Warum wir auf die lange Sicht blicken
Eine Erklärung zur Daseinsberechtigung, eine selbstkritische Halbjahresbilanz und ein Ausblick, wohin wir mit unserem montäglichen Datenblog in nächster Zeit wollen.
Von Simon Schmid, 13.08.2018
Das montägliche Format «Auf lange Sicht» existiert nunmehr seit exakt 25 Wochen. An allen (ausser einer) dieser Wochen haben wir Ihnen einen mehr oder weniger erdrückenden Text mit Grafiken vorgesetzt: über die erwachende Eurokrise, über steigende CEO-Löhne, über unbezahlte Arbeit.
Warum tun wir uns – und vor allem: Ihnen – diese Beiträge eigentlich an?
Die Frage ist berechtigt, und es gibt mehrere Antworten dazu:
die egoistische: Weil wir Spass daran haben.
die optimistische: Weil wir hoffen, dass Sie daran Spass haben.
die realistische: Weil es niemand anders macht.
die aufklärerische: Weil es wichtig ist.
Warum ist die lange Sicht wichtig?
Seit der Finanzkrise hat in den Wirtschaftswissenschaften so etwas wie ein Erwachen stattgefunden. Ökonomen haben plötzlich realisiert: Geschichte ist wichtig. Theorie und Mathematik alleine genügen nicht, um die Realität zu verstehen. Man braucht Empirie, historische Einordnung, Kontext.
Diese Erkenntnis ist für Sozialwissenschaftler, Philosophinnen (selbstredend auch für Historiker) natürlich banal – ihnen war schon immer klar, dass das Verständnis der Gegenwart den Blick in die Vergangenheit erfordert. Nichtsdestotrotz ist sie für die Wirtschaftswissenschaften ein Fortschritt.
Geschichte ist wichtig: Treffend in Worte gefasst hat dies vor einigen Jahren der Wirtschaftshistoriker Kevin O’Rourke. In einem Aufsatz bei «VoxEU» führt er mehrere Gründe an, warum sich Ökonomen mit ihr befassen sollten.
1. Historische Analysen zeigen auf, dass wirtschaftliche Brüche (zum Beispiel die Finanzkrise) nichts Aussergewöhnliches sind. Zäsuren sind ein wiederkehrendes Element in der Wirtschaftsgeschichte. Bloss weil ein bestimmter Trend ein paar Jahre anhält, muss er sich nicht ewig fortsetzen.
Einige unserer Beiträge haben sich mit solchen Brüchen auseinandergesetzt. Etwa jener zu den Leistungsbilanzüberschüssen: Deutschland liess um die Jahrtausendwende seine französischen Nachbarn links liegen und wurde zum Exportweltmeister – vor der Einführung des Euro hätten die wenigsten vorausgesehen, dass sich eine solche problematische Entwicklung anbahnt.
2. Die Geschichte lehrt einen, wie wichtig der historische Kontext ist. Das heisst: wie wichtig es ist, nicht nur einzelne Statistiken isoliert zu betrachten, sondern auch die Umstände, unter denen sie entstanden sind. Zahlen sind nie einfach nur Zahlen – sondern Aspekte eines grösseren Zusammenhangs.
Eine Illustration dafür findet sich in unserer Datenschau zur Nationalbank-Bilanz. Wie gross ist diese Bilanz wirklich, die so gerne als «aufgebläht» betitelt wird? Der hundertjährige Rückblick legt nahe: Es kommt darauf an, womit man sie vergleicht. Mit der Produktion der Realwirtschaft? Oder mit dem finanzwirtschaftlichen Umfeld, also mit den Schweizer Banken und deren Bilanzen, die über die letzten Jahrzehnte ebenfalls gewachsen sind?
3. Wirtschaftsgeschichte ist eine empirische Disziplin, schreibt O’Rourke: Ihre Mission ist es, die reale Welt zu verstehen, wie sie zu einem Zeitpunkt existiert hat. Theorien sind ein wichtiges Instrument dafür, aber sie sind kein Selbstzweck. Fast nie erklärt eine einzelne Theorie das gesamte Bild.
Auch dieser Einsicht sind wir begegnet. Und zwar in unserer Vogelperspektive zur Migration. Sogenannte «Push»- und «Pull»-Faktoren, wie sie im medialen Diskurs zur Erklärung immer wieder herangezogen werden, helfen nicht, die aktuelle Situation zu verstehen, schreibt unsere Autorin: «Menschen handeln viel weniger rational und viel mehr an Gelegenheiten orientiert, als traditionelle Vorstellungen und Modelle es wahrhaben wollen.»
4. Aus der Beschäftigung mit der Wirtschaftsgeschichte entstehen spontane, informelle Theorien, die in der Forschung zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden und in Modellen formalisiert werden können.
Leider hat noch kein Forscher Ideen von der «langen Sicht» aufgegriffen. Falls aber jemand aus der SNB-Bilanzbetrachtung eine Theorie basteln will: do it!
5. Selbst wenn die Finanz- und die nachfolgende Wirtschaftskrise langsam, aber sicher überwunden sind: Die langfristigen Herausforderungen bleiben. Oder anders gesagt … aber nein, Sie wissen schon, was O’Rourke hier meint. Aspekte wie etwa die Verschuldung der Staaten. Wobei es nicht immer gleich um die ganz grossen Probleme gehen muss, sondern auch um lokale Themen – wie etwas das zunehmende Föderalismusproblem der Schweiz.
