Rechnen wir – aber richtig
Morgen schlägt der Bundesrat vor, wie Psychologinnen ihre Therapien über die Kassen abrechnen dürfen. Das dürfte die Kosten in die Höhe treiben – und das ist richtig so: Denn die Schweiz investiert viel zu wenig in die psychische Gesundheit der Menschen. Die einsame Volkskrankheit, Teil 2/2.
Von Ivo Scherrer, 25.06.2019
In der Politik geht es oft zu und her wie beim Teppichkauf: Wenn alle Komplimente ausgetauscht, alle Tassen leer getrunken und alle Debatten geführt sind, dann geht es ums Geld. Auch der Bundesrat wird über Geld reden, wenn er morgen einen Vorschlag dazu unterbreitet, ob und wie Psychologen ihre Therapien künftig direkt über die Krankenkasse abrechnen dürfen.
Die Sache ist: Wenn wir schon rechnen, dann müssen wir es richtig tun. Und im Falle psychischer Leiden heisst das: Sie sind so weit verbreitet, dass es uns teurer zu stehen kommt, wenn wir sie nicht anpacken. Ja, Psychologinnen direkt abrechnen zu lassen, wird die Kosten steigen lassen. Die Hürden für Psychotherapien nicht zu senken, kostet allerdings ein Vielfaches mehr – völlig abgesehen von jenem Leid, das sich nie in Zahlen ausdrücken lassen wird.
Rechnen wir also. Aber tun wir es richtig.
Eine Vielfalt an Krankheitsbildern
Die Weltgesundheitsorganisation beschreibt die Depression – wie das der chronisch depressive Winston Churchill tat – als «schwarzen Hund». Spricht man mit Betroffenen, zeigt sich: Jede Krankheit ist anders, jede Lebensgeschichte neu, jeder Körper einzigartig. Um mit dieser Vielfalt an Krankheitsbildern zurechtzukommen, bräuchte es im besten Fall eine ebenso breite Vielfalt an Interventionen. Dabei geht es nicht darum, dass uns Psychiaterinnen und Psychologen jegliche emotionalen Probleme abnehmen sollen. Schmerz und Leid gehören zum Leben. Wir wollen nicht jedes Problem pathologisieren und jede negative Gefühlsregung mit Medikamenten unterbinden. Doch manchmal sind wir auf gezielte professionelle Unterstützung angewiesen.
Oft würde uns eine Psychotherapie helfen – zum Beispiel eine kognitive Verhaltenstherapie, wie ich sie einst absolviert habe –, eine systemische Therapie, eine Psychoanalyse oder eine Therapie, die verschiedene Ansätze kombiniert. Dass Psychotherapien im Durchschnitt wirksam sind, hat eine gross angelegte Meta-Studie gezeigt. In vielen Fällen bedarf es ärztlicher Unterstützung, da psychische Krankheiten oft eng mit körperlichen Leiden wie chronischen Schmerzen verzahnt sind. Manchmal ist auch der Einsatz von Psychopharmaka gefragt, um Ängste zu zähmen und die Gedanken zu befreien. Und teilweise wird praktische Hilfe im Umgang mit alltäglichen Aufgaben benötigt, die Erkrankte plötzlich nicht mehr bewältigen können. Dann kommt zum Beispiel die psychosoziale Pflege der Spitex zum Einsatz.
Kurz: Verschiedene Experten müssen zusammenarbeiten, um eine gute psychische Versorgung sicherzustellen. Hausärztinnen, Psychiater und Psychologinnen und Pfleger müssen dabei in enger Zusammenarbeit ihre jeweiligen Fähigkeiten zum Einsatz bringen. Psychiaterinnen kombinieren Fachwissen über körperliche und psychische Erkrankungen und sind in Psychopharmakologie sowie Psychotherapie ausgebildet. Psychologische Psychotherapeuten bringen viel Erfahrung mit Therapie und psychologischer Diagnostik mit – sie haben ein fünfjähriges Psychologiestudium und eine mindestens vierjährige Zusatzausbildung in Psychotherapie hinter sich. Hausärztinnen wiederum haben das breiteste medizinische Wissen und bekommen es oft früh mit, wenn Patienten leiden. Einige sind zusätzlich in psychosomatischer und psychosozialer Medizin oder in delegierter Psychotherapie ausgebildet.
Die zentrale Frage ist nun: Mit welcher Arbeitsteilung kann das Wohl der Patienten am besten gesichert werden?
Mögliche Modelle
Im heute geltenden Delegationsmodell arbeiten psychologische Psychotherapeutinnen in einem engen regulatorischen Korsett. Um über die Krankenkasse abrechnen zu können, muss ein Psychologe in der Praxis einer Psychiaterin angestellt sein und unter ihrer Aufsicht arbeiten. Die Regel ist historisch gewachsen – und sie hält ein sehr gefragtes Gut, eine solide Psychotherapie, knapp. Denn es gibt nicht genügend Psychiater, die delegieren wollen.
