Bilateraler Beziehungsstress

Das Rahmenabkommen mit der EU stürzt die Schweiz in eine Krise. Droht das Ende des Lohnschutzes? Des bilateralen Weges? Und wie kommt man aus dieser Krise wieder heraus?

Von Urs Bruderer, 19.12.2018

Es gibt solche Beziehungen: Sie will mehr, er ziert sich. Da ist dieses leise Knirschen, man redet immer mal wieder darüber, aber eigentlich, denkt man, läuft es doch ganz gut. Das kann jahrelang so gehen. Bis es knallt und man in einer Situation aufwacht mit nur noch zwei Möglichkeiten.

Die EU und die Schweiz sind aus einer guten Beziehung mit leisen Neben­geräuschen in eine Beziehungs­krise gerutscht. Die EU will jetzt unbedingt mehr und ist nicht mehr bereit, das Zögern der Schweiz zu akzeptieren.

Der Knall, der die neue Situation herbeiführte, war nur in einem Sitzungs­zimmer zu vernehmen. Er bestand aus einem Satz: «Das wärs, Ende der Verhandlungen.» Etwas in der Art muss das EU-Verhandlungs­team seinem Gegenüber aus der Schweiz gesagt haben.

Die Öffentlichkeit vernahm das seltsame Echo des Knalls, als der Bundesrat am 7. Dezember das ausgehandelte Rahmen­abkommen der Öffentlichkeit präsentierte. Seither scheint klar: Entweder die Schweiz schluckt jetzt dieses Abkommen. Oder sie schluckt es nicht.

Und dann? Geht ihr Verhältnis zur EU dann in die Brüche? Langsam aber sicher zu Ende? Oder nur in eine neue, schwierige Phase?

Sicher ist: Seit dem 7. Dezember gibt es dieses Entweder-oder-Gefühl. Das Gefühl, dass jetzt eine Entscheidung fallen muss.

Kompliziert, würde ein Paartherapeut sagen

Wie in Beziehungskrisen üblich, ist man sich nicht nur in der Sache uneinig, sondern auch darin, wie das bisher Gesagte gemeint war:

  • Der Bundesrat bezeichnet das vorliegende Abkommen als «derzeitiges Verhandlungsergebnis», das «offene Punkte» aufweise. Darum führt er jetzt in der Schweiz eine Konsultation durch, um danach «allenfalls mit der EU erneut das Gespräch zu suchen».

  • Die EU-Kommission beschreibt das Abkommen als «bestmögliches Ergebnis» und «endgültigen Text», auf den sich «die EU und die Schweizer Verhandler geeinigt» hätten.

Kurz: Die Schweiz will immer noch weiterreden, für die EU ist die Zeit des Redens vorbei. «Wir erwarten eine schnelle Konsultation und erwarten ein positives Ergebnis», schreibt die Kommission. Ihr geht die Geduld aus. 23 Mal habe EU-Kommissions­präsident Juncker persönlich mit Schweizer Präsidenten gesprochen, schreibt sie, 32 Verhandlungsrunden hätten stattgefunden, man habe sich sehr flexibel gezeigt, etwa «mit einer Lösung für die sogenannten ‹flankierenden Massnahmen› auf Schweizer Seite».

Die Verärgerung ist spürbar bis in die Anführungszeichen. Ein Paartherapeut würde die Ausgangslage als kompliziert einstufen.

Erschwerend kommt hinzu, dass die EU mit einer Stimme spricht, die Schweiz aber wie ein Patient mit multipler Persönlichkeitsstörung. Der Bundesrat, der die politische Willensbildung eigentlich anführen müsste, drückt sich vor einem Urteil über das Verhandlungs­ergebnis und befragt stattdessen Parteien und Interessen­gruppen. Und deren Einschätzungen gehen in alle Richtungen.

Die optimistische Stimme

Zufrieden sind die Grünliberalen. «Es liegt jetzt ein gutes Verhandlungs­resultat auf dem Tisch», sagt Nationalrätin Tiana Angelina Moser, «die Schweiz hat viel herausgeholt.»

Kurz zum Grundsätzlichen. Die Schweiz und die EU haben zwar unzählige Verträge. Doch zugleich leben sie in einer wilden Ehe: Im Streitfall – und Streit gab und gibt es immer mal wieder, etwa um das Bank­geheimnis, die Steuer­privilegien für ausländische Unternehmen oder die flankierenden Massnahmen – im Streitfall bleibt den beiden nur der Dialog. Und führt der Dialog zu keinem Ergebnis, bleibt es beim Streit. Denn keine Seite kann ein Gericht anrufen, wenn sie das Gefühl hat, die andere verstosse gegen einen Vertrag. Weil es kein zuständiges Gericht gibt.

Die EU wünscht sich schon lange ein Ende dieser wilden Ehe. Auch die Schweiz sagt schon lange im Prinzip Ja zu einem geregelten Verhältnis – und windet sich doch bis heute.

Tiana Angelina Moser hat recht: Die EU hat sich tatsächlich bewegt. In vielen Verträgen zwischen der Schweiz und der EU geht es um den Zugang zum EU-Binnenmarkt. Und wer Zugang zu einem fremden Markt will, muss sich an dessen Regeln halten. Für die EU war darum klar: Im Streitfall mit der Schweiz muss der Schieds­richter derselbe sein wie für die anderen Markt­teilnehmer (die EU-Staaten), also der Europäische Gerichtshof (EuGH). In diesem Punkt hat die EU nachgegeben.

Schiedsrichter wäre laut Rahmen­abkommen ein Schieds­gericht, das je zur Hälfte mit Vertretern der Schweiz und der EU besetzt würde. Im Streitfall müsste das Schieds­gericht zwar den EuGH um eine Auslegung bitten und sich auch daran halten. Der EuGH behielte also die juristische Deutungs­hoheit. Aber das Schieds­gericht entschiede, und vor allem: Die Schweiz könnte sich über dessen Entscheid hinwegsetzen und in Kauf nehmen, dass die EU sie mit verhältnismässigen Ausgleichs­massnahmen bestrafen darf.

Moser findet diese Lösung gut. Sie ärgert sich, wenn etwa FDP-Ständerat Philipp Müller behauptet, die Schweiz habe jetzt nur noch «die Wahl zwischen Pest und Cholera», zwischen diesem Abkommen und bilateraler Eiszeit also. In der gespaltenen Schweiz verkörpert Müller die Persönlichkeit des Schwarz­sehers. Die optimistische Stimme der Grün­liberalen widerspricht: «Nein», sagt Moser, «das Abkommen ist eine Chance.»

Und plötzlich gehts ans Eingemachte

Um den Schiedsgerichts-Verhandlungs­erfolg der Schweiz ist es still geworden. Dafür ist grosse Aufregung um die flankierenden Massnahmen ausgebrochen. Sie ist so gross, dass sich das Land an ein neues Kürzel gewöhnt hat: die FlaM (flankierende Massnahmen).

Auch das ist typisch für Beziehungsknatsch: Jahrelang liefert man sich dasselbe Scharmützel – und plötzlich gehts ans Eingemachte, ein anderes Thema dominiert.

Die grünliberale Moser ist der Meinung, dass die FlaM auch mit dem Abkommen nach wie vor stark wären: «Ich glaube an den Lohnschutz mit Anpassungen. Die nötigen Justierungen sind bewältigbar.» Mit dieser Einschätzung sind sie und ihre Partei derzeit ziemlich allein. Doch Moser hofft, dass die neue Entweder-oder-Stimmung eine Dynamik auslöst: «Der Höhe­punkt des Negativismus war im Sommer erreicht, als auch FDP und CVP einen Abbruch der Verhandlungen forderten», sagt sie. Jetzt spüre sie bei diesen Parteien wieder eine gewisse Offenheit für das Abkommen.

Bei den FlaM handelt es sich um Auflagen für EU-Unternehmen, die sicherstellen sollen, dass zum Beispiel ein Bau­unternehmen aus Polen auch wirklich Schweizer Löhne bezahlt, wenn es seine Mitarbeiter auf einer Schweizer Baustelle einsetzt.

Das ist gut für die EU-Angestellten: Sie verdienen hier mehr als anderswo. Es ist gut für die Schweizer Bau­arbeiter: Ihre Löhne geraten nicht unter Druck, ihre Jobs nicht in Gefahr. Und es ist gut für die Schweizer Bau­branche: Sie bleibt im Geschäft.

