«Eine abstinente Gesellschaft ist eine Illusion»
Im Februar präsentiert die Eidgenössische Kommission für Suchtfragen Vorschläge, wie die Schweiz in Zukunft mit Drogen umgehen soll. Der Bericht ist noch in Arbeit. Im Gespräch mit der Republik legt Präsident Toni Berthel seine persönliche Sicht dar. «Let’s Talk About Drugs», Teil 5.
Interview von Daniel Ryser und Yves Bachmann (Bilder), 07.12.2018
Herr Berthel, erfahrene Suchtpsychiater sind fast einhellig der Meinung, dass die Schweizer Drogenpolitik mehr Schaden anrichtet, als dass sie nützt. Dass das Schadenpotenzial von Substanzen übertrieben wird und wir Drogen regulieren sollten: für sauberen Stoff, für einen funktionierenden Jugendschutz, für mehr Mittel zur Prävention und um den Schwarzmarkt auszuschalten. Teilen Sie die Meinung Ihrer Kollegen?
Es ist ein Fakt, dass ein überwiegender Teil der Suchtmediziner die Haltung vertritt, dass wir in der Drogenpolitik vorwärtsmachen müssen. Ich teile diese Haltung. Während der schrecklichen Heroin- und HIV-Welle Anfang der Achtziger war ich in Zürich als Arzt auf der Gasse unterwegs. Ich spritzte jungen Leuten, die auf offener Strasse zusammenbrachen, Gegenmittel. Wenn es nicht zu spät war. Oder behandelte im Gefängnis Entzugserscheinungen.
Wie hat Sie diese Zeit geprägt?
Damals habe ich wichtige Dinge gelernt. Zum Beispiel, dass kein Weg an der Schadenminderung vorbeiführt. Dass der paternalistische Ansatz, der auf eine abstinente Gesellschaft abzielt, eine Illusion ist. Und dass Repression allein ein derart komplexes Thema niemals wird lösen können und auch nicht allein lösen soll. Denn, und das ist das vielleicht Wichtigste, was ich als Suchtarzt gelernt habe: Wir begehen als Gesellschaft einen grossen Fehler, wenn wir Drogen vor allem unter pathologischen Aspekten betrachten.
Wie meinen Sie das?
Man hat eben auch erkannt, dass der Rausch zu unserer Kultur gehört und psychoaktive Substanzen grundsätzlich wegen ihrer positiven Wirkungen konsumiert werden. Und dass eine grosse Mehrzahl der Konsumenten diese Substanzen ohne Probleme konsumieren kann. Wir mussten lernen, dass wir eine Gesellschaft sind, die sich im ständigen Wandel befindet. Und dass Drogen letztlich mit Moden einhergehen. 1968 hat uns nicht nur eine neue Kultur, neue Musik beschert, sondern auch Substanzen wie Cannabis oder LSD populär gemacht. Später, mit dem Techno, kamen MDMA und Ecstasy hinzu. Substanzen, deren Schadenpotenzial allesamt geringer ist als jenes von Alkohol, die aber trotzdem bis heute verboten sind.
Serie «Let’s Talk About Drugs»
Wie könnte man in der Drogenpolitik – analog zur regulierten Heroin-Abgabe zu Beginn der Neunziger – Fortschritte erzielen, die der organisierten Kriminalität schaden und Konsumenten sauberen Stoff garantieren? Über solche Fragen sprechen wir mit Fachleuten in der Schweiz und den USA.
Teil 3
Carl Hart, Abhängigkeitsforscher
Teil 4
Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel, Betäubungsmittelgesetz-Experten
Sie lesen: Teil 5
Toni Berthel, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen
Teil 6
Andrea Caroni, FDP-Ständerat
Schluss
Jessica Jurassica, Bloggerin
Warum ist das so?
Wir dämonisieren, was wir nicht kennen. Das betrifft nicht nur neue Bewegungen oder neue Musik, sondern auch neue Drogen. Wir begegnen dem Fremden mit Angst und Abwehr. Das ist es, was letztlich zur sehr schädlichen Pathologisierung der Drogen führt. Denn aus einer medizinischen Perspektive ergibt diese wenig Sinn.
Für diese Serie sprachen wir mit einem führenden Abhängigkeitsforscher, dem Columbia-Professor Carl Hart. Er sagt, die Forschung belege, dass man jede Droge verantwortungsvoll konsumieren könne. Bei der Verbotspolitik hätten medizinische Aspekte nie eine Rolle gespielt. Was sagen Sie dazu?
Wir haben in der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen 2015 ein Buch herausgegeben zur Frage der Gefährlichkeit von Substanzen. Aus medizinischer Perspektive ist es tatsächlich heikel zu sagen, welche Substanz gefährlicher ist. Und genau um diese Fragen dreht sich das Buch: Sind Drogen gefährlich? Gibt es eine Substanz, die gefährlicher ist als andere? Es zeigt, dass man soziale und gesellschaftliche Überlegungen in die Diskussion einbeziehen muss.
Und? Sind Drogen gefährlich?
Carl Hart hat recht, wenn er sagt, dass die Verbotspolitik willkürlich ist. Eine Substanz ist weder gut noch böse. Sie ist einfach eine Substanz. Man kann sie konsumieren. Sie hat eine gewisse Wirkung, doch durch einmaligen Konsum wird niemand abhängig. Über eine Substanz allein kann man diese Frage also nicht beantworten. Es geht letztlich immer um die Interaktion zwischen einem Individuum und einer Substanz, um die Konsumform. Die Art und Weise, wer welche Substanz auf welche Art konsumiert, kann zu Problemen führen. Das geschieht aber in den meisten Fällen nicht. Weil es eben vor allem auf den Kontext ankommt: Wo und wie konsumiert man eine Substanz? Was konsumiert man und in welcher Dosis? Und auch: Wer konsumiert?
Worauf kommt es bei den Konsumenten an?
Es gibt Menschen, die aufgrund einer schwierigen Geschichte anfälliger sind auf Suchtentwicklungen, die vulnerabler sind als andere. Es spielt auch eine Rolle, in welchem Alter man mit dem Konsum beginnt: Je jünger man ist, desto grösser ist das Risiko, dass man Probleme bekommt. Wenn man zu konsumieren beginnt, bevor man gelernt hat, die Welt mit eigenem Handeln zu modulieren, ist die Gefahr grösser, in eine Abhängigkeit zu geraten.
Können Sie das ausführen?
Wie ich bereits sagte: Letztlich ist der Kontext entscheidend. Und es ist eine klare Minderheit, die abhängig wird. Jede Substanz hat eine Wirkung, die als mehr oder weniger positiv erlebt werden kann. Wenn die Wirkung als sehr positiv erlebt wird, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass man sie irgendwann wieder konsumiert. Doch egal, wie positiv das Erlebte ist: Wer eine Substanz zur Erholung vom Alltag konsumiert, so wie das die meisten Menschen tun, wird ein geringes Risiko tragen, in eine Abhängigkeit zu geraten. Grundsätzlich kann man sagen, dass immer dort, wo die Substanz eine andere Funktion bekommt, sich das Risiko für eine Abhängigkeit stark vergrössert.
Was bedeutet das, wenn eine Substanz eine andere Funktion bekommt?
Wenn ein Schmerzmittel, ein Opioid zum Beispiel, von jemandem primär zur seelischen Stabilisierung benutzt wird, gegen Angst oder Depression, dann führt sich diese Person etwas zu, das sie in einer schwierigen Situation stabilisiert. Hier geht es nicht um Erholung, sondern um Linderung von Schmerz, zum Beispiel eines seelischen Schmerzes. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit enorm, dass die Person es bald wieder konsumiert.
Wie begründet sich in diesem Verbotsdiskurs eigentlich die Ausnahmestellung des Alkohols?
Alkohol ist eine Substanz, die in unserer Kultur seit Jahrhunderten konsumiert wird und die heute verschiedene Funktionen hat. Er ist ein Nahrungsmittel, um Kalorien zu konservieren. Er ist ein Genussmittel. Er ist ein Rauschmittel. Und er ist ein Suchtmittel. Dass Alkohol in unserer Kultur eine klare Funktion bekommen hat, ist eine gewachsene Geschichte mit klaren Ritualen und gesellschaftlichen Praktiken. Im Mittelalter trank man Wein, weil das Wasser in den Städten nicht sauber war und man mit Alkohol Bakterien abtöten kann. Wenn man Weltmeister wird, wird der Trainer mit Champagner übergossen. Bis hin zum Wein als Symbol für das Blut Christi.
Und wie verhält es sich mit den neuen Drogen?
Drogen, die neu aufkommen, sind in einer Gesellschaft zuerst einmal etwas Fremdes, das Angst macht. Angst muss man abwehren. Das lässt sich historisch aufzeigen. Sogar Kaffee war anfangs in England verboten. Denn damals, im 17. Jahrhundert, haben sich die jungen Leute in den Kaffeehäusern getroffen und diskutiert, und bald wurden die Kaffeehäuser als Ort betrachtet, wo aufrührerische Gedanken gefasst werden.
Es geht also um Angst?
Ja, darum geht es. Eine Gesellschaft, die sich bewegen will, muss Spannungen aushalten und Entwicklungen zulassen. Stattdessen reagiert man auf neue Substanzen, indem man alles Böse in sie hineinprojiziert. Verstärkt wird das noch durch den Umstand, dass Drogen zu Bewusstseinsveränderungen führen können, zum Rausch, zu Grenzüberschreitungen. Das macht sehr viel Angst. Um den Konsum zu rechtfertigen, wird er dann oft kulturell ritualisiert wie etwa bei Ayahuasca oder beim Alkohol. Auf der einen Seite also hat man neue Substanzen wie Ecstasy und MDMA, die durch Techno populär geworden sind. Auf der anderen Seite hat man das Betäubungsmittelgesetz, das Anfang des letzten Jahrhunderts verfasst und seither immer verschärft wurde, aber letztlich immer aufgrund von Ängsten, nicht aufgrund sozialer, ethischer oder medizinischer Aspekte. Nehmen Sie Ecstasy: Es ergibt keinen Sinn, dass diese Substanz verboten ist. Sie macht kaum abhängig, was eigentlich der entscheidende Faktor ist bei der Beurteilung, ob eine Substanz dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt wird oder nicht.
Was ist schiefgelaufen?
Man hat es verpasst, zu dieser Substanz einen pragmatischen Umgang zu finden: Da taucht Anfang der Neunziger ein neues Phänomen auf, das schliesslich mit der Street Parade zum grössten touristischen Aushängeschild Zürichs wird: Techno. Das Mitschwingen in einer Masse, der Rhythmus, der ekstatisch ist, das Gefühl der Grenzüberschreitung mit Substanzen wie Ecstasy und MDMA. Man hat dieses immer grösser werdende Phänomen, zu dem diese Substanzen gehören. Doch statt einen konstruktiven Umgang damit zu finden, verdrängt man einen Teil des Phänomens. Weil es der Politik nicht gelingt, bei diesem Thema pragmatisch zu bleiben. Immer wird hyperventiliert.
Wie meinen Sie das?
Wir verfallen immer in die Entweder-oder-Position. Dabei wäre die Frage einfach: Wie können wir als Gesellschaft lernen, mit solchen Substanzen umzugehen? Das Ziel ist ja nicht, dass wir mehr Drogen konsumieren. Es geht nicht darum, den Konsum zu propagieren. Ziel ist es, einen Umgang zu finden mit der Tatsache, dass viele Menschen diese Substanzen konsumieren.
Was sind die Folgen der Verbotspolitik?
Dass ein Verbot das Problem nicht minimiert, sondern verstärkt, ist erwiesen. Wir verdrängen den Konsum in ungeschützte Räume und setzen die Menschen so erheblichen Gesundheitsrisiken aus. Wir schaffen organisierte Kriminalität, wir schaffen im schlimmsten Fall eine massive Kriminalität im öffentlichen Raum, wie damals, als das Heroin auf der Gasse 800 Franken pro Gramm kostete. Den Jugendschutz können wir in keiner Weise sicherstellen, wir können nicht gewährleisten, dass die Substanzen sauber sind. Wir können einfach gar nichts. Gleichzeitig ist der Konsum eine kulturelle Praxis, das Phänomen, sich zu berauschen, gehört zum Menschsein. Und genau deshalb ist es auch nicht möglich, den Konsum einfach zu verbieten.
