Frauen in der Politik: Einsam an der Spitze
Frauen schaffen es heute bis ganz nach oben, in den Bundesrat. Im Parlament und in den Kantonsregierungen sind sie dagegen krass untervertreten. Warum? Und: Bessert das bald?
Von Andrea Arezina (Text) und Cachetejack (Illustration), 14.12.2018
Die Geschlechterfrage ist eine nebensächliche Frage.
«Frau, Frau, Frau, Frau, Frau», stöhnte der SVP-Nationalrat Toni Brunner letzte Woche, am Abend vor den Bundesratswahlen, in der Fernsehtalkshow «Club». Die Frage des Geschlechts sei doch nebensächlich. Am Tag darauf wurden dann zwei Frauen in den Bundesrat gewählt.
Den Boden dafür hatten viele Frauen früh gelegt. Etwa, indem sie in ihren Parteien reine Frauentickets gefordert hatten. Mit Erfolg: Kompetente Männer traten sowohl in der CVP wie in der FDP gar nicht erst an. Keiner wollte der Ladykiller sein.
Dass CVP-Ständerat Pirmin Bischof sagte, er stelle sich nicht zur Wahl, weil er kleine Kinder habe, freut Nationalrätin Doris Fiala besonders: «Das zeugt von einer fortschrittlichen Gesellschaft, wie sie noch vor zwanzig Jahren sicher nicht Realität war in der Schweiz», sagt die Präsidentin der FDP-Frauen.
Nur im Zentrum der Macht angekommen
Männer stehen heute aus Gründen zurück, die früher nur Frauen nannten. Und Frauen erobern ihre Plätze in der Regierung so selbstverständlich, dass man vermuten darf: Sie sind ganz oben angekommen und haben auch vor, dort zu bleiben.
Nur: Zeugt das allein schon von einer fortschrittlichen Gesellschaft?
Lässt man den Blick vom Bundesrat hinunter ins Parlament und ins Feld der Kantone schweifen, zeigt sich ein anderes Bild: Im Nationalrat besetzen die Frauen ein Drittel, im Ständerat nicht einmal ein Sechstel der Sitze. Die Kantone Luzern, Tessin und Appenzell Ausserrhoden werden derzeit allein von Männern regiert – und nächstes Jahr wird auch die Regierung Graubündens frauenfrei sein.
Die Frauen sind zwar im Machtzentrum der Schweiz angekommen, im Bundesrat. Aber nur dort. In den vielen Aussenstationen und auf den Unterebenen der politischen Macht sind sie nach wie vor untervertreten. Warum ist das so? Warum ist der Anspruch der Frauen auf eine Vertretung um die 50 Prozent in der Regierung inzwischen selbstverständlich – aber sonst nirgends?
Eine Erklärung: Bundesratswahlen werden von der Öffentlichkeit genau verfolgt. Eine Partei, die den weit verbreiteten Wunsch nach Frauen ignoriert, riskiert einen Reputationsschaden, den man besonders ein Jahr vor den Wahlen vermeiden will.
Zugleich verlangt aber die Bevölkerung auch von ihren Vertretern in Bern eine Vorbildlichkeit, die sie selber in Parlamentswahlen nicht erfüllt. Sind die Wählerinnen und Wähler also weniger frauenfreundlich als die National- und die Ständeräte?
Forschungsergebnisse bestätigen diese These nicht. Im Rahmen einer Studie von Tariq Rizvi am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich wurden Männer und Frauen gefragt, ob sie bei gleicher Qualifikation eher eine Frau oder einen Mann wählen. Die Männer hatten eine leichte Neigung für den Kandidaten. Drei Viertel der Frauen sagten, sie würden die Frau wählen. Theoretisch wären Frauen demnach sogar im Vorteil.
Das Problem ist das Angebot, nicht die Nachfrage
Die Praxis sieht aber leider anders aus. Bei den letzten Nationalratswahlen betrug der Frauenanteil bei den Kandidierenden 34,5 Prozent. Gewählt wurden aber nur 32 Prozent Frauen. Das heisst: Entweder wurden die kandidierenden Frauen für weniger qualifiziert gehalten. Oder der Wille der Wählenden, Frauen ihre Stimme zu geben, ist nach wie vor geringer, als sie in Umfragen behaupten.
