Das kleine Einmaleins der Klimapolitik
Wie schnell muss die Schweiz ihre Treibhausgasemissionen reduzieren, um die internationalen Klimaziele zu erreichen? Zwei einfache Grafiken geben eine intuitive Antwort.
Von Simon Schmid, 26.11.2018
Dieser Beitrag ist simpel: keine aufwendige Datenrecherche, fast schon banale Mathematik. Trotzdem ist er wichtig für das Verständnis der Klimapolitik.
Die Frage: Wie kommt die Schweiz zum Ziel?
Es geht um die Emission von Treibhausgasen wie CO2. Beziehungsweise: um ihre Reduktion. Um die grössten Schäden im Zuge des Klimawandels zu verhindern, muss der globale Ausstoss möglichst bald auf null sinken. So schreiben es die Wissenschaftler des Weltklimarates in ihren Berichten.
Die Frist dafür läuft bis 2050. Ab diesem Zeitpunkt sollte unter dem Strich, also nach Abzug von CO2-senkenden Massnahmen wie etwa der Aufforstung, kein Gramm Kohlendioxid mehr in die Atmosphäre entweichen.
Hält die Welt diese Frist ein, so bleibt der Temperaturanstieg gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf 1,5 Grad beschränkt. Und es kommt zu weniger extremen Hitzewellen und Starkniederschlägen, zudem lassen sich irreversible Schäden an Korallenriffen und anderen Ökosystemen vermeiden.
Damit die Welt bis Mitte des Jahrhunderts auf null Emissionen kommt, muss vereinfacht gesagt jedes einzelne Land seine Emissionen herunterfahren. Auch die Schweiz.
Die grosse Frage ist: Wie kommt man ausgehend von heute an diesen Punkt?
Wir geben darauf in diesem Text zwei Antworten: eine in ihrer Arithmetik unerbittliche und eine in manchen Bereichen etwas relativierende.
Antwort 1: Die Absenkung muss 3 Prozent betragen
Zuerst die unerbittliche. Sie besagt schlicht und einfach, um welchen Anteil die heutige Menge an ausgestossenen Treibhausgasen pro Jahr sinken muss, damit sie bis 2050 bis auf null fällt.
Die Antwort lautet: 3 Prozent. Ablesbar ist dies in der folgenden Darstellung.
Sie zeigt (in Schwarz) die bisherige Entwicklung der inländischen Emissionen von Treibhausgasen. Ab dem Jahr 2017 sind (farbig) mögliche Absenkpfade eingezeichnet: 0,5 Prozent pro Jahr, 1 Prozent, 1,5 Prozent und so weiter. Man sieht (in Hellblau), dass mindestens eine jährliche Reduktion im Umfang von 3 Prozent der heutigen Menge nötig ist, um bis 2050 auf null zu kommen.
Wie gesagt: Diese arithmetische Betrachtungsweise ist ziemlich schematisch und auch strikt. Gerade deshalb ist sie jedoch ein exzellentes Mittel, um die Klimapolitik in groben Zügen einzuordnen – und zwar was die Vergangenheit anbelangt, aber auch die Zukunft, so, wie sie die Politik zuletzt skizziert hat.
Geordnet nach Absenkpfaden, fällt das Urteil dann folgendermassen aus:
1 Prozent: Um diesen jährlichen Anteil nahmen die Emissionen über die vergangenen zehn Jahre ab, also von 2006 bis 2016. Projiziert man diesen Pfad in die Zukunft (rot), so zeigt sich: Das Tempo reicht niemals aus, um die vom Weltklimarat empfohlenen Ziele zu erreichen. Nicht einmal bis Ende des 21. Jahrhunderts fallen die Emissionen in diesem Szenario auf null.
2 Prozent: Um diesen jährlichen Anteil will der Bundesrat die Emissionen im Inland gemäss revidiertem CO2-Gesetz senken, über das der Nationalrat im Winter debattiert. Der Pfad ergibt sich aus dem Emissionsziel fürs Inland, das im Gesetz für das Jahr 2030 formuliert ist. Wie die dazugehörige Kurve (violett) zeigt, ist dieser Pfad zu wenig anspruchsvoll. Erst im Jahr 2066 würde der Ausstoss von CO2 und anderen Treibhausgasen die Nulllinie erreichen.
3 Prozent: Um diesen jährlichen Anteil müssten die Emissionen eigentlich fallen, um bis 2050 tatsächlich auf null zu stehen (hellblau). Die Umweltkommission des Europäischen Parlaments tendiert in einem kürzlichen Beschluss sogar zu einem leicht höheren Wert.
4 Prozent: Um diesen jährlichen Anteil sollten die hiesigen Emissionen nach Ansicht von Umweltorganisationen wie dem WWF fallen. Die Schweiz solle sich dieses Ziel vornehmen, weil sie im Vergleich zu Schwellen- und Entwicklungsländern in den letzten Jahrzehnten pro Kopf bereits relativ viel Treibhausgas ausgestossen hat. Ein solcher Pfad (grün) liefe darauf hinaus, dass die Schweiz schon ungefähr 2041 emissionsfrei wäre.
