Teures, günstiges Erdöl
Der Ölpreis ist innerhalb eines Jahres um 50 Prozent gestiegen. Der Preisanstieg wirft Wellen. Doch der historische Vergleich zeigt: Der fossile Rohstoff ist nach wie vor ziemlich billig.
Von Simon Schmid, 25.06.2018
Kleiner Hinweis zu Beginn: Dieser Text ist ein Versuch. Das Ziel lautet, ein Erklärstück über das Erdöl und dessen Preis zu schreiben – und dabei ganz ohne die Wörter «schwarz» und «Gold» auszukommen.
Es wird schwierig. Doch versuchen wir es.
1. Der Ölpreis in US-Dollar
Zahlreiche Medien haben in den vergangenen Monaten in regelmässigen Abständen und mit einer gewissen Besorgnis über den steigenden Ölpreis berichtet.
Sie schrieben:
dass der Ölpreis wegen der Politik des Opec-Kartells nach längerer Zeit wieder über 60 Dollar pro Fass geklettert sei (November 2017);
dass der Ölpreis nun bereits über 70 Dollar liege und damit 50 Prozent höher sei als noch vor zwei Jahren (April 2018);
dass der Ölpreis vielleicht sogar auf 100 Dollar steigen könnte, was Flüge verteuern und vielleicht sogar zu einer Rezession führen würde (Juni 2018);
dass der Ölpreis nach wie vor hoch liege, trotz einem Beschluss zur Erhöhung der Fördermengen (am Freitag).
Ist es mit dem Ölpreis wirklich so schlimm?
Um die Zahlen etwas einordnen zu können, blicken zurück. Und zwar auf mehrere Zeitreihen: von 1970 bis 2018.
Die erste zeigt den Ölpreis, wie er üblicherweise dargestellt wird: in Dollar pro Fass, und zwar für den in Europa relevanten Öltyp Brent. Die Preise beziehen sich jeweils auf den letzten Handelstag eines Monats.
Der jüngste Eintrag datiert vom Mai, der Ölpreis lag damals bei 77.60 Dollar (und damit praktisch gleich hoch wie am heutigen Montag).
Die Grafik legt nahe: Rohöl ist auf dem Weltmarkt zurzeit zwar nicht ganz so teuer wie vor einigen Jahren, als der Preis deutlich über hundert Dollar lag. Doch im Vergleich zu den 1980er-Jahren scheint der fossile Rohstoff wieder stark an Wert zugelegt zu haben.
Die langfristige Dollar-Öl-Grafik ist eindrücklich, aber auch trügerisch. Ein Problem dabei ist die Währung: Der Dollar hat über die Jahrzehnte stark an Wert verloren. Das verzerrt den Ölpreis-Vergleich über die Zeit.
Darum also zur zweiten Grafik.
2. Der Ölpreis in Schweizer Franken
Sie zeigt den Ölpreis nicht in US-Dollar, sondern in Schweizer Franken.
Der Trick hilft, einen Teil der Dollar-Verzerrung zu korrigieren. Warum? Weil der Schweizer Franken in den knapp fünfzig Jahren, die seit 1970 vergangen sind, eine härtere Währung als der Dollar war. Die Preise waren stabiler – die Schweiz wies nur etwa halb so hohe Inflationsraten auf wie die Vereinigten Staaten.
Die langfristige Frankengrafik relativiert das Bild vom starken Preisanstieg des Erdöls ein wenig. Man erkennt, dass die Kohlenwasserstoff-Ressource zurzeit in Franken etwa so viel kostet wie zu Beginn der 1980er-Jahre.
Auf dem Datenportal der Schweizerischen Nationalbank finden sich diverse Zeitreihen mit Rohstoffpreisen, unter anderem auch zum Erdöl (der aktuellste Wert stammt vom Portal Finanzen.ch). Ebenfalls bei der SNB gibt es historische Wechselkurse von US-Dollar in Schweizer Franken. Die Inflationsbereinigung der Daten basiert auf dem Landesindex der Konsumentenpreise des Bundesamts für Statistik (BFS). Für die Anpassung der Erdölpreise an die Löhne wurde der Schweizerische Lohnindex verwendet, den ebenfalls das BFS herausgibt. Die einzelnen Monatsdaten wurden aus den dortigen Jahresdaten interpoliert (und fürs Jahr 2018, für das noch keine Daten vorliegen, konstant gehalten).