6. Wirtschaftliche Entwicklungen sind oftmals pfadabhängig. Das heisst: Die Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart. Man muss beides kennen, um zum Beispiel Länder zu verstehen, die in einer Negativspirale gefangen sind.
Oder die, die auf einer positiven Welle reiten, wie die Schweiz – die ihren Vorsprung zu den Nachbarn im Grunde schon seit hundertfünfzig Jahren hält, und zuletzt sogar von einem regelrechten Superzyklus profitiert hat, wie wir in einem unserer Beiträge aus den letzten 25 Wochen geschrieben haben.
So viel zu den Gedanken des Wirtschaftshistorikers O’Rourke.
Wobei man auch einfach auf das Osmanische Reich verweisen könnte – und darauf, dass man die verdammte Geschichte einfach studiert haben muss, um gewisse Dinge zu verstehen: zum Beispiel, dass der Autoritarismus keine Staatsform ist, die nachhaltiges Wachstum und Wohlstand verspricht (was sich in der türkischen Währungskrise gerade ziemlich aktuell bewahrheitet).
Wir halten die lange Sicht aber noch aus einem weiteren Grund für wichtig.
Grafiken lesen und hinterfragen
Und dieser Grund trägt den Namen: «data literacy».
Der Begriff bedeutet so viel wie «die Fähigkeit, mit Daten umzugehen und Charts zu verstehen».
Konkret geht es uns darum, dass wir Daten nicht nur einsetzen wollen, um einen bestimmten Trend aufzuzeigen (etwa jenen der abnehmenden Anzahl wöchentlicher Arbeitsstunden), sondern auch diskutieren, warum eine Grafik nicht das richtige Bild vermittelt (weil man bei den Arbeitsstunden etwa zwingend zwischen Frauen und Männern differenzieren muss).
Oder, dass wir darauf eingehen, was sich hinter manchen Grössen überhaupt verbirgt – deshalb die vielen Erklärboxen und sporadischen Abschweifungen zu Fragen wie: Was steckt eigentlich in der Bilanz der Nationalbank drin?
Oder, dass wir auch mal sieben Kurven in einer Grafik zeigen, die eigentlich alle dasselbe Konzept beschreiben, aber aus unterschiedlichen Quellen stammen – wie etwa im Text zur Staatsverschuldung der Schweiz.
«Grafiken sollen uns helfen zu verstehen, woher die Welt kommt – und wohin sie steuert», heisst es in der Einleitung zu diesem Blog. Man muss sich aber bewusst sein, dass Grafiken auch gefährlich sein können: So wie es hundert Arten gibt, eine bestimmte Statistik grafisch aufzubereiten, gibt es auch hundert verschiedene Aussagen, die man mit der Statistik machen kann.
Hier ein kleines, wenn auch banales Beispiel zu diesem Blogformat selbst – anhand einer Auswertung der Beiträge nach den behandelten Themen.
Mit einer solchen Grafik zur «langen Sicht» würden wir gerne hausieren gehen: Sie besagt, dass sich die Beiträge etwa gleichmässig auf diverse Themengebiete verteilen – sieht also nach einer ziemlich runden Sache aus!
Man muss die Beiträge indes nur leicht anders kategorisieren, um zu einer völlig anderen Aussage zu kommen: dass «Auf lange Sicht» ein sehr einseitiges Format mit thematisch extrem ungleich verteilten Beiträgen ist.
Das Beispiel mag banal sein – aber es zeigt im Grundsatz, was uns wichtig ist: Ihnen aufzuzeigen, wie sich bestimmte Aussagen ändern, wenn man die Daten leicht anders präsentiert. Und dadurch Ihre Wahrnehmung dafür zu schärfen, wenn Grafiken missbräuchlich verwendet werden – sei es von unredlichen Politikern oder voreingenommenen Journalisten.
Hand aufs Herz: Wir haben solchen Analysen, die in den Bereich «data literacy» gehen, im ersten Halbjahr noch zu wenig Gewicht geschenkt (und etwa nur ansatzweise Grafik-Variationen gemacht, etwa, als es um den Preis des Erdöls ging und um die Einheiten, in denen man ihn ausdrücken kann).
Damit zu den Dingen, die wir im zweiten Halbjahr besser machen wollen.
1. Mehr Ambivalenz zulassen.
Also: noch häufiger auf verschiedene Seiten derselben Medaille eingehen. Und wenn wir mal etwas zuspitzen (wie etwa im Beitrag zur Migrationspolitik: noch stärker auf die Grenzen der Analyse und die Zweideutigkeit von Forschungsergebnissen hinweisen – besonders bei Themen, die sich politisch leicht instrumentalisieren lassen.
2. Den Themenmix verbreitern.
Also: weniger Wirtschaft – mehr Gesellschaft, Politik, Umwelt, Klima (auch wenn wir just in diesem Beitrag die ganze Bedeutung des Blogformats anhand eines wirtschaftsgeschichtlichen Artikels durchdiskutiert haben).
3. Die Variation bei den Chartformen erhöhen.
Also: nicht nur Linien und Balken zeigen, sondern öfters auch Punkte, Karten und andere Visualisierungen, die gar keinen offiziellen Namen haben.
4. Mehr Hirnschmalz.
Bislang haben drei fest angestellte Republik-Journalisten für die «lange Sicht» geschrieben. Neu werden auch externe Gastautoren in diesem Blog auftreten. Die ersten Beiträge sind bereits in Arbeit – wir freuen uns schon.
Haben Sie Anregungen zu unseren Datenbeiträgen? Wünschen Sie sich bestimmte Themen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht».