.
2. Domat/Ems
8043 Einwohner, 586 Meter über Meer, sieben Kirchen. Das ist Domat/Ems, Hauptstandort der EMS-Chemie. Für die Gemeinde ist der Konzern von grosser Bedeutung: als Aushängeschild, als Arbeitgeber und auch als Steuerzahler. 9,3 Millionen Franken nahm Domat/Ems letztes Jahr von juristischen Personen ein – ein Teil davon von der EMS-Chemie, ein weiterer Teil von anderen Unternehmen, die im Rheintal nahe Chur heimisch sind.
Wahrscheinlich ist: Domat/Ems wird als Folge der Steuervorlage 17 und ihrer kantonalen Umsetzung weniger Steuern von juristischen Personen einnehmen. Die exakte Höhe der Einbussen kann Gemeindepräsident Erich Kohler nicht beziffern. Er hofft aber, dass sich die Verluste auffangen lassen. Und zwar über Wirtschaftswachstum und finanztechnische Massnahmen, die bereits beschlossen wurden und die die künftige Rechnung entlasten (es handelt sich um Einlagen in Vorfinanzierungen und zusätzliche Abschreibungen im Umfang von 4 Millionen Franken).
Ausserdem zählt er darauf, dass sich auf einem grossen Industrieareal am Ortsrand zusätzliche Firmen ansiedeln werden – dort, wo etwa die Medizintechnik-Firma Hamilton bereits jetzt neue Gebäude hochzieht.
Unternehmenssteuern kommen nicht nur Gemeinden, sondern auch Bund und Kantonen (und sogar Kirchen) zugute. In Graubünden gibt es zu den Folgen der Steuervorlage 17 eine Schätzung: Angenommen, die Bündner stimmen der vorgesehenen kantonalen Umsetzung zu, sei mit einem Minus von 14 Millionen Franken bei den Gewinnsteuern zu rechnen, sagt Toni Hess, Leiter des Rechtsdiensts bei der Steuerverwaltung in Chur. Letztes Jahr betrugen die Gewinnsteuereinnahmen knapp 60 Millionen Franken. Der Verlust entspräche damit rund 23 Prozent der Gewinnsteuereinnahmen. Gemessen an den gesamten Fiskaleinnahmen des Kantons Graubünden beliefe sich der Verlust durch die Steuervorlage 17 auf knapp 2 Prozent.
Ein kleiner Teil davon würde kompensiert durch höhere Dividendensteuern, die gemäss dem aktuellen Stand der Diskussionen in Graubünden vorgesehen sind: Aktionäre, die einen bedeutenden Anteil an einem Unternehmen besitzen und daraus Dividenden beziehen, sollen diese Einkünfte nicht mehr zu 50 Prozent (Geschäftsvermögen) beziehungsweise 60 Prozent (Privatvermögen), sondern neu zu 70 Prozent versteuern.
Ob die Massnahme so umgesetzt wird, ist allerdings offen – sie hängt unter anderem von einem Paket ab, das in Bundesbern gerade geschnürt wird.
3. Der Ständerat
Dieses Paket trägt den Namen «Steuerreform und AHV-Finanzierung» und wurde in der beratenden Kommission vor einer Woche mit 11 zu 1 Stimme angenommen, ohne Enthaltung. Einflussreiche Ständeräte aus diversen Parteien – von der «NZZ am Sonntag» als «Schattenregierung» bezeichnet – haben daran mitgewirkt: Sie wollen die Steuervorlage 17 durchs Parlament bringen, indem sie zusätzliche Gelder aus der Bundeskasse und aus der Wirtschaft in die Altersvorsorge schleusen: Die AHV soll von zusätzlichen 0,3 Lohnprozenten profitieren, die Arbeitnehmer und Arbeitgeber einzahlen.
Die EMS-Chemie hat insgesamt einen Personalaufwand von 227 Millionen Franken. Sie beschäftigt 2897 Mitarbeiter, davon 1101, also gut einen Drittel, in der Schweiz. Rechnet man grob mit 100 Millionen Franken an Löhnen, so ergibt sich eine Summe von 300’000 Franken. So viele Abzüge flössen von der EMS-Chemie und ihren Angestellten zusätzlich in die AHV. Unter anderem erhielte das Vorsorgewerk auch von Magdalena Martullo-Blocher mehr Geld: und zwar knapp 3600 Franken auf ihren Lohn von 1,2 Millionen Franken.
Entscheidender für die persönlichen Finanzen der EMS-Chefin ist aber ein anderer Teil der Steuerreform: der bereits weiter oben erwähnte Satz, mit dem Dividendenerträge aus qualifizierten Firmenbeteiligungen künftig besteuert werden. Martullo-Blocher ist Mitbesitzerin der EMS-Chemie – sie besitzt einen grossen Anteil am Unternehmen und erhielt letztes Jahr eine Dividendenausschüttung über 121 Millionen Franken. Welcher Anteil davon an den Fiskus gehen soll, dies wird in der Steuervorlage 17 neu verhandelt.
Der Kanton Zürich, in dem Martullo-Blocher ihren Wohn- und Steuersitz hat, besteuerte Dividendenerträge bislang nur zu 50 Prozent des regulären Steuersatzes. Nach Ansicht des Bundesrates soll sich das ändern. Die Botschaft, die er Ende März verabschiedete, sah eine Erhöhung der Dividendenbesteuerung auf mindestens 70 Prozent des Satzes vor: So sollten die Kantone dazu verpflichtet werden, einen Teil der sich abzeichnenden Einnahmeausfälle aus der Unternehmensgewinnsteuer zu kompensieren.
Vor zwei Wochen entwarf die «Schattenregierung» im Ständerat aber eine eigene Lösung. Statt 70 Prozent sollten es bei der Dividendensteuer kantonal nur noch mindestens 50 Prozent sein – also gleich viel, wie in Zürich bereits heute eingezogen wird. Ob sich der Ständerat durchsetzen wird, spielt aus Sicht von Martullo-Blocher also eine grosse Rolle. Es beeinflusst, wie viel Geld sie an ihrem Wohnort dem Fiskus künftig abliefern muss.
4. Meilen
Dieser Wohnort liegt an der Goldküste und gerät immer wieder einmal in die Schlagzeilen. Dies wegen seiner Finanzen: Die Gemeinde ist eigentlich knapp bei Kasse, das Vermögen schmilzt, es gibt ein strukturelles Defizit. Doch als die Einwohner letztmals eine Steuererhöhung beschliessen wollten, wehrte sich einer entschlossen dagegen: Roberto Martullo, Ehemann der EMS-Chefin Martullo-Blocher. Er wedelte an der Gemeindeversammlung drohend mit dem Portemonnaie und brachte die Bürger dazu, von ihren Plänen abzusehen. Die Rede ist von Meilen, einem Dorf am Fusse des Pfannenstiels.
Wie die Gemeinde ihre Einwohner besteuert, darüber gibt der Steuerrechner des Kantons Zürich Auskunft. Gibt man dort die Daten von Martullo-Blocher ein, mit ihrem Einkommen von 121 Millionen Franken aus qualifizierter Beteiligung, spuckt der Rechner die Summe von 14,1 Millionen Franken aus. So viel muss die EMS-Chefin für ihre Dividendeneinkünfte abliefern. Die Summe teilt sich auf in 6,2 Millionen für die Gemeinde und 7,9 Millionen für den Kanton (daneben muss Martullo-Blocher natürlich auch ihren Lohn und ihr geschätztes Vermögen von 4 Milliarden Franken versteuern sowie die Steuern an den Bund zahlen, insgesamt in wohl zweistelliger Millionenhöhe).
Mit dem Vorschlag des Bundesrates, Dividenden künftig zu 70 Prozent statt zu 50 Prozent zu besteuern, hätten sich diese Zahlungen erhöht. Der Steuersatz auf Dividendeneinkünfte wäre gestiegen. Martullo-Blocher hätte mehr Geld an den Fiskus zahlen müssen: 8,7 Millionen an die Gemeinde Meilen und 11,0 Millionen an den Kanton. Das wären total 19,7 Millionen Franken gewesen – also 5,6 Millionen Franken mehr als bisher.
Kein Wunder, hat sich die SVP-Nationalrätin im Verbund mit der Vereinigung Swiss Family Business gegen die Pläne des Bundesrats gewehrt, als diese im März bekannt gegeben wurden. Ihre private Steuerrechnung hätte sich mit der ursprünglichen Vorlage wohl erhöht: Dies bestätigt Peter Dietrich, Generalsekretär der EMS-Chemie. Die neue Lösung der Ständeratskommission kommt ihr im Vergleich dazu finanziell entgegen.
