Der Mann an der Sonne

Seit Jahrzehnten erforscht Michael Grätzel in Lausanne, wie sich Sonnenenergie möglichst effizient in Strom verwandeln lässt – nach dem Vorbild der Fotosynthese im Blattgrün der Pflanzen. Gut möglich, dass er bald den Nobelpreis für Chemie erhält. Nur vor einer Sache hat er Angst.

Von Anna Julia Schlegel, 31.05.2018

Hat den Durchblick: Forscher Michael Grätzel weiss, wie man nach dem Vorbild der Fotosynthese aus Sonnenenergie Strom gewinnt. Andri Pol

Die Erde dreht sich, die Sonne geht auf über Lausanne und zieht über den See hoch bis zur Ecole polytechnique. Ein neuer Tag beginnt, klar und blau, endlich ist Frühling, schon erreichen die Strahlen ein Bürofenster, hinter dem eine grosse orangefarbene Solarfolie steht, die einen Computer mit Strom versorgt. Michael Grätzel, gerade noch mit dem Rad auf dem Weg ins Büro, kann demnächst mit der Arbeit beginnen.

Derweil sich die Erde weiter durchs All schraubt und sich gerade ziemlich sicher irgendwo auf der Welt ein Forscher mit Grätzels Erkenntnissen befasst. 47-mal wird er auch an diesem Tag zitiert werden, das jedenfalls ist der Schnitt seit 1991, über 200’000-mal wurden seine Aufsätze seither von Kolleginnen als Referenz genannt. Was Grätzel zu einem der drei meistzitierten Chemiker der Welt macht.

Die Zeitschrift «Scientific American» glaubt zudem, er sei einer der fünfzig einflussreichsten Wissenschaftler des Planeten. Zig Auszeichnungen hat er bekommen, zusammen mit Kolleginnen über 1500 Fachartikel veröffentlicht und rund 50 Patente angemeldet. Nur der Nobelpreis fehlt ihm noch. Für den er auch in diesem Jahr wieder gehandelt wird.

Da kommt er, der berühmte Herr Grätzel, fährt mit dem Fahrrad vor, 74 Jahre jung, weisse, verstrubbelte Beatles-Frisur, volles Gesicht und eine spitze Nase, kommt in schwarzem T-Shirt und Jeans, als wolle er gleich zu einem Punk-Konzert, und grüsst freundlich: «Ah, Frau Schlegel! Kommen Sie herein!»

Dann geht er in sein kleines, mit Büchern und Papierstapeln vollgestopftes Büro, und ganz gleich, ob an diesem Tag die Sonne scheint oder nicht, er kann seinen Rechner hochfahren, der Grätzel-Zelle – der bunten Farbstoff-Solarzelle an seinem Fenster – sei Dank, die nicht nur bei Sonnenschein Energie liefert, sondern auch dann, wenn es bedeckt ist.

Der Anfang

Grätzel wächst in der DDR auf, als eines von sechs Geschwistern, sein Vater ist Pfarrer, und weil der Staat die Kinder deshalb in Sippenhaftung nehmen und sicher nicht studieren lassen würde, flieht der Vater mit der Familie 1960 nach Westberlin. Dort schreibt sich Grätzel später für Chemie ein, promoviert im Jahr 1971 über Stickstoff-Sauerstoff-Verbindungen und wird 1971 zum Professor für Chemie an der Ecole polytechnique fédérale in Lausanne berufen.

Schon da fasziniert ihn die Fotosynthese. Jener Prozess, bei dem Pflanzen mit ihrem Blattgrün Sonnenlicht absorbieren – und so Kohlendioxid und Wasser in Zucker verwandeln. Eine Verwandlung, die Eichen, Palmen, Gräser und Kohlblätter beherrschen. Eine Grundlage des Lebens.

Wie lässt sich die Fotosynthese technisch nachbilden?, fragt sich Grätzel. Wäre es möglich, sie im Labor zu simulieren?

Es ist ein Interesse, das quer zur Zeit liegt. Wir schreiben die 1970er- und 1980er-Jahre, Strom aus Sonnenenergie zu erforschen, ist ungefähr so vielversprechend, wie eine Eisdiele in Grönland zu eröffnen. Energie ist billig, das Barrel Erdöl kostet 5 US-Dollar, Umweltbewusstsein ist etwas für Randgruppen. Nur in der Raumfahrt gibt es eine nennenswerte Fotovoltaik-Forschung.

Der Durchbruch

Grätzel kümmert das nicht. Zusammen mit Brian O’Reagan, einem seiner Studenten, experimentiert er mit Titandioxid. Ein Allerweltsmineral, das mit seinen starken Pigmenten alles Mögliche weiss färbt, Farben und Lacke, Lego-Steine, Hautcremes und Kaugummis. Wobei die Eigenschaften dieses Minerals stark von den Partikelgrössen abhängen.

Grätzel und O’Reagan gelingt es, Titandioxid in Nanopartikel zu zerlegen, so klein, wie sie vor ihnen noch niemand herstellen konnte. Diese Partikel haben nun im Verhältnis zu ihrer Grösse eine riesige Oberfläche.

Die winzigen Titandioxid-Partikel tragen die beiden in einer dünnen Schicht auf elektrisch leitendes Glas. Darüber fügen sie eine ebenso hauchdünne Schicht aus Farbstoffen, dem Blattgrün der Pflanzen nachempfunden.

Die Farbstoffe fangen das Sonnenlicht ein und geben Energie – in Form von Elektronen – an das Titandioxid weiter.

Um diese Reaktion am Laufen zu halten, fügen Grätzel und O’Reagan zwei weitere Schichten hinzu: eine Jodlösung, die den Farbstoff regeneriert, sodass er Bruchteile von Sekunden später erneut Sonnenenergie aufnehmen kann. Und einen Katalysator, der die Reaktion beschleunigt.

Obendrauf kommt ein weiteres leitendes Glasplättchen, um das Ganze wie ein Sandwich zusammenzuhalten. Fertig ist die Farbstoff-Solarzelle, die nach einem ähnlichen Prinzip wie eine Pflanze aus Sonnenlicht Energie erzeugt.

Die beiden schreiben darüber im Jahr 1991 im Fachjournal «Nature». Es ist eine kleine Revolution: Denn ihre Farbstoff-Solarzelle bringt es gleich auf 7 Prozent Wirkungsgrad – bei einfachster Herstellung.

Der Wirkungsgrad beschreibt, wie effizient eine Form von Energie in eine andere umgewandelt wird. Windräder, genau wie Braunkohlekraftwerke, haben einen Wirkungsgrad von rund 50 Prozent. Sprich: Die Hälfte der Windenergie beziehungsweise die Hälfte der in der Braunkohle gespeicherten Energie wird in Strom umgewandelt. Der Wirkungsgrad einer Glühlampe liegt bei rund 5 Prozent – eine 100-Watt-Glühlampe gibt nur rund 5 Watt Licht ab. Auch die Natur ist nicht sehr effizient: Bei der Fotosynthese im Blattgrün beträgt der Wirkungsgrad gut 4 Prozent.

Nun ist Sonnenlicht zwar in endloser Menge vorhanden. Trotzdem gilt es, auch Solarzellen möglichst effizient zu gestalten – weil der Solarstrom dann billiger wird.

Die schleppende Vermarktung

In den Jahren und Jahrzehnten darauf entwickeln Grätzel und seine Kollegen im Dialog mit Wissenschaftlerinnen in aller Welt die Farbstoff-Solarzelle weiter. Und dennoch fristet sie bis heute ein Nischendasein. Warum?

Grob gesagt, gibt es zwei Arten von Solarzellen. Die von Grätzel erforschte Farbstoff-Solarzelle – und die Siliziumzelle. Firmen wie die chinesische Trina Solar stellen diese aufwendig aus hochreinen Siliziumkristallen her, gewonnen aus Sand. Sie wird seit 1954 erforscht und erreicht inzwischen einen Wirkungsgrad von gut 25 Prozent. Das ist viel, das theoretische Maximum liegt bei rund 34 Prozent. Siliziumzellen sind vergleichsweise dick und brauchen viel Material. Sie halten mindestens 25 Jahre – und haben einen Marktanteil von rund 90 Prozent.

Mitte der Nullerjahre locken Einspeisevergütungen, es kommt zu einem Gründerboom, alle wollen teilhaben am Solar-Goldrausch, doch für viele Firmen endet er mit einem Absturz. Deutsche Fotovoltaik-Firmen gehen reihenweise pleite. Chinesische Firmen übernehmen. Sechs der zehn grössten Solarzellenhersteller stammen heute aus China. Für Farbstoff-Solarzellen, diese ganz andere Technik, finden sich dagegen lange Zeit keine Investorengelder.

Dabei sind sie seit spätestens 2009 voll kommerziell verwertbar. Farbstoff-Solarzellen haben einen entscheidenden Vorteil: Sie können auch diffuses Licht in Strom umwandeln. Bei bewölktem Himmel oder in Gebäuden erreichen sie einen Wirkungsgrad von bis zu 30 Prozent. Siliziumzellen hingegen schwächeln hier, sie brauchen die brennende Sonne.

Ein weiterer Vorteil: Die Farbstoff-Solarzelle ist nur 10 Mikrometer dick und kann auf Glas gedruckt werden. Wie bei der Fassade des SwissTech Convention Center in Lausanne und dem Science Tower in Graz.