Was schlagen Sie stattdessen vor?
Den Weg der Schadenminderung kann man nur konsequent gehen, wenn man Substanzen reguliert. Und dafür muss die juristische Beurteilung dieser Substanzen geändert werden. Dass Substanzen wie LSD und Ecstasy, die nicht abhängig machen oder ein geringes Schadenpotenzial haben, verboten sind, und Alkohol, der durchaus abhängig machen kann, legal ist, ist letztlich ein gutes Beispiel dafür, dass die Verbotspolitik nicht schlüssig ist. Und das ist letztlich das Problem der ganzen Geschichte. Der Punkt, warum das Verbot nicht funktioniert: Es entstammt keiner inneren Logik.
Und wie begründen Sie als Präsident der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen den Sinn einer Regulierung von Drogen?
Der Staat bewegt sich in einem Spannungsfeld. Einerseits ist er einem fürsorgerischen Ansatz verpflichtet. Er muss sich um die Menschen kümmern. Andererseits stehen wir in einer humanistisch-freiheitlichen Tradition, derzufolge sich das Individuum frei entfalten soll, solange es andere damit nicht belästigt, ihnen keinen Schaden zufügt. In diesem Spannungsfeld müssen wir ständig neu definieren, wo wir stehen und wie wir es machen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die Drogenpolitik: Regulierungsmodelle sind letztlich der Kompromiss zwischen totaler Freiheit, welche die Fürsorgepflicht verletzt, und einer zu strengen Fürsorge mit Verboten, welche die Freiheit einschränkt. Deswegen müssen Drogen reguliert werden.
Der Suchtpsychiater Thilo Beck sagt, der Staat trage die Verantwortung dafür, dass die Menschen saubere Substanzen konsumieren könnten.
Das stimmt. Ich würde aber nicht so weit gehen zu sagen, dass der Staat die Substanzen produzieren, verkaufen und abgeben muss. In einem ersten Schritt müsste man den Umgang mit den Substanzen juristisch neu beurteilen, damit man sie überhaupt konsumieren und auch herstellen kann. Dann stellt sich die Frage, wer die Substanzen produziert. Der Staat könnte sich darauf beschränken, die notwendigen Steuerungsinstrumente einzuführen und sicherzustellen, dass die Produzenten sauberen Stoff liefern. Wie beim Bier, wo das Reinheitsgebot besagt, was drin sein darf und was nicht. Dann stellt sich die nächste Frage: Wer kontrolliert die Reinheit, den Handel, den Vertrieb? Der Staat selbst? Oder vergibt er Aufträge? Wie bei der Abgaskontrolle, wo die Garagisten zuständig sind?
«Wie bei der Abgaskontrolle» – wenn ich Ihre Worte richtig verstehe: Sie plädieren in erster Linie für einen ganz sachlichen Umgang mit Drogen.
Letztlich plädiere ich für eine Normalisierung. Das hiesse, dass die heute illegalen Substanzen als den legalen gleichwertig betrachtet würden. Ein nüchterner Blick hiesse aber auch, dass es für verschiedene Substanzen verschiedene Regulierungsmodelle braucht, dass man sich nicht von einem verbotenen Markt in eine freie Marktwirtschaft hineinbewegen kann.
Warum kann man das nicht?
Weil dann Mechanismen aktiv würden, die eine Maximierung des Kapitals bedeuteten. Darum darf es nicht gehen. Wenn wir von Regulierung sprechen, geht es nicht um eine Kapitalisierung, sondern darum, den Zugang zu den Substanzen so zu regulieren, dass die Leute wissen, was sie konsumieren, dass die Substanzen sauber sind, dass sie keinen unnötigen Risiken ausgesetzt sind und dass Dritte geschützt werden. Der Staat muss dafür den Rahmen liefern. Ein maximal kapitalistischer Umgang mit Substanzen würde der anderen Aufgabe des Staates, dem Fürsorgeaspekt, entgegenstehen und stünde zu ihr im Widerspruch. Wir haben schliesslich auch eine soziale Tradition, nicht nur eine liberale. Wir gehen fürsorglich mit Menschen um. Der Schwarzmarkt, das Verbot, hat aber genau zu einer solchen maximalen Marktsituation, zu einem maximalen marktwirtschaftlichen System im Umgang mit Drogen geführt. Mit den in der Schweiz bekannten Folgen: dem Verdrängen der Konsumenten in den Untergrund sowie einem unglaublichen Anstieg von HIV-Infizierungen und der Kriminalität in den Achtzigern und Anfang der Neunziger. Die Repression konnte der damaligen Situation nicht entgegenwirken. Es brauchte eine Vernetzung mit Prävention und Substitution – die Schadenminderung. Aber wir sind auf halbem Weg stecken geblieben.
Warum geht es nicht weiter?
Anfang der Neunziger stand die Drogenpolitik im Sorgenbarometer der Bevölkerung zuoberst. Heute ist sie gänzlich aus diesen Statistiken verschwunden. Das ist eine Folge der Schadenminderung. Die Sorge, das tatsächliche Elend, das man gesehen hat in Zürich, in Olten, in Basel, in Bern, hat die Leute sehr bewegt. In allen Regionen des Landes sind Kinder abgestürzt, viele sind gestorben. Man sah, dass man handeln musste. Man musste sich die Frage stellen, die auch heute zwingend nötig wäre: Wie finden wir einen Umgang mit einem Problem? Damals fand in der Schweiz ein riesiger Kulturwandel statt. Man bewegte sich weg vom Entweder-oder-Denken. Dürrenmatt hat gesagt: Was uns alle angeht, können wir nur gemeinsam lösen. Das trifft die Sache. Denn Abhängigkeit ist nicht einfach ein medizinisches Problem. Sie ist mehr als das. Sie ist in erster Linie ein gesellschaftliches Problem. Damals, in den Achtzigern, hat sich Abhängigkeit in ihrer Vielschichtigkeit im öffentlichen Raum manifestiert. Und ein grosser Teil der Probleme hing damit zusammen, dass Heroin eben verboten war.
Marcus Herdener, Leiter der Abhängigkeitsstation der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sagt, der Konsum von Substanzen sei ein Fakt, ob einem das nun passe oder nicht. Substanzen seien heute breit verfügbar. Man müsse einen neuen Weg finden, sodass für die Gesellschaft am wenigsten Schaden entstehe.
Für die Gesellschaft und für das Individuum. Und für die Umgebung des Individuums. So würde ich das ergänzen. Aber ich bin einig mit Marcus Herdener: Wenn etwas eine kulturelle Praxis ist, dann müssen wir das akzeptieren und einen Umgang damit finden. Dazu gehört, dass wir akzeptieren, dass Gesellschaften sich wandeln. Und dass es zu einem solchen Wandel gehört, dass andere Substanzen konsumiert werden. Darauf müssen wir uns einstellen.
Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss sagte uns, dass es möglich sei, eine Regulierung von Drogen umzusetzen – selbst gegen internationale Widerstände. Was halten Sie davon?
Ich kann diese Aussagen rechtlich nicht beurteilen, ich bin Mediziner und nicht Staatsrechtler. Aber grundsätzlich bin ich ebenfalls der Meinung, dass es doch in diesem Land möglich sein muss, rechtliche Bedingungen dafür zu schaffen, Regulierungen auszuprobieren. Zum Beispiel durch einen «Experimentierartikel» wie beim Cannabis. Aber dann müssen halt auch Versuche in der Realität stattfinden. Wir müssen die Laboranordnung verlassen. Eigentlich ist es erstaunlich, dass die Bedenken so gross sind. Wir machen das alles doch längst schon. Wir wüssten eigentlich sehr genau, wie es funktioniert.