Derzeit sehen die flankierenden Mass­nahmen vor, dass EU-Unternehmen sich acht Tage vor einem Einsatz in der Schweiz anmelden und eine Kaution hinterlegen müssen. Die acht Tage dienen der Vorbereitung allfälliger Inspektionen, die Kaution als Garantie: Falls ein Unternehmen erwischt und gebüsst wird, zum Beispiel wegen zu tiefer Löhne, kann es sich nicht einfach aus dem Staub machen, ohne die Busse zu bezahlen.

Die flankierenden Massnahmen würden mit dem Abkommen geschwächt: Aus acht Tagen würden vier Wochen tage, und eine Kaution müsste nur noch hinterlegen, wer schon einmal bei einem Verstoss erwischt wurde.

Die Grünliberale Moser kann mit diesen Änderungen leben: «Der Lohn­schutz ist nach wie vor gewährleistet. Wer anderes behauptet, macht Wahl­kampf auf Kosten des Gesamt­wohls unseres Landes.» Die optimistische Stimme ist angriffslustig.

Die EU zeigt der Schweiz die kalte Schulter

Und auch sie arbeitet mit Droh­szenarien. Die EU und die Schweiz, so ihre Lesart des Knalls, verbindet eine besondere Beziehung, und die EU wäre bereit, diese besondere Beziehung fortzusetzen. Aber nur mit Abkommen. Ohne vergeht ihr zunehmend die Lust.

Tatsächlich zeigt die EU der Schweiz immer öfter die kalte Schulter. Die Fälle lassen sich leicht aufzählen, aber nur schwer quantifizieren:

  • Keine neuen Abkommen. Schon seit Jahren sagt die EU: Neue Markt­zugänge gibt es für die Schweiz nur noch mit einem Rahmen­abkommen. Ob die Schweiz neue Abkommen braucht, zum Beispiel für den Strom­markt, ist umstritten. Der drohende Schaden für die Schweiz? Eine Streitfrage unter Insidern.

  • Das Ende der Anerkennung der Schweizer Börse durch die EU. Diese Drohung hat Brüssel Anfang Woche um sechs Monate hinaus­geschoben. Der Bundesrat hat Gegen­massnahmen vorbereitet. Die Schweizer Bankiervereinigung hält die Gefahr für gross, die Gegen­massnahmen für gut. Der drohende Schaden? Eine Frage für Insider.

  • Die Forschungs­zusammenarbeit wird beendet. Nach dem Ja zur Massen­einwanderungs­initiative hat die EU dies kurzfristig gemacht. Die Schweizer Hoch­schulen warnen vor schweren Nachteilen. Ob die EU die Zusammen­arbeit mit Schweizer Spitzen­unis tatsächlich auch langfristig gefährden würde, ist unklar. Drohender Schaden? Sie kennen die Antwort.

  • Kein Erasmus­programm für Schweizer Studierende mehr. Hier lässt sich der Schaden ziemlich klar benennen: Jährlich nutzen etwa 10’000 Studierende die Möglichkeit, sich auf leichtem Weg für ein Jahr an einer Uni im EU-Ausland einzuschreiben. Damit wäre Schluss – wenn die EU tatsächlich auch ihren Studierenden den Zugang zu Schweizer Unis verbauen wollte.

  • Die Erosion des bilateralen Weges: Die EU verweigert die Pflege der bestehenden Abkommen, etwa jenes über technische Handels­hemmnisse: Es erlaubt Schweizer Unternehmen, in der Schweiz zugelassene Produkte ohne weitere Prüfung in die EU zu exportieren. Da Produkte sich laufend entwickeln, müssen auch die Abkommen laufend erneuert werden. Der zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn hat Anfang Woche gedroht, die dafür nötigen Gespräche vorerst auszusetzen, und die EU kann das (wilde Ehe!). Für Schweizer Unternehmen bedeutet dies: Sie müssen für neue Produkte in Zukunft wohl auch eine EU-Zulassung einholen. Das führt zu Mehrkosten, die der Bundesrat in einer Antwort auf eine Anfrage aus dem Parlament auf 0,5 bis 1 Prozent des Produktwerts schätzte.

