Der lange Schatten des Osmanischen Reichs
Nach Jahren als beeindruckender Tigerstaat beginnt die Türkei wirtschaftlich zu wanken. Das überrascht nicht: Unfreiheit zahlt sich – auf lange Sicht – nicht aus.
Von Olivia Kühni, 21.05.2018
Lutz Karpowitz ist Analyst bei der Commerzbank in Frankfurt am Main. Auf Bildern sieht man den hageren Ökonomen mit Geheimratsecken, einem angedeuteten Lächeln und in einem dunklen Anzug. Ein nüchterner Mensch.
Doch im September 2017 wurde Karpowitz schlagartig bekannt, wie das im Internetzeitalter manchmal gerade trockenen Spezialisten geschehen kann, wenn sie einfach aussprechen, was sie nun mal sehen. Im Fall von Karpowitz war das: «Turkey – are you kidding me?»
Wollt ihr mich veräppeln?
Diesen Titel setzte der Volkswirt über einen Bericht zur wirtschaftlichen Lage der Türkei, den die Commerzbank publizierte. Solche Kommentare gehören zum üblichen Tagesgeschäft von Analysten; Investorinnen, Politiker und Journalistinnen studieren sie. Doch dieses Mal fand der Report virale Verbreitung, denn er enthielt brisanten Stoff.
«Um es schlicht zu sagen: Ich halte die Daten [zur türkischen Wirtschaft] für politisch beeinflusst», schrieb Karpowitz darin. (Das statistische Amt der Türkei hatte gerade einen spektakulären wirtschaftlichen Aufschwung gemeldet.) Der Vorwurf des Frankfurter Analysten war eine mutige Aussage in einer Welt, die sich sonst nur auf Belege stützt.
Noch mutiger war die Begründung, die er dem «Spiegel» nachlieferte: Die staatlichen Verhaftungen von Oppositionellen in der Türkei böten nicht «das Klima, in dem Leute losziehen und euphorisch investieren», sagte Karpowitz. «Wir reden ja nicht darüber, dass die Wirtschaft heute einfach nur ähnlich gut laufen würde wie vor dem Putsch» – sondern angeblich noch viel stärker. «Das stinkt zum Himmel.»
Der Mann aus Frankfurt sprach aus, was viele dachten: Der anatolische Tiger, bis vor wenigen Jahren weltweit gefeiert als die nächste grosse Wirtschaftshoffnung, ist möglicherweise nur aus Papier. Eine Kulisse, hinter der sich stinkender Abfall, wertlos gewordene Geldscheine und massenweise menschliches Leid verbergen.
Bringt Wirtschaftswachstum Demokratie?
Es ist eine der ökonomischen Lieblingstheorien des 20. Jahrhunderts, dass sich Wirtschaftswachstum – angefüttert mit Investitionen und eifrig genährt von Staaten, internationalen Organisationen und Banken – stets lohnt. Weil eine boomende Wirtschaft in fragilen Staaten nicht nur den Wohlstand, sondern mit etwas Geduld auch die Freiheit bringt: Bildung, Bürgerrechte, Demokratie.
Genau das erhofften sich Politikerinnen und Investoren auch für die Türkei, die seit den 1980er-Jahren einiges an ausländischem Geld anzog. 2005 nahmen die EU und die Türkei Beitrittsverhandlungen auf, die Volkswirtschaft wuchs Mitte der 2000er regelmässig um rund 6 Prozent, internationale Kommentatorinnen sprachen (wie sie es gern tun) von einem «Frühling» im Land.
Inzwischen ist es Winter geworden. Und die Türkei, eben noch strahlende Hoffnungsträgerin, ist nach Einschätzung vieler Beobachter zur Autokratie geworden. Zu einem Drittweltstaat, der – neben Repressionen gegen seine eigenen Bürgerinnen – verzweifelt die Wirtschaftszahlen schminkt, gegen Inflation ankämpft und an Auslandsschulden zu ersticken droht. (Eine kurze Zusammenfassung der wirtschaftlichen Probleme finden Sie hier bei Reuters.)
