Der Moment, als sich die Welt verschuldete
Kredite aufnehmen, Steuern eintreiben, Zinsen zahlen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftete die Schweiz über fünf Jahrzehnte lang ähnlich wie andere Länder. Doch dann brach das neue Jahrtausend an: Teil 2 unserer Schulden-Serie.
Von Simon Schmid, 19.03.2018
Die Schweiz ist ein Musterknabe. Mit diesem Fazit schloss der erste Teil unserer Serie über die Verschuldung. Egal ob brutto oder netto – oder im Vergleich zu anderen Ländern: Finanziell läuft es der Schweiz blendend.
Doch das war nicht immer so. Geht man etwas in der Geschichte zurück, so zeigt sich: Die Schweiz hat eine bewegte Zeit durchgemacht. Ihre Verschuldung schoss im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts mehrmals in die Höhe – und senkte sich wieder, bloss um nach einigen Jahren erneut anzusteigen. Die Ausschläge waren heftig, wie aus Daten des Internationalen Währungsfonds hervorgeht. Und sie betrafen längst nicht nur die Schweiz.
Die Daten des IWF sind seit 1900 einigermassen vollständig. Über den Zeitraum bis 2015 zeichnen sie folgendes Bild: Die mittlere Verschuldung der wichtigsten Industrieländer lag bei 55 Prozent des BIP, jene der Schweiz bei 33 Prozent.* Im Durchschnitt lagen die Schulden allerdings selten – öfter wichen sie stark davon ab. So fluktuierten die Schulden der Industrieländer in den letzten gut hundert Jahren zwischen 23 (1974) und 116 Prozent (1945). Jene der Schweiz lagen zwischen 3 (1907) und 79 Prozent (1945).
Drei Phasen des Schuldenauf- und -abbaus
Wie erklärt sich diese Achterbahnfahrt? Warum war die Schweiz phasenweise weniger stark verschuldet als andere Industrieländer? Und warum waren ihre Schulden zwischenzeitlich gleich hoch oder höher als in anderen Ländern?
Der Internationale Währungsfonds hat 2010 eine historische Datenbank zur Staatsverschuldung zusammengestellt, die bis ins Jahr 1800 zurückreicht. Die Arbeit ist in einem Paper beschrieben. Die Datenbank wurde später aktualisiert. Sie ist online aufbereitet und kann als Excel-Datei heruntergeladen werden. Zur Methodik des IWF bei der Berechnung von Schuldenquoten siehe Teil 1 der Serie. Die historischen Daten des IWF sind aus diversen Quellen zusammengestellt und teils nicht ganz konsistent. In frühen Jahren bezieht sich die Staatsschuld mancher Länder nur auf den Bundesstaat statt auf sämtliche Staatsebenen. Die Ameco-Datenbank der EU-Kommission beinhaltet Schuldendaten für die meisten EU-Staaten sowie für die USA ab 1995. Die Schuldenquoten werden dort nach der Maastricht-Konvention berechnet. Die Schweizer Daten nach Maastricht finden sich als Excel-Sheet auf der Website der Eidgenössischen Finanzverwaltung.
Die Antwort liegt in der Wirtschaftsgeschichte der letzten hundert Jahre (die gleichbedeutend mit der Schuldengeschichte der Industrieländer ist). Sie lässt sich etwas vereinfacht in drei Phasen einteilen:
1. Die erste Jahrhunderthälfte mit den beiden Weltkriegen
Vor dem Ersten Weltkrieg ist die Schweiz praktisch schuldenfrei. Andere Industrieländer haben zu dieser Zeit bereits Schulden im Umfang von rund 40 bis 50 Prozent des BIP. Mit dem Kriegsausbruch schnellt die Verschuldung nach oben. Dies aus zwei Gründen: Einerseits nehmen die Staaten Kredite auf, um ihre Armeen zu finanzieren, andererseits bricht die Wirtschaft in den Krieg führenden Ländern ein. Es kommt zu Massenarbeitslosigkeit. Die Schulden steigen, das BIP sinkt – beides drückt die Schuldenquoten in die Höhe.
Sowohl die Schweiz als auch die meisten anderen Länder weisen nach dem Ersten Weltkrieg rund 20 bis 30 Prozent höhere Schulden zum BIP auf. Die Konsolidierung gelingt danach nur im Ansatz. Auf die Roaring Twenties folgen die Grosse Depression und der Zweite Weltkrieg. Erneut nehmen die Staaten Kredite auf. Diesmal steigen die Schuldenquoten noch stärker: im Mittel der Industrieländern wie auch in der Schweiz um rund 50 Prozent.