Die Stimme des Warners

Diese Liste kennt auch der Chef­ökonom des Schweizerischen Gewerkschafts­bundes, Daniel Lampart. «Jeder dieser sogenannten Nadelstiche ist lästig», sagt er, «aber niemand konnte mir je erklären, warum es jetzt plötzlich eilt mit dem Rahmen­abkommen.»

Für ihn sind die Nadelstiche zweitrangig, verglichen mit den Schäden, die bei einer Abschwächung der FlaM drohen. Von den vielen Stimmen, mit denen die Schweiz spricht, gehört Lampart die des Warners.

Wobei das meistdiskutierte Problem im Alltag bereits gelöst sei: die Acht-Tage-Regel. Längst habe man sich mit den betroffenen Unternehmen auf Ausnahmen geeinigt, etwa wenn dringende Reparatur­arbeiten anstehen, im Alltag gebe es da keine Probleme. Für seriöse ausländische Unternehmen sei die Anmelde­frist kein Hindernis, sagt der Gewerkschafter.

Gefährlicher ist seines Erachtens die Aufweichung der Kaution «als Bedingung für die Durchsetz­barkeit von Bussen». Vor allem bei Sub­unternehmen, aber auch bei unseriösen, kurzlebigen Firmen: «Ohne Kaution machen sie sich aus dem Staub, wenn sie erwischt werden, und kehren unter neuem Namen zurück.»

Über Anpassungen der FlaM haben die Schweizer Gewerkschaften früher mit den betroffenen Hand­werkern gesprochen sowie mit politischen Vertretern aus den betroffenen, an die Schweiz angrenzenden EU-Regionen. So wurden pragmatische Lösungen für administrative Hürden gefunden. Doch dieser Weg wäre mit dem Rahmen­abkommen womöglich verbaut, wenn die Schweiz die EU-Richt­linien über zugelassene Formen von Lohnschutz­kontrollen übernähme. Denn dann wären die FlaM nicht mehr die Sache der Pragmatiker vor Ort, sondern der Zentrale in Brüssel.

Lampart hält die drohende Übernahme der EU-Richt­linien für katastrophal. Weil sich die Schweiz damit der Deutungs­hoheit des EuGH unterwirft. Die Luxemburger Richter würden neu auslegen, ob die Schweizer FlaM zulässig sind. Und Gewerkschafter Lampart vermutet: Das wäre der Anfang vom Ende der FlaM.

Warum? Aus drei Gründen.

  • Erstens: «Bei einem Besuch in Brüssel haben uns für die Schweiz zuständige EU-Beamte gesagt, dass wir viel zu viele EU-Firmen kontrollierten», so Lampart. Die Schweiz führt tatsächlich viele Kontrollen durch. Sie findet dabei aber auch viele Verstösse: Ein Viertel der kontrollierten EU-Unternehmen bezahlt laut einem Bericht des Staats­sekretariates für Wirtschaft Dumping­löhne, in manchen Gewerben liegt die Quote der Lohn­drücker sogar über fünfzig Prozent.

  • Zweitens: Viele Lohn­kontrollen werden in der Schweiz von paritätischen Kommissionen durchgeführt, die von Arbeit­gebern und Arbeit­nehmern gemeinsam besetzt werden. «Bei der EU-Delegation in Bern hat man uns gesagt, dass dies nicht akzeptabel sei», so Lampart. Die Bedenken der EU sind nachvollziehbar: In der Schweiz kontrollieren Vertreter von Schweizer Unternehmen ihre Konkurrenz aus der EU. Hinzu kommt:

  • Drittens: Diese Kommissionen kontrollieren nicht nur, sie verhängen auch Bussen. Dass die Schweiz diese Aufgabe Privaten überlässt, ist ungewöhnlich. Die EU-Richtlinie sieht das nicht vor.

Der EuGH könnte all diesen Schweizer Spezialitäten ein Ende bereiten, vermutet Gewerkschafter Lampart. Und ohne die vielen Kontrollen durch die bewährten paritätischen Kommissionen, die Bussen verteilen können, gerieten die Löhne in der Schweiz unter Druck. «Und das nicht nur auf dem Bau und in Teilen der Industrie», sagt Lampart, «sondern auch in Dienst­leistungs­bereichen wie der Informatik oder der Sicherheit, in der Logistik, bei den Gärtnern, Malern oder Küchenbauern.»