Für die Gemeinde Meilen spielt die Auseinandersetzung um die Besteuerung der Dividenden ironischerweise gar keine so grosse Rolle. Meilen ist Nettozahler im kantonalen Finanzausgleich: die Gemeinde weist im Vergleich zu anderen Gemeinden ein hohes Ressourcenpotenzial auf. Das heisst, dass der grösste Anteil allfälliger Mehreinnahmen im Zuge der Steuerreform sowieso wieder abfliessen würde. Meilen könnte von jeder zusätzlichen Steuermillion nur etwas über 100’000 Franken behalten, sagt Finanzvorsteherin Beatrix Frey-Eigenmann. Der Rest würde im Kanton verteilt.
Fazit
Ein globales Unternehmen, dessen Steuerrechnung durcheinandergewirbelt wird. Eine Gemeinde in einer strukturschwachen Region, die auf Ansiedlungen hofft. Eine Millionärsgemeinde, die Millionen abgeben muss. Und eine Unternehmerin, die als Privatperson gegen höhere Steuern kämpft: Die Steuervorlage 17 ist eine Reform mit vielen Facetten. Sie betrifft fast jeden Akteur und jede Gemeinde in der Schweiz irgendwie – direkt oder indirekt.
Das ist eine wichtige Erkenntnis, die aus der Steuerexploration rund um die Politikerin und Unternehmerin Magdalena Martullo-Blocher hervorgeht. Eine weitere Erkenntnis ist: Die Steuervorlage 17 ist eine Reform, die aus internationaler Sicht ein Stück Gerechtigkeit schafft, doch in der Schweiz unter dem Strich zwangsläufig mehr Verlierer als Gewinner produzieren wird.
Die Schweiz steckt in einem Dilemma. Sie muss gewissen internationalen Firmen ihre Steuerprivilegien streichen und im Gegenzug dazu die Steuern für alle Firmen senken. Senken die Kantone die Steuern zu wenig aggressiv, wandern die internationalen Firmen ab – was ein Problem für das Land ist. Senken die Kantone die Steuern andererseits zu aggressiv, fehlen ihnen und den Gemeinden wichtige Einnahmen. Ein für alle befriedigendes Optimum ist in diesem Spannungsfeld schwierig, wenn nicht unmöglich zu erreichen.
Rechnungen des Bundes besagen, dass die Steuerreform den Staat in ihren unmittelbaren Auswirkungen insgesamt rund zwei Milliarden Franken kostet. Es gibt nicht allzu viele Möglichkeiten, die Ausfälle auszugleichen.
Der Bundesrat sah ursprünglich vor, einen Teil davon bei denjenigen Aktionären zu kompensieren, die ein grösseres Paket an einer Firma halten. Sie wären dann stärker als bisher zur Kasse gebeten worden, wenn sie sich Dividenden aus dem Gewinn dieser Firma hätten auszahlen lassen. Diese Lösung wiese aus volkswirtschaftlicher Sicht eine gewisse Logik auf. Aber auch sie wäre nicht konfliktfrei: KMU-Eigentümer würden damit etwa im Aargau stärker als bisher belastet – während sie in Solothurn steuerlich entlastet würden, wie Berechnungen eines NZZ-Journalisten besagen.
Die jetzige Vorlage des Ständerats will die Steuerausfälle auf andere Weise kompensieren, nämlich mit höheren Bundesbeiträgen und Lohnabzügen zugunsten der AHV. Man muss sich allerdings bewusst sein, dass die beiden Sachen nicht viel miteinander zu tun haben: Die Zahlungen zugunsten der AHV sind nicht wirklich eine «Kompensation» für entgangene Steuern, sondern eher ein Transfer von der einen Tasche (dem Haushalt von Bund, Kantonen und Gemeinden) in die andere (die AHV). Es ist die arbeitende und steuerzahlende Bevölkerung, die im Ständeratspaket letztlich für die Ausfälle bei den Unternehmenssteuern aufkommt.
So bleibt am Schluss ein säuerliches Gefühl – in Domat/Ems, das schauen muss, wie es zu seinen Steuereinnahmen kommt; bei Magdalena Martullo-Blocher, die womöglich in Zürich und ziemlich sicher auf Bundesebene ihre Dividenden höher versteuern muss; und selbst in Meilen, einer Gemeinde, in der Millionäre wohnen, die aber trotzdem Probleme mit ihrem Budget hat.
Die föderalistischen Strukturen der Schweiz werden dazu führen, dass die Lasten einigermassen auf die verschiedenen Landesteile und Staatsebenen verteilt werden. Aber ganz aus der Welt schaffen lassen sie sich nicht. Egal wie die Steuervorlage 17 am Ende der Beratungen aussehen wird.
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