Wenn Big Tech in Bern nach Regulierung ruft
Warum Facebook-Lobbyisten von den Schweizer Wahlgesetzen irritiert sind – und mit welchem umstrittenen Tool der Konzern bei den Wahlen im Herbst mitmischen will.
Eine Recherche von Adrienne Fichter, 06.08.2019
Es war das erste grosse Aufeinandertreffen von Parteien, der Bundesverwaltung und der Big-Tech-Szene. Die Bundeskanzlei lud am 13. Juni Google- und Facebook-Lobbyisten sowie Parteienvertreterinnen, den eidgenössischen Datenschützer und das Bundesamt für Kommunikation zum Tête-à-Tête ein.
Offizielles Traktandum mit Blick auf die bevorstehenden eidgenössischen Wahlen: «Sicherheit im Netz».
Beschlossen wurde am Workshop nichts. Geredet ein wenig. Gestaunt umso mehr.
Zumindest aufseiten der Big-Tech-Lobby: Offenbar konnten die Vertreter von Facebook kaum fassen, dass eine direkte Demokratie so wenig verbindliche Regeln kennt, wie ein Teilnehmer gegenüber der Republik sagte.
Das neue Wahl-Handbuch von Facebook
In den letzten Jahren hat das grösste soziale Netzwerk Facebook Schelte aus Brüssel, London und Washington erhalten. Grund: Verstösse gegen Wahl- und Datenschutzgesetze.
Der Tech-Konzern hat seither einige seiner Hausaufgaben erledigt. Und sich selbst eine Art inoffizielles Handbuch für Wahlen auferlegt. Bei Treffen mit Politikerinnen verschiedener Nationen prüfen Facebook-Vertreter Punkt für Punkt, auf welche staatlichen Besonderheiten in den jeweiligen Ländern Rücksicht genommen werden muss.
In der Schweiz sind das offenbar nur wenige. Wendet man das Handbuch hypothetisch auf die Schweiz an, präsentiert sich ein ernüchterndes Bild:
Transparenzvorschriften für politische Werbung? Gibt es keine.
Gesetze gegen ausländische Einmischung in Wahlen und Abstimmungen? Existieren nicht. Die Schweiz ist vor ausländischen Manipulationsversuchen nicht geschützt, ausser wenn die digitale Infrastruktur attackiert wird.
Strenger Datenschutz? Nein. Das Gesetz von 1992 erhielt zwar mal ein Update. Die Anpassung an die EU-Norm steht immer noch aus.
Fake-News-Gesetze? Kennt die Schweiz nicht. Der Bund kann aber bei virulenten Falschinformationen intervenieren. Und darf gemäss Bundesverfassung eine Richtigstellung kommunizieren.
Die aus Deutschland angereisten Facebook-Vertreter waren derart erstaunt über die laschen Rahmenbedingungen in der Schweiz, dass sie in einem weiteren Treffen am selben Tag von sich aus die grossen Gesetzeslücken angesprochen haben. Sie hätten förmlich nach klareren Regeln geschrien, berichtet ein Vertreter der Bundeskanzlei gegenüber der Republik.
Warum Bundesbern trotzdem zurückhaltend reagiert
Der Ruf nach Regulierungen irritierte die Bundesangestellten in Bern. Aus drei Gründen:
Überforderung: Einige geladene Parteivertreter, die ebenfalls am Treffen teilnahmen, wollen bemerkt haben, dass die Lobbyisten den Bundesbehörden fachlich überlegen waren. Auch würden nicht alle das von Facebook verwendete technische Vokabular verstehen. Einer der Teilnehmer sagte zur Republik: «Es war kein Dialog auf Augenhöhe.»
Fehlender Fall: Bis auf die berichteten Datenschutzverstösse ist der Schweiz kein gravierender Fall von Fake News oder einer Propaganda-Armee bekannt. Somit fehlt auch ein Präzedenzfall. Ein Vertreter der Bundeskanzlei sagt: «Wir können nicht proaktiv im luftleeren Raum reglementieren.»
Gefahr von «massgeschneiderten Regeln»: Reglementieren Politiker den Datenkonzern, verfügt Facebook immer über einen Wissens- und Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz. Jedes neue Regelwerk erhöht die Kosten des Eintritts für neue Start-ups in den Markt. Ausserdem kann sich nur ein Grosskonzern wie Facebook eine Armada von Juristen leisten, um mit allen Gesetzen der Welt compliant zu sein. Vertreter der Bundesbehörden warnen deshalb vor einem einseitigen Marktvorteil für Facebook und Co.