Bloss keine Reaktion aus dem Affekt

Dieses Risiko ist Lampart viel zu gross. Er sieht die Gefahren einer unkontrollierten Öffnung und eines entstehenden Niedrig­lohn­sektors überall in Europa. Etwa in Grossbritannien, wo man jetzt über den Brexit diskutiert. Oder am Erfolg der AfD in Deutschland. «Das einseitige EU-Projekt eines möglichst offenen Binnen­marktes ohne soziale Absicherung stösst überall an politische Grenzen», sagt der Gewerkschafter, «darum glaube ich nicht, dass das ausgehandelte Rahmen­abkommen der beste aller möglichen Verträge ist.»

Ihn bestärkt, dass europäische Gewerkschafter die EU-Kommission aufforderten, den Druck auf die Schweizer FlaM aufzugeben. In einem Brief an EU-Kommissions­präsident Juncker schreibt der Deutsche Gewerkschafts­bund, dass er sich «mit Nachdruck für die flankierenden Massnahmen in der Schweiz einsetzt»; die FlaM seien «wichtige Instrumente zum Schutz des nationalen Arbeits­markts vor miss­bräuchlichen Praktiken nationaler und europäischer Unternehmen».

Kein Wunder, hält Lampart die FlaM für unantastbar. Kein Wunder, schliesst er einen Deal nach dem Muster «weniger FlaM, dafür mehr Sozial­leistungen», aus. Wer so etwas vorschlage, sei noch nie in einem Saal vor hunderten Arbeitern oder Dienst­leisterinnen gestanden: «Die wollen gute Löhne und nicht Sozial­hilfe.»

Er rät der Schweiz jetzt, mitten in der Beziehungs­krise mit der EU, zur Ruhe. Bloss keine Reaktion aus dem Affekt. Abwarten, bis Verhandlungen wieder möglich sind.

Das hausgemachte Psychodrama

In Rage gerät Lampart, wenn er von denen spricht, die diese Verhandlungs­runde seines Erachtens an die Wand gefahren haben. Das sind neben dem Schweizer Verhandlungs­führer Roberto Balzaretti vor allem die zuständigen Bundesräte Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann. Also diejenigen, die im Innersten der politischen Willens­bildung der Schweiz sitzen, zwei von sieben Vertretern des politischen Selbst sozusagen.

Tatsächlich galten die flankierenden Massnahmen stets als unantastbar. Der Gesamt­bundesrat hat Verhandlungen darüber ausgeschlossen. Doch Cassis und Schneider-Ammann haben diese rote Linie im Verhandlungs­mandat im Früh­sommer infrage gestellt, und Balzaretti ist im Herbst mit einem entsprechenden Ergebnis aus den Verhandlungen zurückgekommen.

Als die Gewerkschaften dieses Spiel bemerkten, zogen sie im Sommer die Reiss­leine und verweigerten jedes Gespräch über das Rahmen­abkommen in der Schweiz. Seither gelten sie als Blockierer. Lampart sieht es anders. Die Gewerkschaften seien lange vor diesem Sommer faktisch ausgeschlossen worden. «Mit Balzarettis Vorgänger unterhielt ich mich mehrmals jährlich. Bei Balzaretti mussten wir Gewerkschafter uns selber einladen, er hörte uns 45 Minuten an und nahm dann nie mehr Kontakt auf.»

Die Regierung wollte Europapolitik ohne die Gewerkschaften machen, vermutet Lampart. «Die dachten, es gehe ohne uns.» Spätestens hier zeigt sich, dass die Beziehungs­krise zwischen der Schweiz und der EU nicht zu verstehen ist ohne Einblick in das inner­schweizerische Psycho­drama.

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Die Gewerkschaften haben nicht ganz unrecht. In der Vergangenheit kam die Schweiz in der Europa­politik nur weiter, wenn die wirtschafts­liberale und bürgerliche Mitte einen Kompromiss mit der Linken und den Gewerkschaften schmiedete. Öffnung mit Lohn­schutz, Bilaterale und FlaM, das war die mehrheits­fähige europa­politische Formel.