Diese Zahlen zeigen aber noch etwas anderes: Die Einstellung der Wählerschaft gegenüber Kandidatinnen mag ein Problem sein. Das grössere Problem liegt aber nicht bei der Wählerschaft, sondern beim Angebot: Es kandidieren nach wie vor zu wenige Frauen. Und in dieser Hinsicht zeigt sich ein grosser Unterschied zwischen den Parteien: Je weiter rechts man schaut, desto kleiner ist der Anteil der Frauen auf den Wahllisten.
Das mag daran liegen, dass rechte Parteien sich noch nicht so lange um Frauen auf ihren Wahllisten bemühen. Aber auch daran, dass Frauen sich stärker zu linken Parteien hingezogen fühlen.
Die Luzerner CVP-Nationalrätin Andrea Gmür hat immer wieder versucht, Frauen für eine Kandidatur zu motivieren. Es sei schwierig, sagt sie: «Bei Frauen braucht es mehr Überzeugungsarbeit.» Gmür kann das verstehen. Sie erinnert sich daran, wie es war, als sie 2011 das erste Mal für den Nationalrat kandidierte: «Es hiess, es wäre doch besser, wenn ich zu meinen vier Kindern schauen würde. Bei Männern hört man solche Bemerkungen nie.»
Der Frauenanteil im Parlament liegt aktuell bei 30 Prozent. Im europäischen Vergleich ist das ein tiefer Wert. Und vor allem: Der Frauenanteil wächst in der Schweiz seit zehn Jahren fast nicht mehr. «Selbst wenn er wieder anfangen würde zu wachsen wie einst, ginge es noch lange, bis die Frauen die Hälfte aller Sitze im Nationalrat hätten», sagt die Historikerin Fabienne Amlinger.
Seit 1983 steigt im Nationalrat der Frauenanteil im Schnitt um 3 Prozent. Rechnet man das hoch, würden erst im Jahr 2050 gleich viele Frauen wie Männer im Nationalrat sitzen.
Spielregeln von Männern für Männer
Amlinger hat sich in ihrer Dissertation «Im Vorzimmer der Macht?» mit den Frauenorganisationen der Parteien SP, FDP und CVP zwischen 1971 und 1995 beschäftigt. Diese Gruppierungen seien der Sache der Frau zwar durchaus dienlich, sagt sie, doch gebe es auch ein Problem: «Männer können so die Zuständigkeit für die Gleichstellung einfacher an die Frauen abschieben.»
Vor allem in den bürgerlichen Parteien gestalte sich die Situation für Frauen schwierig, sagt Amlinger: «Themen wie Gleichstellung und Frauenförderung standen dort nie zuoberst auf der politischen Agenda.» Frauen hätten sich um die sogenannten Frauenthemen zu kümmern. Damit lagern die Männer das Thema Gleichstellung an die Frauen aus und messen diesem keine zentrale Bedeutung mehr bei. Auch werde die Männerdomäne Politik bis heute viel zu wenig infrage gestellt von der Gesellschaft. «Die Spielregeln wurden von Männern für Männer gestaltet.» Sie seien historisch angelegt, und seit der männlich geprägten Bundesstaatsgründung 1848 hätten sich etliche davon gehalten.
Was mit Spielregeln gemeint ist, kann die Berner GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy an konkreten Beispielen erklären: «Frauen würden Ratssitzungen wahrscheinlich nicht bis 22 Uhr abhalten und sicher nicht an unregelmässigen Tagen.» Der von Männern geschaffene Politbetrieb sei sehr schwer vereinbar mit der Kinderbetreuung. «Und Frauen suchen am Rednerpult viel eher die Lösung als die Konfrontation», sagt Bertschy. Die Diskussionskultur von Frauen sei eine andere als die von Männern, habe aber in Bundesbern noch keine grossen Spuren hinterlassen.
Die Politik wird für Frauen ein hartes Pflaster bleiben. Manche Effekte, genauer genommen Schneeballeffekte, spielen aber auch für sie. Das hat der Politikwissenschaftler Fabrizio Gilardi in einer Analyse der Wahldaten von 168 Gemeinden des Kantons Zürich von 1970 bis 2010 nachgewiesen: Wird eine Frau in einer Gemeinde gewählt, kandidieren bei den nächsten Wahlen mehr Frauen – auch in den umliegenden Gemeinden. Doch der Schneeballeffekt spielt nur, solange nur ganz wenige Frauen ein Amt besetzen. Haben sich die ersten Pionierinnen einmal etabliert, ebbt er ab. «Hier braucht es Druck auf die Parteien, damit sie sich anstrengen, weitere Frauen zu finden», sagt Gilardi.
Frauen erobern die Politik in Schüben
Was heisst das alles nun für die Parlamentswahlen im nächsten Herbst?
Derzeit stellen die Parteien ihre Listen zusammen. Bei der SP verlangen die Frauen wie schon seit vielen Jahren, dass gleich viele Frauen wie Männer aufgestellt werden. Neu stellen auch die FDP-Frauen eine Forderung: Die ersten zehn Listenplätze soll die Partei zu einem Drittel an Frauen vergeben.
Die Präsidentin der CVP-Frauen, Babette Sigg, ist gegen solche Quoten, aber nicht deshalb, weil sie Quoten generell ablehnen würde. Sondern aus schierem Realismus: «Man kann schon nach Quoten rufen, aber dann muss es auch genügend interessierte Frauen geben. Das ist bei uns leider nicht überall der Fall.»
Neben den Anstrengungen der Frauenorganisationen in den Parteien gibt es noch einen weiteren Grund, warum der Frauenanteil im Parlament nächstes Jahr wieder steigen könnte: das gesellschaftliche Umfeld. Als der Frauenanteil in den 1990er-Jahren in die Höhe schoss, war dies auch eine Folge der Nichtwahl von SP-Nationalrätin Christiane Brunner in den Bundesrat im Jahr 1993. Eine Welle der Empörung ging durch das Land und mobilisierte die Frauen.
Der Feminismus erreicht seine Ziele in Schüben. Und derzeit geht wieder ein solcher Schub durch die Gesellschaft. Im Zuge von Frauendemonstrationen wie dem Women’s March traten so viele Frauen wie noch nie zu den Zwischenwahlen in den USA an, und noch nie schafften so viele den Sprung in den Kongress. Auch in der Schweiz könnten die vielen Frauendemonstrationen (Pussyhats, Lohngleichheit, Frauen*streik 2019) dazu führen, dass der Anteil der Frauen im Nationalrat nach zehn Jahren endlich wieder deutlich steigt.
Die Schweiz bewegt sich. Aber wie viel noch zu tun bleibt, bis die Frauen nicht nur in der Regierung, sondern in der Tiefe der Macht angekommen sind, zeigt ein Blick auf den Ständerat: Von sieben Frauen treten dort sechs zurück. Dass sie alle durch Frauen ersetzt werden, ist unwahrscheinlich. Es gibt Beobachter, die einen Ständerat mit drei Frauen für möglich halten. Und 43 Männern.
Klar, der Ständerat entstellt die Wirklichkeit. Aber weil Ständeräte im Mehrheitswahlrecht gewählt werden, zeigt er in aller Deutlichkeit: Nur die Sieger ziehen ins Parlament, die übrigen politischen Kräfte gehen leer aus. Die Mehrheit setzt sich durch, und die Mehrheit ist nach wie vor männlich.
Die Schweizer Gesellschaft – und damit auch der Politbetrieb – ist noch längst nicht fortschrittlich. Aber wer weiss, vielleicht kommt die Politik dem Ziel ausgerechnet dank Toni Brunner ein wenig näher. Nach zwei erfolglosen Versuchen, in den Ständerat zu kommen, könnte er nächstes Jahr womöglich seiner Partnerin Esther Friedli den Vortritt lassen.
Doch selbst wenn Friedli in den Ständerat gewählt würde, könnte sie dort noch lange ausrufen: «Männer, Männer, Männer.»