Die diskutierten Werte sind der Einfachheit halber leicht gerundet. Ob mit oder ohne Kommastellen – klar wird: Die aktuellen Anstrengungen bringen die Schweiz nicht auf Kurs für das globale 1,5-Grad-Ziel.
Das gilt selbst dann, wenn man die strikte Betrachtungsweise etwas relativiert und die verschiedenen Sektoren, die für den Ausstoss von Treibhausgasen verantwortlich sind, nach der Dringlichkeit der Reduktion einordnet.
Antwort 2: Im Gebäudebereich drängt es am meisten
Dazu ein einfacher Vergleich zwischen einer Immobilie und einer Glühbirne: Erstere dient Menschen typischerweise über Jahrzehnte oder Jahrhunderte als Behausung, bis sie abgerissen oder saniert wird. Letztere ist dagegen meist nur einige Jahre im Einsatz – sei es, weil irgendwann der Draht durchbrennt, sei es, weil die Lampe ersetzt wird.
Immobilien haben also eine längere Lebensdauer als Glühbirnen.
Dies ist für den Klimaschutz relevant: Es bedeutet – wenn die Schweiz bis 2050 emissionsfrei sein soll –, dass sämtliche neuen Immobilien schon ab morgen klimafreundlich gebaut sein müssen – ohne Ölheizungen und gut isoliert.
Im Gegensatz dazu ist der Handlungsbedarf bei der Beleuchtung nicht ganz so dringend, weil Glühbirnen im Lauf der kommenden Jahrzehnte ohnehin mehrmals ersetzt werden. Der Fortschritt kann hier nach und nach erfolgen.
Je länger die Lebensdauer einer Einrichtung, desto mehr eilen politische Massnahmen im Hinblick aufs Klima: Das illustriert die folgende Grafik.
Sie zeigt, wie viele Erneuerungszyklen verschiedene Produkte über einen Zeitraum von 84 Jahren durchmachen. Oben stehen die Gebäude: Sie werden nur einmal erneuert. Unten stehen die Glühbirnen: Bei einer Lebensdauer von 7 Jahren werden sie von 2016 bis Ende des Jahrhunderts zwölfmal ersetzt.
Die hiesige Klimapolitik trägt der Langlebigkeitsregel tatsächlich Rechnung (auch wenn sie den Anforderungen insgesamt noch nicht genügt). Das geht aus den Zielen hervor, die im neuen CO2-Gesetz formuliert sind. Bis 2030 strebt der Bundesrat je nach Sektor unterschiedliche Reduktionsziele an:
Bei den Gebäuden sollen die Emissionen um 3,3 Prozent pro Jahr fallen.
Im Verkehr sollen die Emissionen um 1,5 Prozent pro Jahr fallen.
In der Industrie sollen die Emissionen um 1,4 Prozent pro Jahr fallen.
In den übrigen Bereichen, also insbesondere in der Landwirtschaft, sollen die Emissionen bis ins Jahr 2030 jeweils um 1,3 Prozent pro Jahr fallen.
Die angestrebten Reduktionsziele sind bei den Gebäuden also ambitionierter als beim Verkehr. Das ist konsistent mit der Idee, dass bei den Autos mehr Zeit für die Umstellung bleibt – und in der Schweiz noch ein bis zwei weitere Zyklen lang Benzinmotoren in den Verkehr kommen können.
Bei einer Lebensdauer von 15 Jahren würde dies bedeuten, dass die Schweiz ausgehend von 2016 erst 2031 beziehungsweise 2046 ganz auf E-Autos umstellt, um noch rechtzeitig bis Mitte des Jahrhunderts emissionsfrei unterwegs zu sein. Was ein möglicher, wenn auch nicht der ehrgeizigste Entwicklungspfad ist.
Schlussbemerkung: Über Ziele, Pfade und Faustregeln
Wie kommt die Schweiz beim Klima zum Ziel? Man muss sich bewusst sein, dass es hierfür keine wissenschaftlich exakten Vorgaben geben kann. Denn der Klimawandel ist ein Risiko: Es gibt, ausgehend von einem bestimmten Emissionspfad, nicht nur eine Temperatur- und Niederschlagsentwicklung, sondern eine Bandbreite an Szenarien. Möglicherweise fallen die Schäden viel höher aus, als wir uns dies heute vorstellen können.
Gerade deshalb nimmt das 1,5-Grad-Ziel in der Kommunikation derzeit einen so wichtigen Stellenwert ein: Es ist ein Mittel, um auszudrücken, dass sich Klimaschutz lohnt – und dass das Risiko irreversibler Umweltschäden deutlich abnimmt, wenn es gelingt, den Temperaturanstieg nicht nur auf 2 Grad zu beschränken, sondern ein ganzes Stück weit darunter zu halten. Die Formulierung, wonach die Emissionen zu diesem Zweck bis 2050 auf null sinken müssen, ist eine Faustregel. Sie dient der ungefähren Orientierung.
Als ähnliche Orientierung ist dieser Beitrag gedacht. Die Faustregeln, die er enthält – minus 3 Prozent Emissionen pro Jahr, langlebige Einrichtungen zuerst verändern –, sind Richtwerte für den gedanklichen Umgang mit Risiken. Man kann sie auch noch simpler, ohne Zahlen, formulieren: Je früher klimafreundliche Technologien eingesetzt werden, desto besser.
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