Die Gewerkschaften sind sich sicher, dass sich daran nichts geändert hat. Dass die grassierende Entweder-oder-Stimmung abklingt. Und dass das vorliegende Rahmen­abkommen darum tot ist.

Ein wenig Wirklichkeitssinn

Roberto Balzaretti sitzt im Bundeshaus Ost und sieht fast alles ganz anders. Etwa das mit den roten Linien. «Das Ergebnis ist, was es ist», sagt der Tessiner Diplomat. Er habe ausgehandelt, was innerhalb des vom Bundesrat beschlossenen Mandats möglich war, etwa die Schieds­gerichts­lösung. Und wo keine Verhandlung möglich war, sei ihm nichts anderes übrig geblieben, als das zur Kenntnis zu nehmen und dem Bundesrat zu berichten.

Zur Diplomatie gehört demnach auch die Aufgabe, die Träger des politischen Willens auf die real existierenden Möglich­keiten hinzuweisen. Der Verhandler als derjenige, der der Sache den nötigen Wirklichkeits­sinn einhaucht.

Tatsächlich sind die flankierenden Massnahmen der Schweiz in Brüssel seit acht Jahren ein Thema. Die in dieser Zeit zwischen der Schweiz und den Grenz­regionen vereinbarten administrativen Erleichterungen für EU-Unternehmen lösten in der EU-Zentrale nie ein Umdenken aus. Wahr ist auch, dass die EU ihre eigenen flankierenden Massnahmen gestärkt hat. Das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» gilt mit den zwei neuen Richt­linien, die die Schweiz übernehmen soll, auch in der EU.

Ob Balzaretti die FlaM hätte schützen können, wenn er bei einer anderen roten Linie nachgegeben hätte, der Übernahme der Unions­bürger­richtlinie nämlich (die für EU-Bürger die Sozial­hilfe­ansprüche und den Schutz vor Ausweisung gestärkt hätte), ist reine Spekulation.

Auch den Vorwurf, dass er sich dem Gespräch mit den Gewerkschaften entzogen hätte, lässt Balzaretti nicht gelten. Er habe die Verhandlungen von März bis Oktober dieses Jahres geführt. «Und da brauchte ich keine Diskussion mit den Gewerkschaften mehr, weil mein Mandat klar war, auch bezüglich der FlaM», so der Verhandler.

Und ja: Worüber hätte er mit den Gewerkschaften diskutieren sollen? Über eine Aufweichung der roten Linien? Über ihre allfällige Unter­stützung für eine Übernahme der Unions­bürger­richtlinie? Solche Gespräche wären Sache des Bundesrats gewesen, und sie hätten viel früher stattfinden müssen.

Doch der Bundesrat wusste nie, was tun mit der Beziehung der Schweiz zur EU. Und auch zum ausgehandelten Abkommen hat er sich für die Meinung entschieden, keine Meinung zu haben. Darum die Konsultation.

Das vorliegende Abkommen sei jetzt unvorein­genommen zu prüfen, sagt Balzaretti, auch wenn es nicht alle Wünsche der Schweiz erfülle. Er versteht die Bedenken der Gewerkschaften, sieht aber in gewissen Punkten keine unüber­windbaren Schwierigkeiten. Etwa in der Sorge, dass die Schweiz die Zahl der Lohn­kontrollen massiv senken müsste: «Wenn die Schweiz nachweisen kann, dass ihr Kontroll­niveau verhältnis­mässig ist, dann wird das Schieds­gericht ihr recht geben.»

Ähnlich sieht es mit der Kontrolle durch die paritätischen Kommissionen aus. In der Durchsetzungs­richtlinie (eine der beiden EU-Richtlinien, die die Schweiz übernehmen sollte) steht ausdrücklich, dass Lohn­kontrollen von den Sozial­partnern durchgeführt werden können. Wenn die Schweiz nachweisen kann, dass diese Kontrollen nicht diskriminierend sind, würde sie damit vor dem Schieds­gericht durchkommen.