2. Die goldene Nachkriegszeit
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bringt Besserung. Eine Reihe von Faktoren ermöglicht einen raschen Schuldenabbau. Der wichtigste davon: das hohe Wachstum. Der zweitwichtigste: die Budgetpolitik. In der Hochkonjunktur erzielen die Staaten Überschüsse. Sie fahren die Militärausgaben zurück, behalten aber die hohen Steuern aus der Kriegszeit bei. Günstig wirkt sich in dieser Phase auch die Demografie aus (viele junge Erwachsene, wenig alte Menschen).
Und ein weiterer Punkt trägt entscheidend zur Konsolidierung bei: die sogenannte Finanzrepression. Nach dem Krieg halten die Regierungen ihre Banken an der kurzen Leine. Der internationale Kapitalverkehr ist eingeschränkt. So bleiben die Zinsen tief, oft liegen sie unter der Inflationsrate. Die niedrigen Refinanzierungskosten helfen den Staaten beim Schuldenabbau.
3. Die Ära der Probleme seit den Siebzigerjahren
Ab den Siebzigerjahren wird das Finanzsystem schrittweise liberalisiert. Die Bretton-Woods-Ordnung endet. Der Ölpreis steigt, die Wachstumsraten der westlichen Länder sinken, die Gesellschaften altern, der Sozialstaat wird ausgebaut. All dies lässt die Verschuldung in den Industrieländern wieder ansteigen. Die Schuldenquoten erhöhen sich über einen Zeitraum von gut dreissig Jahren von rund 30 auf 60 Prozent. Die Schweiz kann sich dem Trend nicht entziehen. Die Rezession der Neunzigerjahre ist einschneidend: Bund und Kantonen brechen die Einnahmen weg, bei den Ausgaben herrscht Disziplinlosigkeit. So schnellt die Verschuldung innerhalb nur eines Jahrzehnts um rund 30 Prozentpunkte hoch. Dass die Schweiz ein Musterbeispiel der Finanzen sei: Auf diese Idee kommt um die Jahrtausendwende niemand.
Und trotzdem steht die Schweiz nur zehn Jahre später wieder deutlich besser da als die meisten anderen Industrieländer. Während in den USA, in Spanien oder Grossbritannien die Verschuldung steigt, nimmt sie in der Schweiz nach und nach ab. Die Divergenz ist spektakulär – und lässt sich an einem Punkt festmachen: dem Ausbruch der globalen Finanzkrise im Jahr 2007.
Als die Banken ins Taumeln kommen und die Weltwirtschaft ins Wanken gerät, schnellen die Schulden vieler Länder nach oben. Zum Beispiel in den Niederlanden: Dort platzt eine Immobilienblase, der Staat muss mehrere Banken retten. Oder in Grossbritannien: Auch hier belasten staatliche Milliardenzuschüsse für angeschlagene Banken die Finanzen. Hinzu kommen Mehrausgaben für die soziale Sicherheit und Steuerausfälle aus den Einkommens-, Unternehmens- und Immobiliensteuern. Grossbritannien hatte 2005 noch dieselbe Schuldenquote wie die Schweiz – zehn Jahre später unterscheiden sich die Schulden der beiden Länder um den Faktor drei.
Dass sich der Schweizer Staatshaushalt in der Finanzkrise so gut hielt, ist keine Selbstverständlichkeit. Umso mehr, als nahezu alle europäischen Staaten (mit wenigen Ausnahmen, wie Schweden) grössere Einschnitte hinnehmen mussten. Warum kam die Schweiz so glimpflich davon?
Die Schuldenbremse und das Glück des Tüchtigen
In der wirtschaftspolitischen Debatte wird oft auf die Schuldenbremse verwiesen. Sie wurde 2003 auf nationaler Ebene eingeführt und zwingt den Bund über den Konjunkturzyklus hinweg zu einem ausgeglichenen Haushalt. Ähnlich funktionieren die Fiskalregeln, die viele Kantone in den Nullerjahren einführten.
Eine Studie der Ökonomen Christoph Schaltegger und Michele Salvi kam zum Schluss, dass die Schuldendynamik dadurch massgeblich beeinflusst wurde: Ohne Schuldenbremsen wären die Staatsschulden heute fast 20 Prozentpunkte über dem aktuellen Niveau. (Auf diese Zahl kommen die Autoren, indem sie die Schweiz mit den OECD-Staaten vergleichen, wobei Luxemburg, Australien und Japan hoch gewichtet werden, da sie bezüglich ihrer Wirtschaftsstruktur und -entwicklung ähnlich sind wie die Schweiz.)