Viele Psychologinnen fühlen sich dabei zu Handlangern der Psychiater degradiert. Weshalb sie einen Wechsel zum sogenannten Anordnungsmodell fordern, in dem Psychologen – analog zu Physiotherapeutinnen – ihre Therapien selbstständig erbringen und abrechnen könnten, sofern diese von einem Arzt verordnet werden. Psychologinnen müssten dann nicht mehr zwingend bei Psychiatern arbeiten und könnten Patientinnen direkt behandeln.
Zwei Parameter wären in einem Anordnungsmodell zentral: erstens die Frage, welche Ärzte befugt wären, eine Psychotherapie bei Psychologinnen anzuordnen. Und zweitens, wie viele Therapiesitzungen mit einer Anordnung verschrieben werden könnten. Auf diese Fragen wird wohl der für morgen erwartete Vorschlag des Bundesrats eingehen.
Mit Blick auf ein mögliches Anordnungsmodell stellt sich nun die Frage der cleveren Arbeitsteilung zwischen Psychiaterinnen, psychologischen Psychotherapeuten und Hausärztinnen. In einem Anordnungsmodell könnte eine solche Koordination – rein zur Illustration – etwa wie folgt ausschauen:
Spezialistenmodell: Die Anordnung der Psychotherapie wäre Sache von Psychiatern und Hausärztinnen mit relevanter Zusatzausbildung in psychischer Versorgung. Dies könnte den vorteilhaften Effekt mit sich bringen, dass mehr Hausärzte eine solche Zusatzausbildung absolvieren.
Interdisziplinäres Praxismodell: Anordnung der Psychotherapie durch Psychiaterinnen sowie durch Hausärzte, die in Gemeinschaftspraxen mit Psychiatern arbeiten. Dies könnte Anreize für die Herausbildung weiterer interdisziplinärer Praxen geben, in denen neben Augenärztinnen und Orthopäden auch Psychiaterinnen und Psychotherapeuten arbeiten. Damit würde eine unkomplizierte Koordination bei komplexen Fällen vereinfacht.
Hausarztmodell: Anordnung der Psychotherapie durch alle Hausärztinnen, die bei Bedarf einen Psychiater ihres Vertrauens hinzuziehen.
Unabhängig davon, wie ein Anordnungsmodell genau ausgestaltet werden könnte, gibt es fundamentalen Widerstand dagegen. Erich Seifritz, Präsident der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärztinnen und Chefärzte, hält das vorgeschlagene Modell gar für «eine grosse Gefahr für die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz». Er befürchtet, dass der Psychiatrietarif weiter sinken und so der bereits heute starke Nachwuchsmangel weiter verschärft würde. (Dies vor dem Hintergrund, dass Psychiaterinnen unter allen Ärzten am wenigsten verdienen und sich gleichzeitig gegen Tarifsenkungen wehren müssen.) Zudem warnt Seifritz, dass sich die Versorgung für schwer kranke Patienten verschlechtern könnte, wenn sich die Aufmerksamkeit zu leichteren Fällen verschieben würde, wie dies in Deutschland geschehen sei. Und auch er glaubt, dass die Kosten «explodieren» würden, weil viel mehr Menschen eine Therapie in Anspruch nähmen. Wie Seifritz lässt auch der Bundesrat immer wieder durchblicken, dass er sich primär vor «unnötiger Mengenausweitung» und höheren Kosten fürchtet.
Nun also: Rechnen wir. Aber wie gesagt: Tun wir es richtig.
Von Kosten und Investitionen
Was ist vom Argument der Kostenexplosion zu halten? In einem Anordnungsmodell wären auf jeden Fall zwei Effekte zu erwarten:
Die Kosten für die heute in vielen Fällen privat bezahlte Psychotherapie würden in die Grundversicherung verlagert. 2012 betrug die Summe dafür knapp 120 Millionen Franken. Dies entspricht knapp 0,4 Prozent des jährlichen Budgets der obligatorischen Krankenkasse von knapp 32 Milliarden Franken.
Zusätzliche Psychotherapiestunden für Patienten, die sich heute noch nicht behandeln lassen, führten ebenfalls zu höheren Kosten.
Eine Mengenausweitung der Psychotherapie – vorausgesetzt, die Qualität der Therapien stimmt – ist genau das, was wir brauchen. Und dies wird natürlich kosten. Nun stellt sich die Frage: Wie stehen diese Kosten im Verhältnis zu ihrem Nutzen?