«Als Jurist habe ich Vertrauen in die Gerichte», sagt Roberto Balzaretti. Er verweist auf die Ausnahmen, die die EU der Schweiz angeboten hat: eine Vier-Tage-Regel, eine Kaution für Unternehmen, die schon einmal bei Lohn­dumping erwischt wurden. Und vor allem auf die Möglichkeit für die Schweiz, weiterhin das zu machen, was sie möchte, wenn essenzielle Anliegen unseres Landes auf dem Spiel stehen. Das Abkommen sehe in keiner Weise vor, dass die Schweiz gezwungen wäre, neues EU-Recht zu übernehmen.

Tatsächlich könnte die Schweiz zum Beispiel an den FlaM festhalten, selbst wenn das Schieds­gericht – auf Anweisung des EuGH – diese für rechtswidrig hielte. Nur müsste die Schweiz dann auch Vergleichs­massnahmen der EU in Kauf nehmen.

Die Stimmen der Zauderer

Ob diese Argumente reichen, um jetzt wirklich eine neue Dynamik auszulösen und einer Mehrheit rechts von der SP die Angst vor diesem Abkommen zu nehmen? Bis jetzt sieht es nicht so aus.

Wenn man etwa FDP-Nationalrat und Gewerbe­verbands­direktor Hans-Ulrich Bigler fragt, ob das Rahmen­abkommen tot sei, dann antwortet er zwar nicht mit Ja. Aber er sagt: «Die Chancen sind nicht rosig, um nicht Ihre Worte zu gebrauchen.»

Man kaufe da die Katze im Sack, und umsonst habe man ja nicht rote Linien formuliert vor den Verhandlungen.

Bigler hält es für inakzeptabel, dass das Abkommen nicht ausdrücklich festhält, dass die Schweiz die Unions­bürger­richtlinie nicht übernehmen muss. CVP-Nationalrat Fabio Regazzi macht sich vor allem um die FlaM Sorgen: «Il est urgent d’attendre», sagt er, «wir müssen jetzt dringend abwarten.»

Der Tessiner Regazzi ist Metallbau­unternehmer und sitzt im Vorstand des Schweizer Arbeitgeber­verbandes. Die Angst vor Lohn­druck durch EU-Unternehmen sei im Tessin weitverbreitet und teilweise berechtigt, sagt er. Und er lehnt jedes Abkommen mit der EU ab, das die paritätischen Kommissionen als Kontroll­instrument gefährdet: «Ich bin selber Mitglied einer solchen Kommission. Die sind ein wichtiges Instrument, um den Lohn­schutz zu gewährleisten. Darauf kann man nicht verzichten.»

Bigler und Regazzi sind zwei von vielen, die in den nächsten Monaten über die Entwicklung der Beziehungs­krise zwischen der Schweiz und der EU beraten. Sie gehören wie viele in FDP und CVP ins Lager der skeptischen Zauderer.

Bis jetzt dominieren andere Stimmen die Debatte. Einerseits die der Optimistinnen wie der Grün­liberalen Tiana Angelina Moser. Sie sind überzeugt, dass die EU sich in Sachen Lohn­schutz so stark entwickelt hat, dass die Schweiz auch dieses EU-Recht übernehmen sollte, wenn die EU ihr im Gegen­zug nicht mehr die kalte Schulter zeigt.

Und andererseits sind da die warnenden Stimmen etwa von Daniel Lampart. Für sie ist die EU immer noch weit entfernt von einer guten Sozial­politik. Die Schweiz darf ihres Erachtens als Vorbild in Sachen Lohnschutz dem Druck auf die FlaM nicht nachgeben. Um die bilateralen Verträge machen sie sich vorderhand keine Sorgen.

Alle die, die sich zwischen diesen beiden Polen befinden, dürfen es sich jetzt nicht zu einfach machen. Am allerwenigsten der Bundesrat. Denn Beziehungs­krisen sind gefährlich. Sie können reinigend wirken. Aber häufig bleibt eine Seite als Verliererin zurück, oft verlieren beide. Und nie gewinnt jene, die nicht weiss, was sie will.

Korrigendum: In einer früheren Version haben wir Philipp Müller als «FDP-Nationalrat» bezeichnet. Von 2015 bis 2019 war er jedoch Vertreter des Kantons Aargau im Ständerat. Wir bitten um Entschuldigung.