Ziel der Schuldenbremse ist, dass sich die Budgetüberschüsse und -defizite der Eidgenossenschaft über die Jahre hinweg die Waage halten – der Schuldenstand in Franken bleibt konstant. Eine Folge davon ist, dass die Schuldenquote im Vergleich zum BIP mit der Zeit automatisch sinkt: Die Schuldenbremse ist also eigentlich eine Schuldensenke. Nun haben sich die Schulden der Schweiz aber nicht nur relativ zum BIP, sondern auch absolut verringert. Sie sind seit 2003 auf Bundesebene von 124 auf 99 Milliarden Franken gefallen. Das liegt gemäss einer Expertenkommission daran, dass der Bund seine Ausgaben bei der Budgetplanung systematisch zu hoch und die Einnahmen regelmässig zu tief ansetzt – was dazu führt, dass am Ende des Jahres Geld übrig bleibt, das dann zur Schuldentilgung eingesetzt wird.
Die Mechanik der Schuldenbremse ist jedoch nicht der einzige Grund für die solide Finanzlage. Der andere, weniger oft diskutierte, aber vielleicht fast noch wichtigere Grund ist die unglaubliche Erfolgssträhne der Schweizer Wirtschaft in den letzten knapp zwanzig Jahren. Eine ganze Serie von steuerlichen Sonderfaktoren und positiven Konjunkturüberraschungen hat sich seit der Jahrtausendwende positiv auf die Statistik ausgewirkt:
Die Unternehmenssteuerreform I: Sie trat 1998 in Kraft und ermöglichte die Einführung von steuerlichen Sondertarifen für ausländische Unternehmen. Die Reform führte zur Ansiedelung zahlreicher Firmen – und zur Erhöhung des Wirtschaftswachstums und des Steuersubstrats in der Schweiz.
Die Personenfreizügigkeit mit der EU: Sie führte ab 2002 zu einer leicht höheren und ab 2007 zu einer markant höheren Zuwanderung – und stützte die Konjunktur just zum Höhepunkt der Finanzkrise stark. Das Schweizer BIP nahm durch die Zuwanderung zu. Die Schuldenquote sank.
Die Widerstandskraft der Wirtschaft: Viele Länder schlitterten 2008 in eine tiefe Rezession. Die Schweiz kam milde davon. Ökonomen schreiben dies der diversifizierten Branchenstruktur und der cleveren Krisenpolitik zu, die mit wenigen, gezielten Konjunkturprogrammen auskam.
Die günstige Bankenrettung: Irland, Spanien, Deutschland und weitere Staaten mussten ihre Banken retten – mit Staatsgeld. Auch die Schweiz griff der angeschlagenen UBS unter die Arme – mit Geld des Bundes und mit viel Geld der Nationalbank. Die Aktion zahlte sich unter dem Strich finanziell aus.
Die unerwarteten Mehreinnahmen: Wiederholt nahm der Staat mehr Geld als erwartet ein. Etwa aus der direkten Bundessteuer (2007, 2008, 2011), wegen Mobilfunklizenzen (2012, 2015) und immer wieder wegen Fehlkalkulationen bei der Verrechnungssteuer (2007, 2009, 2010, 2011, 2013, 2017). Hinzu kamen Einsparungen wegen tiefer Zinskosten (ab 2012).
Vieles spricht dafür, dass die Schweiz seit der Überwindung der Strukturkrise in einem Superzyklus steckt: einem zwanzigjährigen Boom, der Ende der Neunzigerjahre begann und nach wie vor anhält. Viel wirtschaftspolitische Umsicht, aber auch einiges Glück haben zu diesem Boom beigetragen.
Dank dem Superzyklus vermochte die Schweiz ihre Schulden, die sie zuvor aufgehäuft hatte, wieder ein Stück weit abzubauen. Ein solches Muster ist typisch für die Schuldenentwicklung von praktisch allen Ländern zu allen Zeiten. Denn Schuldenquoten sind nicht nur Ausdruck der finanzpolitischen Kultur. Sondern vor allem ein Resultat: der Ereignisse und Entwicklungen, die eine Volkswirtschaft in der Vergangenheit geprägt haben.
Damit sind wir bereit für Teil 3 der Serie: Soll die Schweiz ihre Schulden weiter abbauen? Oder soll sie die Schuldenbremse abschaffen? Dazu bald mehr.
* Für die Jahre 1914–1923, 1925–1928, 1952, 1958/1959 und 1964–1969 sind zur Schweiz keine Daten vorhanden. Für die Berechnung des Durchschnitts wurden die fehlenden Werte interpoliert, das heisst, es wurde eine lineare Entwicklung zwischen den bekannten Punkten angenommen.