Das ist interessant. Denn das Beispiel der Türkei zeigt, wie viele Beispiele zuvor, dass die Korrelation so einfach nicht stimmt, wie sie fälschlicherweise oft wiedergegeben wird: Wirtschaftswachstum und Freiheit hängen zusammen, durchaus, aber eben nicht automatisch und in jedem Fall.
Politics matter.
Es kommt eben darauf an, mit was für einem Wirtschaftswachstum wir es zu tun haben und was daneben noch geschieht. Warum eine Volkswirtschaft wächst, wie sie wächst, wer von dem neu gewonnenen Wohlstand profitiert und wozu er genutzt wird. Kurz: Es kommt auch auf die Politik an.
Oder, wie der MIT-Ökonom Daron Acemoglu – ein Superstar der Disziplin und in der Türkei aufgewachsen – sagen würde: auf die Institutionen. Ohne gute Institutionen kann es seiner Ansicht nach in einem Land weder nachhaltiges Wirtschaftswachstum noch Freiheit geben. Sondern eben nur Papiertiger. (Lesen Sie dazu hier auch einen Kommentar meines Kollegen Simon Schmid.)
Laufend neues Benzin
Auch die Wurzel der heutigen Probleme der Türkei lägen in der Geschichte ihrer Institutionen, schrieb Acemoglu 2013 – im Jahr der Proteste rund um den Istanbuler Gezi-Park und angesichts der plötzlich wieder kriselnden Wirtschaft – auf seinem Blog. Bis heute wirkten gewisse Merkmale des Osmanischen Reichs in den türkischen Institutionen nach: «Und das wirft einen langen Schatten auf die moderne türkische Gesellschaft.»
Mehr dazu gleich, denn Acemoglu liefert spannende Einsichten. Zunächst aber nun endlich das, was wir Ihnen in dieser Rubrik versprochen haben: langfristige Daten.
Schon seit Jahren vermuten Ökonomen, dass das türkische Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte zumindest teilweise nicht nachhaltig ist. Dass der Boom eher Bevölkerungswachstum und Finanzspritzen zu verdanken ist als tatsächlichem Fortschritt. Etwa so, als würde ein alter Bus plötzlich schneller fahren, weil man ihn mit Dutzenden zusätzlichen Rädern ausstattet und mit Benzin vollpumpt – nicht etwa, weil man ihn mit einem intelligenteren Motor ausgestattet hätte.
Ein Massstab für die Nachhaltigkeit von Wirtschaftswachstum ist die Entwicklung der sogenannten Totalen Faktorproduktivität (TFP). Sie ist der Teil des Wachstums, der nicht einfach auf zusätzliche Ressourcen (eben: mehr Menschen oder mehr Kapital) zurückzuführen ist, sondern auf nachhaltigere Veränderung – etwa auf technologischen Fortschritt, verbesserte Standortbedingungen oder Innovation.
Die Ökonomin Sumru Altug und ihre Kollegen Alpay Filiztekin und Sevket Pamuk nahmen sich nun genau diese TFP auf die wirklich lange Sicht vor: Sie untersuchten die Entwicklung der türkischen Volkswirtschaft von 1880 bis 2005, also von tief osmanischen Zeiten über Atatürks Republikgründung und die Weltkriege bis zum Aufstieg der heute regierenden AKP. Sie wollten wissen, was die «Quellen des langfristigen Wirtschaftswachstums in der Türkei» – so der Titel ihrer Arbeit – waren. Wie viel vom Boom ist tatsächlichem Fortschritt zu verdanken?
Ihr Fazit: Über die untersuchten 125 Jahre hinweg trug eine verbesserte Produktivität durchschnittlich stets nur etwa 30 Prozent zum Gesamtwachstum bei. Die «primäre Wachstumsquelle» sei – mit Ausnahme einiger von Reformen geprägter Perioden nach 1980, die durchaus Anlass zur Hoffnung gaben – eine andere: nämlich laufend mehr Kapital. Literweise Benzin also statt wirklich leistungsstärkere Motoren. Die türkische Wirtschaft läuft auf Pump.