Die OECD schätzt die jährlichen volkswirtschaftlichen Kosten von psychischen Krankheiten und ihren Folgen in der Schweiz auf etwas über 21 Milliarden Franken im Jahr. Darin enthalten sind die Behandlungskosten im Gesundheitssystem (5,8 Milliarden Franken), die Kosten, die auf die Sozialwerke (IV, ALV) abgewälzt werden (7 Milliarden Franken), sowie die negativen Effekte auf den Arbeitsmarkt (knapp 9 Milliarden Franken), die sich daraus ergeben, dass Erkrankte weniger produktiv sind oder deutlich weniger arbeiten können, als sie gerne würden.
Diese Rechnung ist ökonomisch sauber, mag aber zynisch wirken: Nur wirtschaftliche Kosten werden dabei veranschlagt. Doch Menschen sind Menschen und nicht bloss Humankapital, das doch bitte das BIP ankurbeln und Steuern zahlen möge. So ist die Schätzung viel, viel zu tief, da das eigentliche Leiden keinen Platz darin findet: der Schmerz etwa, der so tief geht, dass jedes Jahr – konservativ geschätzt – rund 10’000 Menschen im Land versuchen, sich das Leben zu nehmen. Oder auch der Schmerz ihrer Angehörigen, Arbeitskollegen, Chefinnen, Nachbarn, Lehrerinnen, Sportkameraden.
Die von der OECD veranschlagten 21 Milliarden Franken sind also eine äusserst konservative Schätzung. Und ihr stehen 2 Milliarden Franken gegenüber, die jährlich aus dem Topf der obligatorischen Krankenkassen in die ambulante und stationäre psychische Versorgung fliessen. Das ist nicht mal ein Zehntel.
Um die Diskrepanz zwischen Kosten und Investitionen zu verdeutlichen, versuchen wir uns in einer weiteren einfachen Rechenübung. Die volkswirtschaftlichen Kosten einer schweren Depression werden für den Kanton Zürich auf 53’000 Franken geschätzt (nach gleichem Muster berechnet wie von der OECD oben). Für dasselbe Geld könnte eine Betroffene über 250 Sitzungen bei einem Therapeuten besuchen, also etwa fünf Jahre lang jede Woche eine. Eine durchschnittliche Therapie dauert hingegen gerade einmal 30 bis 35 Sitzungen – mit Kosten von rund 4500 bis 6000 Franken. Selbst wenn Therapeutinnen also nicht jedem Menschen eine schwerwiegendere Erkrankung ersparen können, lohnt sich der Versuch allemal.
Blickt man auf das grosse Ganze, müssen auch nüchterne Rechner zum Schluss kommen: Mehr in die psychische Gesundheit zu investieren, ist nicht nur aus Gründen des Mitgefühls angezeigt – es wäre auch eine überaus lohnenswerte Investition.
Wie also weiter?
Das ist eine Diskussion, die gerade erst begonnen hat. Wir brauchen einen offeneren Umgang mit psychischen Leiden. Viel mehr Aufklärungsarbeit und niederschwellige Beratung. Mehr Anerkennung für die wichtige Arbeit, die Spezialistinnen in diesem Bereich leisten.
Dazu gehört, nicht nur Psychologen selbstständiger arbeiten zu lassen, sondern auch die Psychiaterinnen besserzustellen, welche unter den Ärzten schon heute am wenigsten verdienen, sich trotzdem gegen Tarifkürzungen wehren müssen und innerhalb der Ärzteschaft ein tiefes Ansehen geniessen. Mit Blick in die Zukunft sind wohl auch besser vernetzte Ausbildungen gefragt, die Körper und Psyche nicht getrennt betrachten.
Wollen wir den Bann psychischer Krankheiten brechen, können wir aber nicht die ganze Arbeit an Psychologinnen und Psychiater delegieren. So sollten wir uns etwa fragen, welche gesellschaftlichen Umstände psychische Leiden befördern. Welche Rolle zum Beispiel Leistungsdruck und unrealistische Erwartungen ans romantische und private Leben spielen. Wir sollten uns ebenfalls der Frage widmen, wie wir jenseits von psychologischen Notfällen unsere individuelle Fähigkeit verbessern können, mit den Unwegsamkeiten des Lebens zurechtzukommen.
Zuallererst aber braucht es das Eingeständnis, dass wir es hier mit Volkskrankheiten zu tun haben, die nicht einfach verschwinden werden, wenn wir zu sparen versuchen. Und dass es sich lohnt, weiter nach Lösungen zu suchen – unabhängig davon, was der Bundesrat morgen vorschlägt.
Teil 1/2: Die einsame Volkskrankheit
Lesen Sie im ersten Teil, wie viele Menschen tatsächlich an psychischen Krankheiten leiden, wie wenig darüber bekannt ist und wie schwierig es für Betroffene ist, eine Therapiemöglichkeit zu finden. Den Beitrag finden Sie hier.
Ivo Scherrer ist selbstständiger Analyst und Autor. Er ist Mitgründer der Thinktanks foraus – Forum Aussenpolitik (Schweiz) und Argo (Frankreich) sowie der politischen Bewegung Operation Libero.