Wie meinen Sie das?
Wir haben heute die Möglichkeit, verbotene Substanzen abzugeben. Wenn Sie an chronischen Schmerzen leiden, erhalten Sie Opioide. Wir verschreiben die sehr hilfreichen Benzodiazepine wie Valium oder Temesta oder Metamphetamine, die ebenfalls über das Betäubungsmittelgesetz geregelt sind, in Form von Ritalin. Der Vergleich zeigt: Es ginge. Ich halte den Vergleich mit diesen Substanzen jedoch aus einem anderen Aspekt für heikel: Diese Substanzen werden medizinisch angewendet. Aber wenn etwas eine gesellschaftliche Realität ist, wie der Konsum von Cannabis, Ecstasy, Kokain, sollten wir die Verschreibung nicht den Ärzten überlassen. Denn dann würden wir in der Pathologisierung des Konsums stecken bleiben. Und das sollte ja genau nicht sein. Das liefe der Normalisierung entgegen. Schauen Sie, vor 35 Jahren war in diesem Land der Schwangerschaftsabbruch verboten. Es gab im Gesetz aber eine Ausnahmeregelung: Man durfte es machen, wenn man einen ausreichenden medizinischen Grund angeben konnte. Zudem musste sich die Frau vor dem Abbruch psychiatrisch abklären lassen. Das hat, bis dann die Fristenlösung kam, zu einer Flut von Gutachten geführt. Es war der missglückte Versuch, ein gesellschaftliches Problem über die Medizin abzuhandeln. Man hat ein gesellschaftliches Problem psychiatrisiert. Statt es zu lösen. Gesellschaftliche Fragen und Probleme kann man nicht mit dem Strafrecht oder der Medizin lösen.
Was schlagen Sie vor?
Man muss Kanäle finden, diese Substanzen zu produzieren und zu verkaufen. Und dann müsste es, unter speziellen Bedingungen, möglich sein, diese Substanzen zu kaufen. So, wie Sie in speziellen Läden Wein kaufen können. Ruth Dreifuss hat ja skizziert, wie es gehen könnte: in Apotheken. Mit Beratungsgespräch. Was eben nicht dasselbe ist wie eine ärztliche Verschreibungspflicht. Mit den Apotheken könnten wir zudem ein existierendes und funktionierendes Versorgungssystem nutzen. Letztlich geht es darum: einen Umgang zu finden. Früher zum Beispiel war Glücksspiel in diesem Land verboten. Dann hat man das Gesetz aufgehoben. Im neuen Gesetz wurde geregelt, wie man mit der neuen Situation umgeht. Es definiert, was passiert, wenn jemand Probleme bekommt – er wird dann gesperrt. 0,5 Prozent vom Umsatz müssen zudem für Prävention verwendet werden. Und so weiter. Man hat einen Umgang gefunden, auch aus fiskalischen Gründen, weil die Leute einfach im Ausland gespielt haben. Beim Rauchen wiederum hat sich der Umgang verändert. Früher wurde noch in den Sendungen des Schweizer Fernsehens geraucht. Oder im Restaurant: Jemand raucht Kette und isst noch Suppe dazu. Das geht heute nicht mehr. Und es sind ja auch alle froh, dass man vor dem Passivrauchen geschützt wird. Das war ein Prozess. Vom einen Extrem, völlig dereguliert beim Rauchen, hinein in die Mitte. Das muss auch mit verbotenen Substanzen wie Kokain, Ecstasy, Cannabis passieren: vom anderen Extrem hinein in die Mitte.
Toni Berthel ist Präsident der Eidgenössischen Kommission für Suchtfragen und berät den Bundesrat in Sachen Drogenpolitik. Er arbeitet als Suchtpsychiater im Kanton Zürich.
Was ist Ihre Meinung zur Drogenpolitik?
Gibt es Alternativen zum Krieg gegen die Drogen? Was halten Sie von einer regulierten Abgabe von Kokain? Welches sind die Vorteile, welches die Risiken einer kontrollierten Legalisierung? Wir freuen uns auf Ihren Beitrag!