Geheimnisvolle Strahlen
Wie Forscher im 19. Jahrhundert die Erdwärme untersuchten und dabei den Treibhauseffekt entdeckten: Teil 1 unserer Serie über die Wissenschaftsgeschichte des Klimawandels.
Von Arian Bastani (Text) und Kwennie Cheng (Illustration), 05.12.2018
In Orléans sitzt Ende des 18. Jahrhunderts Joseph Fourier hinter Gittern: ein Idealist in seinen Zwanzigern, der von «einer Regierung frei von Königen und Priestern» träumt. Draussen tobt die Französische Revolution.
Nur knapp entkommt Fourier der Guillotine. Zurück in Paris widmet er sich seiner grossen Leidenschaft, der Mathematik. Er unterrichtet Analysis an der École polytechnique in Paris. Schon bald folgt das nächste Abenteuer: Napoleon nimmt ihn als wissenschaftlichen Berater mit auf seinen Ägypten-Feldzug. Anschliessend soll Fourier als Präfekt in Grenoble nach dem Rechten sehen.
Doch Sümpfe trockenlegen und Strassen bauen entspricht nicht dem Gusto des Mathematikers. Und so widmet sich der Franzose, wann immer er Zeit findet, seiner Passion. Dabei macht er eine Entdeckung, welche die kommenden zweihundert Jahre Klimaforschung prägen sollte.
Die obskuren Strahlen der Erde
Fourier untersucht, wie sich Wärme ausbreitet: Er will nachvollziehen, wie die Temperatur der Erde zustande kommt. 1824 fasst er seine Überlegungen zusammen. Die Wärme stamme aus drei Quellen, sagt er: aus der Strahlung der Sonne, der kosmischen Strahlung und der Wärme des Erdkerns.
Der französische Wissenschaftler erkennt:
Der Einfluss der Erdkernwärme auf die Oberflächentemperatur ist gering. Die Erdoberfläche erwärmt sich nicht von innen, sondern von aussen.
Auch die kosmische Strahlung der unzähligen Sterne im Weltall spielt eine untergeordnete Rolle. Die Temperatur, die auf der Erde aus dieser Strahlung resultieren würde, entspricht seiner Schätzung nach etwa jener der Pole.
Es muss also die Sonne sein, die mit ihrer Strahlung den Grossteil der Wärme erzeugt. Und weil die Sonnenstrahlung je nach Tages- und Jahreszeit stark schwankt, variieren auch die Erdtemperaturen.
Allerdings muss es auch eine Abfuhr von Wärme geben, stellt Fourier fest.
Ähnlich, wie ein Glas unter dem Wasserhahn irgendwann überläuft, würde sich auch die Erdtemperatur infolge der permanenten Sonneneinstrahlung immer weiter erhöhen – wenn die Hitze nicht irgendwie abgegeben würde.
Der Franzose, dem ein sehr eigentümliches Verhältnis zu Temperaturen nachgesagt wird – Fourier soll öfter in voller Anzugmontur in der Sauna anzutreffen gewesen sein –, schlägt vor: Die Erdwärme wird wieder als Strahlung abgegeben. Und zwar als unsichtbare Strahlung, als chaleur obscure.
Wie er herausfindet, spielt diese Strahlung für das Klima eine wichtige Rolle.
Serie «Geschichte des Klimawandels»
Wie kam eigentlich die Idee auf, dass der Mensch etwas so unvorstellbar Grosses wie die Atmosphäre beeinflussen könnte? Wann realisierten Forscher erstmals, dass der Klimawandel vom Menschen verursacht ist? Und wie kam die Wissenschaft irgendwann zum Schluss: Jetzt muss gehandelt werden – sonst kommt es zur ökologischen Katastrophe? Diesen wissenschaftshistorischen Fragen gehen wir in einer Serie nach.
Sie lesen: Teil 1
Geheimnisvolle Strahlen
Teil 3
Tödliches Tauwetter
Teil 4
Kampf um die Wahrheit
Zuvor steht Fourier allerdings noch vor einem Rätsel: Warum bleibt es nachts, wenn keine Sonnenstrahlen auf die Erde treffen, trotzdem relativ warm? Warum ist Paris um Mitternacht nicht so kalt wie der Nordpol?
Der Forscher ortet die Lösung des Rätsels in der Atmosphäre. Sie sei für Sonnenstrahlen durchlässig – nicht aber für die unsichtbare Erdabstrahlung.
Um seine Theorie zu illustrieren, bedient sich Fourier eines Experiments. Eine Vase, ausgekleidet mit schwarzem Kork und bedeckt mit Glas, wird in die Mittagssonne gestellt. Im Innern zeigt ein Thermometer an, wie heiss die Luft wird. Das Ergebnis: Die Temperatur steigt über 100 Grad Celsius an.