Geldgeschenke für Interessengruppen
In ihrer Einleitung finden die drei Autoren – einer von ihnen ist übrigens der Bruder des Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk – ähnlich offene Worte zur türkischen Lage wie 2000 Kilometer weiter nördlich der Analyst Lutz Karpowitz. «Allzu oft in den letzten hundert Jahren hat das politische System der Türkei zerbrechliche Koalitionen und schwache Regierungen hervorgebracht, die vor allem mit Schuldenwirtschaft und Krediten die kurzfristigen Forderungen verschiedener Gruppen zu befriedigen suchten», schreiben sie in ihrem Paper, das bereits 2008 erschienen ist.
Sumru Altug, Alpay Filiztekin und Sevket Pamuk werteten für ihre Arbeit «The Sources of Long-Term Economic Growth for Turkey, 1880-2005» (European Review of Economic Policy, February 2008) Daten zum langfristigen Wirtschaftswachstum in der Türkei aus. Danach korrigierten sie die Zahlen um die Zunahme von Ressourcen, insbesondere Arbeitskräfte und Kapital, und ermittelten so die tatsächliche Veränderung der Produktivität. Sie analysierten die Entwicklung auch jeweils separat für den Agrarsektor und die Industrie – und stellten dabei unter anderem fest, dass von 1930 bis 1980 die Landwirtschaft dank Reformen beachtlich an Produktivität zulegen konnte, die Industrie folgte nach 1980. Das ist im Vergleich zu den einkommensstärksten Ländern Europas spät.
Tatsächlich lässt sich genau dies auch jetzt wieder beobachten. Als Antwort auf die politische und wirtschaftliche Krise hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den staatlichen Hilfstopf KGF seit 2016 um 50 Milliarden Lira aufgepumpt und Finanzspritzen an Unternehmen verteilt. Kein Wunder also, hat die Türkei immer wieder mit Inflation, Währungsabstürzen und Schuldenkrisen zu kämpfen.
Die Nationalbank, die dem Benzin-Zapfmeister den Hahn zudrehen könnte, hält gefährlich still, wie der «Economist» Anfang dieses Jahres schrieb. Der Grund? «Handelt sie nicht, riskiert sie eine Abstrafung am Markt», zitiert das Blatt den Ökonomen Murat Ucer. «Handelt sie, folgt jedoch eine aus der Politik.»
Wie gesagt: Politics matter.
Herrschende und Untertanen
An dieser Stelle nun also die versprochenen Einsichten von Daron Acemoglu. Seit der Zeit des Osmanischen Reichs bis heute hätten sich die türkischen Institutionen in einem fundamentalen Aspekt nie verändert, schreibt der Wissenschaftler zur Lage in seiner Heimat: «Es gibt keine von der herrschenden Elite unabhängigen Institutionen und Verwaltungseinheiten.»
Das Osmanische Reich, militaristisch in seiner Natur und beeindruckend straff geführt, kannte nur zwei Klassen von Menschen: die Herrschenden, also Armee und Bürokraten des Sultans, und alle anderen, «reaya», Untertanen, die als Gegenleistung für das ihnen geliehene Land Soldaten zu stellen hatten.
Ein Feudalsystem, an dem sich, so Acemoglu – mit einem Respekt und in einer Differenziertheit, die sich nachzulesen lohnen – bis heute im Grunde nichts geändert hat.
PS: Sollten wir unter unseren Lesern eifrige und überzeugte Abendland-Kämpfer haben, so erlauben Sie mir diesen wichtigen Hinweis: Die Zeit des Feudalismus liegt auch in Kontinentaleuropa nicht lange zurück. Und breitet sich gerade in Staaten wieder aus – überzeugt christlichen Nationen –, die schon längst EU-Mitglied waren, als mit der Türkei die ersten Beitrittsgespräche begannen. Amen.
Debatte: Was verändert sich auf die lange Sicht?
Wird die Normalisierung der Geldpolitik so ablaufen, wie sich Ökonomen dies vorstellen? Oder funkt die nächste Krise den Notenbanken wieder dazwischen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht»: Hier geht es zur Debatte.