Die Haltung der Schweizer Bundesbehörden bezüglich der Regulierung von Big Tech in drei Worten zusammengefasst: abwarten, beobachten und aufklären.
Für die Beobachtung von Propagandakampagnen sind einige der 100 neu rekrutierten Cybersoldaten des Nachrichtendienstes abgeordnet worden. Das bestätigen Insider.
Zudem: Gemäss einem internen Dokument soll auf der bundeseigenen Wahlplattform ch.ch demnächst ein Leitfaden zu Aufklärungszwecken aufgeschaltet werden, der über Desinformationskampagnen informiert.
Das ist vorerst alles.
Direkter Draht nach Dublin – und der «virtuelle Wahlaufruf» kommt in die Schweiz
Auch wenn an diesem 13. Juni kein konkreter Masterplan verabschiedet worden ist: Für den Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (Edöb) Adrian Lobsiger hat sich das Treffen gelohnt. Zu Google pflegt der Edöb dank des intensiven Lobbyings schon seit längerem einen engen Kontakt. Ganz anders bei Facebook: Alle Kontaktversuche des Teams Lobsiger liefen bisher ins Leere.
Nun hat der Edöb dank des Treffens einen direkten Draht nach Dublin, wo Facebooks Juristen Datenschutzbegehren aus ganz Europa nachgehen. Ohnehin wird er in Zukunft mehr mit Facebooks Legal Department zu tun haben. Seit den Hearings von Blockchain-Chef David Marcus mit Kongressabgeordneten in Washington ist bekannt, dass die Schweiz für die Regulierung der neuen Facebook-Währung Libra zuständig sein wird.
Die Schweiz profitiert auch ohne eigene Reglementierungen als Trittbrettfahrerin. So wird sie zwei Angebote beanspruchen können, die andere Staaten mit viel öffentlichem Druck erst erstreiten mussten:
die Kampagnen-Datenbank: eine öffentlich einsehbare Liste, in der Parteien auf freiwilliger Basis ihre Kampagnen und ihre Ausgaben publizieren, wie die Republik kürzlich publik machte.
den «Election Reminder»: Die aus US-Wahlkämpfen bekannte «Get out the vote»-Kampagnenkultur soll auch die eidgenössischen Wahlen digital beleben. Die Rede ist von einem umstrittenen virtuellen Wahlaufruf auf Facebook, der bis Mitte 2018 in über 66 Ländern eingesetzt worden ist, wie eine Republik-Recherche ergab. Umstritten ist dieser, weil der Datenkonzern in der Vergangenheit damit Demokratie-Experimente durchgeführt hat. Und dies quasi am «offenen Herzen», also während laufender Wahlen. 2010 und 2012 erhielten nur einzelne US-Wählergruppen den Knopf angezeigt. Dieser kleine Hebel hatte grosse Wirkung bei den Kongresswahlen: 300’000 Wählende, die der Urne ferngeblieben wären, konnte Facebook damit mobilisieren. Dies behauptet der Konzern. Die Angaben wurden nie von externen Forscherinnen verifiziert.
In der Schweiz sollen zum Wahltermin im Oktober nicht nur einzelne, sondern alle 3,8 Millionen Nutzerinnen und Nutzer über 18 Jahre an die Wahlen erinnert werden, wie eine Facebook-Sprecherin gegenüber der Republik bestätigt. Das heisst, auch die nicht stimmberechtigte Bevölkerung wird eine Wahlerinnerung erhalten. Nach den Vorwürfen der einseitigen Beeinflussung scheint das Credo bei Facebook zu sein: mehr ist sicherer.
Interessantes Detail: Es war ein junger Parteienvertreter der Grünen, Yannick Zryd, der während des Workshops die kritische Frage nach den Wahlexperimenten im Zusammenhang mit dem Wahlbutton stellte. Weder die Facebook-Vertreterin noch die einladenden Bundesbehörden haben die brisante Vorgeschichte von sich aus angesprochen.
Auch das bezeichnend für die derzeit harmonische Beziehung zwischen Bundesbern und den Big-Tech-Konzernen.