Das Märchen des unfähigen Staates
Der Staat könne keine digitale Identität herausgeben, findet die Privatwirtschaft. Doch das ist falsch, wie ein Blick auf die EU-Staaten zeigt. Das Volk will mehr Staat – auch in der Schweiz.
Von Adrienne Fichter, 28.05.2019
Bei der Digitalisierung des Staates hinkt die Schweiz Europa hinterher. In E-Government-Rankings liegt sie regelmässig auf den letzten Plätzen. Die Ursache dafür ist schnell ausgemacht: das Fehlen eines einheitlichen digitalen Bürgerkontos, einer sogenannten E-ID, einsetzbar für den Kauf bei Zalando und gleichzeitig für das Melden von Mängeln beim Strassenbelag.
Die Wirtschaftsdachverbände haben deshalb in den Turbogang geschaltet. In ihrem Schlepptau: Bundesrätin Karin Keller-Sutter. «Die Wirtschaft wie auch die Nutzerinnen und Nutzer warten auf eine Lösung», warnt sie. Gemeinsam propagiert wird ein privatisiertes Modell der digitalen Identität. Nicht der Staat, sondern Unternehmen sollen die E-ID entwickeln und anbieten.
Nächsten Dienstag berät der Ständerat das dazugehörige E-ID-Gesetz. Bereits vorgespurt hat der Nationalrat. Die Mehrheit der bürgerlichen Politiker – und auch der Bundesrat selbst – war der Ansicht, die Bundesverwaltung solle nur eine Hintergrundrolle bei der E-ID spielen: Sie solle zwar die Identitäten der Nutzer prüfen, aber keine eigene Schnittstelle zu den Bürgerinnen einrichten. Nur die Privatwirtschaft sei imstande, robuste und sichere Technologien zu entwickeln, hiess es: Der Staat sei unfähig in der Informatik.
Gerne verweist die Wirtschaftslobby – allen voran der Hauptakteur Swiss Sign Group, ein Konsortium von Banken und Versicherungen – dabei auch aufs Ausland. Die wirklich erfolgreichen E-Identity-Initiativen seien allesamt von privaten Firmen vorangetrieben worden, versichert sie dem Publikum.
Doch diese Darstellung ist falsch.
Unsere Nachforschungen zeigen: Die Schweiz ist mit ihrem aktuellen E-ID-Gesetz nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Beinahe alle EU-Staaten setzen neben privaten auch auf staatliche Lösungen. Dies vor allem wegen der höheren Akzeptanz: Bürgerinnen sollen sich bei der digitalen Identität nicht auf Sachbearbeiter eines E-Commerce-Unternehmens verlassen müssen, sondern auch den guten alten Beamtenschalter vorziehen können.
Die aktuelle Situation in Europa
Das staatliche Angebot in Österreich ist die sogenannte Bürgerkarte. 2003 hat der östliche Nachbarstaat sein E-ID-Produkt lanciert und wurde damit Pionier für E-Government. Am Anfang harzte es mit der Verbreitung, doch mittlerweile wurde die Bürgerkarte um die Handysignatur erweitert. Herausgegeben wird die Karte von einer öffentlichen Bestätigungsstelle, angesiedelt beim Finanzministerium.
Belgien gehört zu den E-Identität-Pionieren in Europa. Die Politik hat die E-ID lange Zeit zur Staatsaufgabe erklärt. Vertrieb und Prüfung erfolgen durch Beamte. Erst in jüngster Zeit hat sich mit itsme eine Bankenlösung etabliert. Auch in Portugal und Spanien war der Staat der Treiber mit der elektronischen Karte, für das Smartphone wurden mobile Varianten entwickelt.
Deutschland war 2010 eines der ersten Länder, die den elektronischen Personalausweis ausgeführt haben. Die Karte mit elektronischem Chip fand erst nur wenig Verbreitung, mit der AusweisApp2 wurde nun erfolgreich die mobile Verbreitung forciert. In den letzten Jahren gesellten sich private ID-Lösungen von Verimi und der Post dazu.
In Frankreich hat eine E-ID generell einen schweren Stand. Mehrere Anläufe auf nationaler Ebene sind gescheitert. Der französische Verfassungsrat hat eine Initiative dazu verworfen: Staatliche Dienstleistungen sollen nicht mit kommerziellen Zwecken verbunden sein. In Frankreich ist die Privatsphäre unantastbar. Die französische Datenschutzbehörde CNIL, eine sehr einflussreiche Institution, hat sich gegen diese Verknüpfung ausgesprochen. Der Konsens in Frankreich heisst: E-ID ja, aber ohne die Privatwirtschaft. Nun koexistieren private und öffentliche Angebote für verschiedene Sektoren.
Die Schweizer Wirtschaftsverbände berufen sich beim Lobbying jedoch nicht auf Mittel- oder Südeuropa. Sie richten ihren Blick gerne nach Skandinavien.
Etwa nach Schweden und Dänemark. Dort haben die Banken die Nase vorn. Studien erklären das mit dem hohen Vertrauen in die Branche. Den Banken wird eine hohe technologische Kompetenz attestiert, auch während der Finanzkrise hat das Ansehen skandinavischer Banken kaum gelitten. In Dänemark beträgt die Nutzungsquote der NemID (dänische E-ID-Marke) fast 100 Prozent. Der Grund dafür ist allerdings gesetzlicher Zwang: Alle Behördengänge müssen zwingend digital erfolgen.
Die Lehren aus dem Ausland
Zusammengefasst lässt sich sagen: Fast alle Länder setzen beim Thema E-ID auf hybride Modelle, also auf eine Koexistenz von privaten und staatlichen Angeboten. Zurzeit lassen sich 13 EU-Staaten ihre elektronischen Identifizierungssysteme gemäss der neuen eIDAS-Verordnung der EU zertifizieren. Die meisten davon mit ihren staatlichen E-ID-Lösungen.
Unter allen Ländern sind Dänemark, Italien und England die einzigen mit einem vergleichbar privatisierten Modell wie die Schweiz (wobei auch in Italien eine staatliche Alternative existiert). Doch auch das dänische Beispiel lässt sich nicht eins zu eins auf die Schweiz übertragen, handelt es sich doch um eine konzessionierte Private Public Partnership im Auftrag des Staats: Die Herausgabe der sogenannten NemID wird regelmässig ausgeschrieben.
Das jetzige E-ID-Gesetz in der Schweiz ist hingegen so formuliert, dass sich auf dem Papier jedes Unternehmen dafür qualifizieren kann. De facto wird aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen aber ein Pseudowettbewerb resultieren, der früher oder später in ein Monopol des Konsortiums Swiss Sign münden wird.
Der Fall Dänemark zeigt zudem: Wenn Hoheitsaufgaben der Finanzindustrie überlassen werden, besteht immer ein Restrisiko. So wurde das Bankenkonsortium Nets, das den Zuschlag für die NemID erhielt, vor fünf Jahren von amerikanischen Investoren gekauft. Das Konsortium wurde aufgelöst, der Vertrag lief aus. Die Ausschreibung musste wieder von neuem beginnen.
Aus vergleichenden Länderstudien und Untersuchungen geht hervor, dass die Akzeptanz und die Verbreitung einer öffentlichen E-ID stark von kulturellen Faktoren abhängen. In Ländern mit einem hohen Bewusstsein für die Privatsphäre, mit einer langjährigen Identitätskarten-Tradition und hohem Vertrauen in den Staat haben sich staatliche Lösungen etabliert.
Die Schweiz erfüllt alle drei der genannten Kriterien. Es ist daher fragwürdig, dass es hierzulande keine staatliche Anlaufstelle geben soll.
Schweizer wollen keine private E-ID
Zumal eine überwältigende Mehrheit eine solche Stelle befürwortet. So geben in einer gestern veröffentlichten Demoscope-Studie 87 Prozent der Befragten an, der Staat solle die E-ID herausgeben. In Auftrag gegeben wurde die Umfrage vom Verein Public Beta, von der Allianz Digitale Gesellschaft und den Konsumentenschutzverbänden der Deutschschweiz und der Romandie. Gemäss der Studie vertrauen 75 Prozent der befragten Stimmbürger grundsätzlich dem Staat in Sachen Datenschutz. Privatunternehmen vertrauen derweil nur 3 Prozent. Die hiesige E-ID-Politik zielt damit diametral am Volkswillen vorbei.
Alle EU-Staaten, die zu Beginn mit privaten Pionierprojekten operierten, haben später eine staatliche E-ID eingeführt. Das gilt selbst für das Digitalisierungs-Vorzeigeland Estland und für das bankenfreundliche Schweden. Dies aus Gründen der Inklusion und der Niederschwelligkeit: Bürger sollten nicht extra ein Bankkonto bei den Identitätsanbietern eröffnen müssen, um einen Termin beim Standesamt zu beantragen. Und sie sollen bei der E-ID auch auf eine kommerzfreie Variante zurückgreifen können.
Um den Kommerzfaktor streiten sich die Schweizer Parlamentarier. Im E-ID-Gesetz ist unter Artikel 16 Absatz 2 explizit von «Nutzungsprofilen» die Rede, also von Datenspuren, die die herausgebenden Unternehmen zu Geschäftszwecken sammeln und auswerten. Gemäss der jetzigen Fassung dürften diese Bürgerdaten überhaupt nicht ausgewertet werden. Dies hat die Ständeratskommission auf Druck der Zivilgesellschaft zuletzt veranlasst.
Eine laute bürgerliche Minderheit, darunter auch die Ständeräte Andrea Caroni (FDP) und Peter Hegglin (CVP), wird aber nächste Woche versuchen, diesen Passus rund um die Datenkommerzialisierung wieder zu ändern. In einer früheren Variante war lediglich die Weitergabe an Dritte verboten, nicht aber die Datenauswertung durch die Unternehmen selbst. Sollte Artikel 16 wieder verändert werden, könnten Privatunternehmen ein datenbasiertes Geschäftsmodell rund um die E-ID entwickeln.
Der Bundesrat ist auf dem Holzweg
Die Schweiz will die Lancierung eines digitalen Passes – mit Ausnahme der Kantone Zug und Schaffhausen – ganz dem Markt überlassen. Widerstand dagegen kam bisher von Netzaktivisten, von der Linken und von einigen bürgerlichen Politikerinnen wie Doris Fiala (FDP). Sie hatten versucht, einen Passus für eine staatliche Anlaufstelle in den Entwurf zum E-ID-Gesetz einzuschleusen. Vergeblich – der Grundsatzentscheid ist bereits gefallen.
Dabei sind gemäss der aktuellen Demoscope-Umfrage nur gerade 2 Prozent der befragten Bürger der Meinung, dass private Unternehmen die E-ID herausgeben sollen. Dass es für Herrn und Frau Schweizer eine absurde Vorstellung ist, ein Benutzerkonto bei Digitec oder auf der Website von McDonald’s Schweiz anzulegen, nur um ihren Umzug anmelden zu können, interessiert das bürgerlich dominierte Parlament offenbar nicht.
Auch nicht den Bundesrat. Die Landesregierung attestiert sich absurderweise gleich selbst die totale Inkompetenz in Sachen Technologie. «Staatliche Identifizierungsmittel (...) können nicht auf die sich schnell ändernden Bedürfnisse und neuen Technologien reagieren», sagt Karin Keller-Sutter. Und verweist in defätistischer Manier auf die «Erfahrungen im Ausland».
Der Realitätscheck zeigt jedoch ein anderes Bild dieser «Erfahrungen»: Im Inland wie auch im Ausland ist sehr wohl ein Bedürfnis nach staatlicher Einmischung bei der digitalen Identität vorhanden. Die Schweiz wäre mit ihrem privatisierten Modell einmal mehr ein merkwürdiger Sonderfall.