Fourier erklärt: Das Sonnenlicht dringt ungehindert durch die Glasscheibe hindurch – nicht aber die Wärmeabstrahlung aus dem Innern der Vase. Das Glas hält diese unsichtbare Strahlung teilweise zurück.
Fourier ist sich bewusst, dass die Analogie nicht ideal ist. Die Glasscheibe hindert nicht nur die Wärmestrahlung daran, aus der Vase zu entweichen, sondern verunmöglicht auch die Luftdurchmischung mit der Aussenwelt.
In der Erdatmosphäre kann die Luft im Gegensatz dazu frei zirkulieren. Dennoch hält sich die Versuchsmetapher bis heute: das Treibhaus.
Die Frauenrechtlerin und der Bergsteiger
Was Fourier nicht beantworten kann, ist, welche Bestandteile der Atmosphäre die Glasscheibe des Treibhauses bilden. Wenige Jahrzehnte später werden dazu im angelsächsischen Raum neue Versuche durchgeführt.
Und zwar von zwei Charakteren, die kaum unterschiedlicher sein könnten.
Zum einen ist da: Eunice Foote. Die Amerikanerin ist eine gesellschaftliche Ausnahmeerscheinung. Mitte des 19. Jahrhunderts haben Frauen fast keinen Zugang zur Bildung, geschweige denn zur Forschung. Erst an wenigen Universitäten sind sie zugelassen. Doch im Bundesstaat New York weht ein progressiver Wind. Hier werden Sklaven auf der Flucht in die Freiheit unterstützt; hier formieren sich erste Frauenrechtsbewegungen.
Foote, die in der Stadt Troy in New York lebt, ist Teil davon. Sie unterzeichnet ein Manifest zur Gleichstellung von Mann und Frau und lernt Chemie. Ihre naturwissenschaftliche Ausbildung erhält sie von einem Forscher, der überzeugt ist, dass Frauen dem Mann kognitiv nicht unterlegen sind.
Foote führt Experimente zum Treibhauseffekt durch. Sie füllt Glaszylinder mit unterschiedlichen Gasen und stellt diese in die Sonne. Dann misst sie die jeweilige Innentemperatur: Die höchste stellt sich im Zylinder mit Kohlensäuregas ein, wie Kohlendioxid damals genannt wird.
Foote spekuliert: «Sollte es eine Ära gegeben haben, in der die Atmosphäre einen grösseren Anteil davon enthielt, war es damals wärmer als heute.»
Ihre Resultate werden 1856 an einer Versammlung der American Association for the Advancement of Science vorgetragen – von einem befreundeten Mann, da ihr dies als Frau nicht erlaubt ist (es gibt von Eunice Foote bezeichnenderweise auch kaum brauchbare Fotos). Leider geraten die Ergebnisse danach in Vergessenheit und werden erst über hundertfünfzig Jahre später wiederentdeckt.
In die Geschichte eingehen sollte stattdessen ein männlicher Forscher. Ein Polizistensohn und gelernter Landvermesser, der erst auf dem zweiten Bildungsweg Karriere in den Naturwissenschaften macht: John Tyndall. Seine Versuche sind genauer, wissenschaftlich solider als jene von Foote.
Tyndall ist gebürtiger Ire und eine imposante Erscheinung, gezeichnet von alpiner Witterung, drahtig und Träger eines markanten Barts. In London leitet er ein Labor. Ausserdem ist er Bergsteiger – und zwar nicht irgendeiner: Ihm gelingt etwa 1861 mit zwei Bergführern, einem Walliser und einem Berner, die Erstbegehung des Walliser Weisshorns.
Als Praktiker tüftelt Tyndall gerne an eigenen Laborapparaturen. Mit einer solchen misst er 1859, wie gut verschiedene Gase Wärmestrahlung aufnehmen.
Der Versuchsaufbau funktioniert folgendermassen:
Eine Kupferplatte wird mit einem Bunsenbrenner erhitzt. In der Folge gibt sie Wärmestrahlen ab, die durch ein Rohr geleitet werden, in dem ein Vakuum herrscht.
Am anderen Ende des Rohres wird gemessen, wie viele Strahlen ankommen. Diese Messung dient als Referenz.
Anschliessend wird das Rohr mit einem bestimmten Gas gefüllt, und die Messung wird wiederholt.
Ist die Strahlung am anderen Ende des Rohres nun kleiner, so hat das Gas einen Teil der Strahlung aufgenommen.
Tyndall testet nun verschiedene Gase auf ihre Wärmeabsorption hin.
Er beginnt mit den Hauptbestandteilen der Atmosphäre: Sauerstoff und Stickstoff. Das Resultat: Beide Gase halten die Wärmestrahlung nicht zurück.