Die frühen 1980er-Jahre: Das war die Zeit, als sich der Brasilianer Nelson Piquet und der Franzose Alain Prost um die Formel-1-Weltmeisterschaft duellierten und es an der Tankstelle nur verbleites Benzin zu kaufen gab: super oder normal, geeignet für Autos ohne Katalysatoren.
Und es war die Zeit des zweiten, von der Revolution im Iran und dem darauffolgenden Krieg mit dem Irak ausgelösten Ölschocks.
Ist Erdöl heute wirklich wieder so teuer wie damals?
Bevor wir dies klären, legen wir einen Boxenstopp ein. Und lassen im Schnelldurchlauf die Erdölgeschichte der letzten fünfzig Jahre passieren.
Diese Geschichte (die auf Wikipedia übrigens gut beschrieben ist) verlief in mehreren Zyklen:
Bis 1970 war Erdöl sehr billig. Die USA waren ein wichtiger Produzent, der Markt war reguliert, die Preise waren fix.
1973 änderte sich dies mit dem Zusammenbruch des Welt-Währungssystems von Bretton Woods. Der Dollar entkoppelte sich vom Goldpreis – und der Ölpreis vom Dollar. Die Öl exportierenden Länder des Mittleren Ostens formierten das Opec-Kartell und begannen, ihre Marktmacht auszuspielen. Der Ölpreis stieg ein erstes Mal schockartig an.
1979 kam es zum zweiten Ölschock. Die darauffolgende Hochpreisphase hielt sieben Jahre an und bewog Länder wie Russland, Mexiko, Nigeria, Venezuela und Norwegen, zusätzliche Ölquellen zu erschliessen.
1986 fiel der Ölpreis wegen des zunehmenden Förderangebots wieder zusammen. Er blieb, abgesehen von einem kurzen Anstieg im Golfkrieg von 1990, fast zwanzig Jahre lang auf niedrigem Niveau.
1999 begann der Preis wegen des globalen Wirtschaftsbooms wieder zu steigen. Speziell Schwellenländer wie China brauchten immer mehr Rohstoffe. Der Ölpreis stieg erstmals auf über hundert Dollar.
2007 kam es rund um die Finanzkrise erst zu einer spekulationsgetriebenen Preisspitze und dann zu einem Crash. Doch die Turbulenzen dauerten nicht lange, bald stieg der Erdölpreis abermals auf über hundert Dollar.
2014 endete auch diese Hochpreisphase. Die schwache Nachfrage aus Europa (und China) und das zunehmende Angebot an Fracking-Öl aus den USA lösten einen Preissturz aus.
Seit Ende 2017 steigen die Preise wieder. Dies zum einen wegen des globalen Aufschwungs und zum anderen wegen des Entschlusses der Opec vor anderthalb Jahren, die Produktion zu drosseln.
Angebot und Nachfrage haben über die letzten Jahrzehnte also den Preis bestimmt: Mal herrschten Unterkapazitäten, dann wurde Öl teurer; mal herrschten Überkapazitäten, dann wurde es billiger.
Um das Auf und Ab noch besser darzustellen, kommen wir nun zur dritten Grafik. Sie zeigt den Ölpreis nicht in absoluten Frankenbeträgen, sondern in relativen Zahlen: angepasst ans allgemeine Preisniveau.
3. Der inflationsbereinigte Ölpreis
Dieses Preisniveau war vor fünfzig Jahren deutlich niedriger als heute.
Zum Beispiel kostete ein Laib Brot, den man heute im Supermarkt für drei Franken kaufen kann, im Jahr 1970 ziemlich genau einen Franken. Um den heutigen Erdölpreis mit jenem von 1970 zu vergleichen, muss man ihn also – vereinfacht gesagt – durch drei dividieren.
Respektive: durch einen Korrekturfaktor, der aus dem Preis eines repräsentativen Warenkorbs abgeleitet wird.
Die folgende Grafik funktioniert nach diesem Prinzip. Sie zeigt den Ölpreis von Januar 1970 bis Mai 2018 – angeglichen an die Preise von 1970, gemäss einem monatlich neu berechneten Faktor.
Der Startwert beträgt 100. Der aktuellste Wert beträgt 262. Das bedeutet: Der inflationsbereinigte Erdölpreis ist heute rund 2,6 Mal höher als 1970.
Dieser Anstieg ist bedeutend – aber nicht so bedeutend, wie es auf der Grafik mit den absoluten Frankenbeträgen schien. Dort sah es so aus, als wäre Erdöl heute wieder ähnlich teuer wie während des zweiten Ölschocks. Nun wird klar, dass der Energieträger doch nicht so viel kostet wie damals. Sein realer Preis war in den frühen 1980er-Jahren fast doppelt so hoch wie heute.
