Eine kleine Energiegeschichte
Wie die Schweiz in nur 100 Jahren zum Vielverbraucher fossiler Treibstoffe wurde – und wie sich der Energiehaushalt des Landes in den nächsten Jahrzehnten verändern muss.
Von Simon Schmid, 01.07.2019
Staubsauger, Sportwagen, Stereoanlagen und auf Sommertemperaturen geheizte Wohnungen – im tiefsten Winter: Das 20. Jahrhundert hat den Lebensstandard in Industrieländern auf unglaubliche Weise angehoben.
Wenig bringt dies so deutlich zum Ausdruck wie der Energieverbrauch, der hinter den vielen Errungenschaften in diesem Jahrhundert steht und der die Explosion der Konsummöglichkeiten und Annehmlichkeiten ermöglicht hat.
Zum Beispiel in der Schweiz. 1910, also vor etwas über 100 Jahren, lag der Energieverbrauch bei rund 100 Petajoule. Zur Erklärung: Ein Joule ist die Energiemenge, die nötig ist, um eine Schokoladentafel einen Meter zu heben, und ein Petajoule ist ein Joule mit 15 Nullen hintendran. Also ziemlich viel.
Wenn diese Zahl bereits 1910 ziemlich gross erscheint, dann ist sie für 2017 exorbitant. Der Energieverbrauch beträgt heute über 800 Petajoule. Zum Vergleich: Mit dieser Energiemenge könnte man das gesamte Wasser im Bodensee 1,7 Kilometer weit über die Nordostschweiz hochheben.
Mix der Vergangenheit
Bereits bei einem kleinen Land wie der Schweiz sprechen wir also über gewaltige Grössen. Woher all diese Energie kommt, darüber gibt die folgende Grafik Aufschluss. Sie stammt aus der Gesamtenergiestatistik des Bundes und zeigt den Energiemix der Schweiz im historischen Verlauf.
Fossile Energien wie Kohle, Erdöl und Erdgas sind darauf in Braun-, Rot- und Gelbtönen dargestellt, erneuerbare Energien in Grün. Die Elektrizität (primär aus Wasser- oder Kernkraftwerken) ist blau abgebildet. Man sieht, wie über die Zeit immer mehr Energieträger zum Verbrauchsmix hinzugekommen sind.
Was lernen wir aus der Grafik? Im Rückblick lässt sich die Energiegeschichte der Schweiz über die letzten gut 100 Jahre in drei Phasen einteilen:
1. Das Kohlezeitalter
Der Anbruch dieser Phase reicht über den linken Horizont der obigen Grafik hinaus und liegt im ausgehenden 18. Jahrhundert, also an der Schwelle zur Industrialisierung.
Zuvor hatte die Gesellschaft ihren Energiebedarf vorwiegend mit Holz (zum Heizen), Wasser und Wind (in Mühlen) und Tieren (als Antriebskräfte) gedeckt, also letztlich mit Biomasse und erneuerbaren Energien (wobei die Abholzung bereits ein ernsthaftes Nachschubproblem verursachte).
Mit der Industrialisierung begann die Schweiz, grosse Mengen an Steinkohle zu importieren. Diese lieferte Energie für zahlreiche neue Industriezweige: Blechnereien, Bierbrauereien, Baustoffherstellung, Metallverarbeitung. Die Eisenbahn, eine der bedeutendsten Neuerungen im 19. Jahrhundert, transportierte die Kohle und wurde zugleich durch sie angetrieben.
Als es im Ersten Weltkrieg erstmals zu Lieferengpässen kam (und in der Folge auch der Energieverbrauch einbrach), begann die Schweiz mit dem Bau von Staudämmen zur Stromproduktion. Das erste Wasserwirtschaftsgesetz stammt aus dieser Zeit. Danach wurde die Elektrifizierung der Eisenbahn angegangen, womit sich der Energiemix etwas diversifizierte.
Ein Ende fand das Kohlezeitalter allerdings erst mit dem Zweiten Weltkrieg.
2. Der Ölboom
Bis zu diesem Zeitpunkt war der Energieverbrauch trotz rasanter technischer Entwicklung nicht wesentlich gestiegen – 1939 wurde nur 40 Prozent mehr Energie verbraucht als 1910. Nach 1945 explodierte die Energiewirtschaft jedoch regelrecht. Verantwortlich dafür war ein einziger Rohstoff: Erdöl.
In den Haushalten löste das Erdöl die Kohle als primären Brennstoff ab. Die Zentralheizung wurde zum Standard. Zugleich kam das Automobil auf. Das Land wurde mit Strassen zugepflastert, 1955 wurde bei Luzern das erste Autobahnteilstück eröffnet. Innerhalb von knapp drei Jahrzehnten stieg der Energieverbrauch massiv – um den Faktor sechs, auf über 600 Petajoule.
Auch die Wasserkraft wurde in dieser Zeit ausgebaut. 1965 entstand in Grande Dixence die nach wie vor höchste Staumauer der Schweiz. Angesichts des Ölbooms blieb der Anteil der Elektrizität am Energiemix jedoch relativ klein. 1973 machte sie erst ein Sechstel des Gesamtverbrauchs aus.
1973 war auch das Jahr, in dem es zur Ölkrise kam. Das Datum markiert eine Zäsur und beschliesst die zweite Phase in der Schweizer Energiegeschichte.
3. Die Umschichtung
Öl ist knapp und kann teuer werden – diese Lehre zog man in vielen Ländern, als die arabischen Opec-Staaten 1973 ein erstes Mal den Hahn zudrehten. Das Ereignis wirkte sich auch auf die Energiewirtschaft in der Schweiz aus.
Erstens begann ab diesem Jahr der Verbrauch von Öl als Brennstoff zu sinken. Die Effizienz von Heizungen und die Isolierung von Häusern wurde erstmals zum Thema. Der Bund begann mit der Erarbeitung einer Gesamtenergiekonzeption mit Schwerpunkten auf Sparen, Forschen und Diversifizieren. Man schaute sich nach Alternativen zum Erdöl um – und fand diese im Erdgas, dessen Verbrauch über die nächsten Jahrzehnte stetig hochging.
Zweitens wurde die Stromproduktion noch intensiver vorangetrieben. Beznau, das erste Atomkraftwerk, war bereits 1969 ans Netz gegangen. Bis 1984 folgten weitere Kernkraftwerke in Mühleberg, Gösgen und Leibstadt. So wuchs der Anteil der Elektrizität am hiesigen Energiemix weiter.
Allerdings deckt die Schweiz auch ein halbes Jahrhundert nach der ersten Ölkrise noch immer nur ein Viertel ihres Energiebedarfs mit Strom ab. Der Grund dafür ist, dass die energetische Umschichtung in einem wesentlichen Sektor nicht stattfand: beim Verkehr. Pro Person wurden immer mehr Kilometer gefahren. Benzinmotoren wurden zwar etwas effizienter, doch die Automotoren wurden kräftiger. Benzin blieb das Antriebsmittel der Wahl.
Bis heute ist deshalb der Anteil der Erdöltreibstoffe am Energiemix der Schweiz steigend. Und dies, obwohl der Gesamtenergiebedarf des Landes sich ab der Jahrtausendwende auf einem stabilen Niveau eingependelt hat: bei gut 800 Petajoule, der erwähnten Bodensee-Weltall-Beförderungsmenge.
Mix der Zukunft
Die Jahrzehnte seit dem Ölschock lassen sich im Rückblick somit als Phase begreifen, in denen ein zaghafter Umbau des Energiesystems begonnen hat. Das erste Element dieses Umbaus ist: ein grösserer Fokus auf Effizienz.
Trotz steigender Einwohnerzahlen und wachsender Wirtschaft verbraucht die Schweiz seit der Jahrtausendwende nicht mehr Energie (zumindest auf dem Boden: Der Flugverkehr ist in dieser Bilanz nicht inbegriffen). Diese Entkopplung dürfte sich in den kommenden Jahrzehnten akzentuieren.
Das wird deutlich, wenn man sich die Energieperspektiven 2050 des Bundes ansieht – eine bereits leicht in die Jahre gekommene Prognose aus dem Jahr 2012, die in ihren Grössenordnungen aber nach wie vor aussagekräftig ist.
In dieser Publikation wurden drei politische Szenarien durchgerechnet: «Weiter wie bisher», «Politische Massnahmen», «Neue Energiepolitik». Die drei Szenarien gehen bis im Jahr 2050 davon aus, dass sich der gesamte Energieverbrauch jeweils um gut 20, gut 30 und knapp 50 Prozent gegenüber dem Höhepunkt von 2010 reduziert. Zu diesem Rückgang sollen einerseits der technische Fortschritt und andererseits die Energiepolitik beitragen.
Ebenso wie im 19. und 20. Jahrhundert eine Vielzahl von neuen Industrien den Energieverbrauch in die Höhe schnellen liessen, dürften also im 21. Jahrhundert diverse Effizienzverbesserungen den Verbrauch senken.
Angesprochen sind etwa neue Materialien im Wohnungsbau und energieoptimierte Heiz- und Kühlsysteme, effiziente Leuchtmittel, der Verzicht auf Elektroheizungen oder Prozessoptimierungen in der Industrie. Auch der Umstieg auf die Elektromobilität bringt grosse Energieersparnisse.
Fürs Klima relevant ist jedoch, ob dieses erste Element des Energieumbaus – der sinkende Gesamtverbrauch – am Ende wirklich auch mit dem zweiten Element einhergeht: dem Ausstieg aus fossilen Energien. Hier stellen die letzten Energieperspektiven den Zustand des 2012 politisch denkbaren, nicht aber des für die Zukunft Wünschbaren dar. Selbst im besten Szenario machen Erdöl und Gas noch immer knapp 25 Prozent des Verbrauchs aus.
Was es braucht, damit der fossile Anteil nicht auf ein Viertel fällt, sondern gegen null geht, werden wir im Verlauf des Sommers noch ausleuchten.
In der Zwischenzeit bleibt der historische Blick zurück – und das Fazit, dass es bei der Energie in relativ kurzer Zeit enorme Umwälzungen geben kann. Der Stoffwechsel der Zivilisation verändert sich fortwährend, getrieben durch technische Entwicklungen, aber auch durch bewusste Entscheide der Politik. Die Gewinnung von Energie und der Umgang damit waren schon immer Angelegenheiten, die die Allgemeinheit betrafen – nicht nur das Individuum.
Wir müssen davon ausgehen, dass dies auch in Zukunft so sein wird.
In einer früheren Version des Artikels wurde der Anhub des Bodensees mit 1700 statt 1,7 Kilometer angegeben. Wir entschuldigen uns für den Umrechnungsfehler.
Sie stammen einerseits aus der Gesamtenergiestatistik des Bundes und andererseits aus den Energieperspektiven 2050, die das Büro Prognos 2012 im Auftrag des Bundesamts für Energie erstellt hat. Ein Update soll 2020 publiziert werden. Eine hervorragende Abhandlung zur Energiegeschichte der Schweiz findet sich im Historischen Lexikon der Schweiz.
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