Als Nächstes versucht er es mit einem Gas, das zu jener Zeit allgegenwärtig ist: Kohlegas, auch Stadtgas genannt. Dieses entsteht bei der Erhitzung von Kohle und dient zum Beispiel als Brennstoff für Laternen. Es besteht hauptsächlich aus Methan und Kohlenmonoxid, zwei äusserst seltenen Bestandteilen der Atmosphäre.
Das Resultat: Kohlegas ist für Wärmestrahlung fast völlig undurchlässig.
Überrascht macht sich der Forscher daran, andere Gase zu untersuchen. Er entdeckt, dass auch Wasserdampf und Kohlendioxid – ein Molekül mit der chemischen Formel CO2 – Wärmestrahlung stark absorbieren. Diese Gase sind in der Erdatmosphäre in wesentlich grösseren Mengen vertreten.
Für Tyndall ist damit klar: Er hat die hauptverantwortlichen Gase für den Treibhauseffekt gefunden. Der Naturliebhaber, der in der Schweiz auch das Vorrücken und Zurückschmelzen der Gletscher dokumentiert, ist sich sicher: Die Wärme des Planeten hängt von der Konzentration der Treibhausgase ab. Je mehr von ihnen in der Atmosphäre sind, desto höher wird die Temperatur.
Welche Mechanismen dem Effekt zugrunde liegen, weiss Tyndall allerdings nicht. Er spekuliert zwar, dass das Geheimnis in der mikroskopischen Struktur der Gase verborgen liegt. Doch was im Detail passiert, bleibt ihm verschlossen – er denkt noch immer in den Grenzen der klassischen Physik.
Bis diese Grenzen gesprengt werden, vergehen nochmals einige Jahrzehnte.
Ein romantisches Dinner in luftiger Höhe
Jahrzehnte, in denen sich die Zivilisation radikal verändert: Eisenbahnen beschleunigen den Transport, Telefone revolutionieren die Kommunikation, elektrisches Licht bringt das Nachtleben in den Grossstädten zum Pulsieren.
Auch die Physik wird in dieser Zeit auf den Kopf gestellt: 1900 präsentiert der deutsche Physiker Max Planck seine Theorie der Quantisierung von Strahlungsenergie. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da Planck ursprünglich selbst ein vehementer Verfechter der klassischen Physik war.
Von klein auf werden ihm Tradition, Zuverlässigkeit und Verantwortung eingeimpft. Planck hätte auch Musiker werden können, er spielt diverse Instrumente, singt hervorragend und komponiert sogar Operetten. Doch der pragmatische Junge wählt die sichere Alternative: die Naturwissenschaft.
Planck wird Physiker und befasst sich mit Strahlung. Diese war bis dahin nicht zufriedenstellend charakterisiert worden: Theorie und Experimente widersprachen sich. Planck, der zu dieser Zeit an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin lehrt, bringt sie mit seiner neuen Theorie unter einen Hut.
Sie besagt, dass Strahlungsenergie in einzelnen Einheiten vorkommt: den Quanten. Diese sind wie kleine Pakete, die eine bestimmte Energiemenge enthalten. Wie viel, hängt von der Temperatur der Strahlungsquelle ab. Die Quanten von heissen Sonnenstrahlen enthalten mehr Energie als jene der unsichtbaren Wärmestrahlen, welche die kältere Erde absondert.
Dieser Zusammenhang ist beim Treibhauseffekt zentral. Denn die Moleküle eines bestimmten Gases wie Kohlendioxid nehmen die in Strahlung enthaltene Energie nur auf, wenn diese quantenmässig genau zu ihnen passt:
Bei der Sonnenstrahlung ist dies nicht der Fall – ihre Quanten haben zu viel Energie, sie passt nicht zu den CO2-Molekülen. Diese bleiben im ruhenden Zustand, und die Sonnenstrahlung dringt ungefiltert zur Erde.
Bei der Wärmestrahlung der Erde ist dies der Fall – die Strahlung transportiert genau so viel Energie, dass die CO2-Moleküle zum Vibrieren gebracht werden. Die Moleküle nehmen die Energie der Strahlen auf.
Zwischen den Strahlen und den Molekülen in der Atmosphäre geht es also zu wie bei einem romantischen Dinner: Es funkt, wenn die Wellenlänge stimmt.
Die Romantik währt in der Welt der Quantenphysik allerdings nicht lange. Nach einem Augenblick ist alles vorbei: Die Kohlendioxid-Moleküle geben die absorbierte Strahlung sogleich wieder in alle Richtungen ab.
Doch genau in diesem Augenblick passiert das Wesentliche, das den Treibhauseffekt ausmacht: Das Kohlendioxid in der Atmosphäre nimmt Wärmestrahlen der Erde auf und schickt einen Teil davon postwendend in die umgekehrte Richtung zurück – zur Erdoberfläche, von wo sie herkam.
Und dort erwärmt diese zurückgeschickte Strahlung den Planeten.
Wie stark? Genaue Vorstellungen davon hat die Wissenschaft zu Beginn der industriellen Revolution noch nicht. Doch je mehr Kohle in den Fabriken verbrannt wird, desto bedeutsamer für das Erdklima wird diese Frage.
Der Mond bringt Licht ins Dunkel
Ganz am Ende des 19. Jahrhunderts nimmt sich ihrer ein behäbiger Schwede mit eindrucksvollem Schnurrbart an. Svante Arrhenius will herausfinden, wie sich die Temperatur auf der Erde verändern würde, wenn die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre stiege.
Keine leichte Aufgabe – es gibt noch keine Satelliten, mit denen er dies messen könnte, und auch Laborinstrumente, mit denen die Konzentration des Gases genug präzis variiert werden könnte, stehen nicht zur Verfügung.
Arrhenius’ einfallsreiche Lösung: der Mond.
Wie die Erde, so wird auch der Mond von der Sonne bestrahlt. Dabei wärmt er sich auf und gibt Wärmestrahlung ab. Diese Strahlung ist jener der Erde ähnlich. Ein vergleichbarer Anteil davon bleibt in der Atmosphäre hängen.
Mondstrahlen bieten sich also für die Aufgabe des Schweden an. Und so macht er sich Messungen bei unterschiedlichen Mondhöhen zunutze:
Steht der Mond tief, so ist der Weg durch die Atmosphäre lang. Die Strahlen haben viel Treibhausgas durchquert.
Steht der Mond hoch, ist der Weg durch die Atmosphäre kurz. Die Strahlen haben wenig Treibhausgas durchquert.
Aus dem Unterschied ermittelt Arrhenius das Absorptionsvermögen von Kohlendioxid.
Damit kann der Schwede berechnen, wie sich die Temperatur bei einer Veränderung der Kohlendioxidkonzentration verhalten würde – eine sehr langwierige und penible Arbeit, die ein ganzes Jahr in Anspruch nimmt.
Doch eine willkommene: Zu jener Zeit verlässt ihn seine schwangere Frau Sofia, die er an der Hochschule kennengelernt hatte – sie war dort seine Assistentin gewesen. Nach nur einem Jahr Ehe trennt sie sich von ihm und zieht auf eine Insel vor Stockholm. Aus der Ferne schreibt sie, wie glücklich sie ohne ihn sei, und verbietet Arrhenius, den neugeborenen Sohn zu sehen.
Die Rechnerei ist Ablenkung und Beschäftigungstherapie zugleich. Das Resultat liegt indes im groben Bereich moderner Berechnungen. Arrhenius sagt eine Temperaturerhöhung um etwa 5 Grad Celsius voraus, sollte sich die Konzentration von Kohlendioxid in der Erdatmosphäre verdoppeln.
Dass das Ergebnis aus heutiger Sicht einigermassen realistisch ist, verdankt sich auch dem Zufall. Arrhenius macht viele vereinfachende Annahmen. Doch in der Summe neutralisieren sich die Fehler ziemlich genau.
Und so steht Arrhenius’ Name heute für die erste seriöse Schätzung zu den Folgen, die der Ausstoss von Treibhausgasen dereinst haben könnte.
Die Erkenntnisse geraten in Vergessenheit
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die physikalischen Grundlagen des Treibhauseffekts also bekannt: Gase in der Atmosphäre absorbieren die Wärmeabstrahlung der Erde, schicken die Strahlen zurück und wärmen die Erde dadurch auf. Strahlen und winzige Moleküle erwärmen den Planeten. Und der Mensch: Er könnte mit seinen Abgasen dafür sorgen, dass der Planet so richtig ins Schwitzen gerät.
Doch darüber mag sich zu dieser Zeit noch niemand den Kopf zerbrechen. Die Atmosphäre wird als zu unermesslich betrachtet, als dass der Mensch darauf Einfluss nehmen könnte. Und so geraten die frühen klimatologischen Erkenntnisse in Vergessenheit – für einige weitere Jahrzehnte, in denen die Menschheit enorme technische und wirtschaftliche Fortschritte erzielt.
Ohne zu realisieren, dass der Klimawandel schon Fahrt aufgenommen hat.
Im zweiten Teil unserer Serie erklären wir, wie der globale Temperaturanstieg von der blossen Theorie zur mess- und modellierbaren Realität wurde.
Arian Bastani hat Klimawissenschaften an der ETH Zürich studiert. Er arbeitet als freischaffender Wissenschaftsjournalist und Illustrator.