Und so arbeitet sich die Grätzel-Zelle nun doch langsam nach vorn. Das Schweizer Unternehmen H. Glass bietet Module in Grün und Rot an; eine schwedische Firma produziert Solarfolien für die Verwendung in E-Books; ein Unternehmen aus Australien rechnet mit einem Verkaufsstart seiner Module im Jahr 2019.

Klar freut das den Erfinder. Wobei H. Glass, das Schweizer Unternehmen, «schon fast alle meine Mitarbeiter angestellt hat», klagt Grätzel. «Ich kann sie aber nicht alle abgeben, dann leidet die Forschung.» Man fand einen Kompromiss – er einigte sich mit der Firma darauf, sich einige Mitarbeiter «zu teilen».

Die solare Zukunft

Ab 2009 bekommen die Farbstoff-Solarzellen Zuwachs, als Forscher beginnen, Perowskite zu verwenden. Perowskite machten zuvor als Supraleiter von sich reden. Das sind Materialien, die keinen elektrischen Widerstand mehr zeigen, wenn man sie stark abkühlt. Und die so Strom ohne Verluste leiten können.

Die Perowskit-Solarzelle macht rasch Karriere, wieder kommen viele Impulse aus Lausanne, von Grätzel und seinen Kolleginnen. Perowskit-Zellen sind extrem günstig herzustellen und äusserst effizient – allerdings bis jetzt nur unter Laborbedingungen. Sie sind erst wenige Quadratzentimeter gross, wasserlöslich – und die meisten enthalten schädliches Blei.

Und dennoch: Sie lassen erahnen, dass eine solare Zukunft möglich ist. In der das Prinzip der Fotosynthese nicht nur die Bäume und die Wälder ernährt – sondern auch die Städte und die Fahrzeuge und die ganze Technik antreibt, ohne Abgase oder Treibhauseffekt.

Albtraum Rente

Vierzehn Jahre lang forschte Grätzel an der Farbstoff-Solarzelle, ehe er sie in «Nature» vorstellen konnte. Viele Kolleginnen und Kollegen waren im Lauf der Zeit an der Forschung beteiligt. «Ich habe das nicht alleine gemacht. Meine Studenten und Mitarbeiter haben dazu viel beigetragen», sagt er. «Wir Wissenschaftler stehen immer auf den Schultern von Riesen.»

Ihm bedeutet es viel, die Lorbeeren gerecht zu verteilen – auch an «schwierige» Studenten.

Lebt für seine Arbeit: Als die Ecole polytechnique in Lausanne drohte, ihn in Pension zu schicken, bot Michael Grätzel an, auf sein Gehalt zu verzichten, damit er weiterforschen kann. Andri Pol

An der praktischen Entwicklung der Farbstoffzellen massgeblich beteiligt war ein Student, von dem dessen damaliger Vorgesetzter gar nichts hielt. Grätzel: «Er riet mir ab, ihn einzustellen, er sei schwer zu lenken, er sei bockig und anstrengend. Mir war das egal. Wenn jemand wissenschaftlich glänzt, bin ich extrem tolerant.»

Seit fast 50 Jahren ist Grätzel in Lausanne. Angebote von anderen Universitäten? Hat er sämtliche ausgeschlagen. Nur eines hätte ihn am Ende um ein Haar vertrieben – die drohende «Zwangspensionierung».

Als er 70 wurde, trat die Universitätsleitung an ihn heran und regte an, Platz zu machen für einen jüngeren Kollegen. Nicht mehr forschen? Für Grätzel ein Albtraum. Also fand man eine Lösung: Grätzel verzichtete auf sein Gehalt.

«Das war mir völlig recht, denn mit meinem Gehalt konnte ein hervorragender Kollege aus Uppsala eingestellt werden, mit dem ich seitdem und auch heute noch intensiv und erfolgreich zusammenarbeite.»

Er glaubt, dass er besonderes Glück hatte mit seinen Kollegen und Mitarbeiterinnen in Lausanne: «Nun bin ich über 40 Jahre da, und wir haben uns nie, nicht einmal gestritten.»

Und dann blinzelt er heiter der Sonne entgegen, die durch die orangefarbene Solarzelle in sein Büro scheint, und geht hinüber ins Labor.

Zur Autorin

Anna Julia Schlegel studierte an der ETH Zürich Interdisziplinäre Naturwissenschaften und promovierte danach in Organischer Chemie. Sie hat als Lehrerin gearbeitet, bei einem Photovoltaik-Start-up und in der Pharmaindustrie. Seit 2016 schreibt sie für Magazine, seit diesem Jahr forscht Schlegel an der Hochschule Luzern zu Szenarien für eine nachhaltige Energiezukunft.

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