Nimmt man den Gesamtzeitraum seit 1970 ins Visier, so zeigt sich: Der Ölpreis war zwischenzeitlich viermal so hoch wie 1970, im Schnitt rund doppelt so hoch. Historisch betrachtet ist Erdöl aktuell demnach nicht speziell teuer. Der momentane Preis liegt nur leicht über dem Mittel.
Könnte die Wirtschaft trotzdem unter dem jüngsten Preisanstieg leiden?
4. Der Ölpreis und die Einkommen
Machen wir dazu noch einen letzten Vergleich. Und zwar zwischen dem Ölpreis und dem Durchschnittseinkommen der Schweizer Bevölkerung.
Ähnlich wie bei den Durchschnittspreisen gibt es dafür einen Index: den Lohnindex vom Bundesamt für Statistik. Dieser Index weist eine ähnliche Entwicklung auf wie der zur Inflationsbereinigung verwendete Landesindex der Konsumentenpreise. Doch er ist etwas steiler: Die Löhne stiegen über fünf Jahrzehnte um den Faktor 5 – und damit stärker als die Schweizer Preise, die zwischen 1970 und 2018 nur um den Faktor 3 hochgingen.
Für unsere vierte Grafik heisst das: Die Gegenwart wird im Vergleich zur Vergangenheit zusätzlich zusammengestaucht. Sowohl der hohe Ölpreis der letzten Jahre als auch die grossen Ausschläge relativieren sich, wenn man den Handelspreis von Erdöl ins Verhältnis zu den Einkommen setzt. Man sieht: Der aktuelle Preis liegt mit einem Wert von 164 noch näher beim Startwert von 100, wie es etwa auf der dritten Grafik der Fall war.
Der Vergleich mit den Löhnen hilft, die Frage nach den wirtschaftlichen Folgen des jüngsten Preisanstiegs für die Schweiz zu beantworten.
Er zeigt nämlich, dass dieser insgesamt überschaubar ist. Rezessionen und wirtschaftliche Verwerfungen, wie sie während der Ölschocks der 1970er-Jahre auftraten, sind demnach kaum zu erwarten: Dazu müsste sich der Preis ausgehend vom aktuellen Niveau mindestens noch einmal verdoppeln.
Dass die Wirtschaft wegen steigender Ölpreise global ins Strudeln gerät, ist aus einer Reihe von weiteren Gründen eher unwahrscheinlich:
Die Öl-Intensität der Wirtschaft hat abgenommen: In jedem Dollar an globaler Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandprodukt, BIP) stecken heute sechzig Prozent weniger Erdöl als noch 1973. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie 2007, in der Zwischenzeit dürfte die Öl-Lastigkeit des BIP weiter abgenommen haben.
Hohe Ölpreise vermögen der Wirtschaft deshalb weniger Schaden zuzufügen als früher. Zuweilen wurde vermutet, dass das teure Öl 2007 zur Finanzkrise beigetragen haben könnte. Eine Studie kam kürzlich zum Schluss: Nein, der hohe Ölpreis war kein wesentlicher Grund für den Crash.
Steigt der Ölpreis, so führt dies heute auch weniger schnell zu Inflation als früher. Insbesondere steigt die Kerninflation nicht mehr so rasch an: also die allgemeine Inflation, aus der die Energiepreise herausgerechnet sind. Darum reagieren Notenbanken heute auch weniger aggressiv mit Zinserhöhungen als früher, wenn der Ölpreis steigt. Das schont die Wirtschaft.
All dies lässt darauf schliessen, dass es mit dem jüngsten Ölpreisanstieg doch nicht so schlimm ist, wie Medien zuletzt befürchteten. Jedenfalls nicht für die meisten Industrieländer (für Schwellenländer wie Indien mit weniger wissensintensiven Volkswirtschaften ist es eine etwas kompliziertere Geschichte: Sie dürften erleichtert sein ob dem jüngsten Beschluss der Opec, die Produktion etwas hochzufahren).
Kleiner Hinweis zum Schluss: Der Versuch ist geglückt! Und das Erdöl entmystifiziert: Zuletzt stieg zwar sein Preis. Doch auf die lange Sicht werden die Preisausschläge des schwarzen Goldes immer weniger dramatisch.
Was verändert sich auf die lange Sicht?
Haben Sie Anregungen zu unseren Datenbeiträgen? Wünschen Sie sich bestimmte Themen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht».