Der wirtschaftliche Vorsprung der Schweiz
Was ist das Erfolgsgeheimnis der Schweiz? Die Banken? Der Appenzeller Käse? Oder der Friede? Wie die Daten zeigen, muss das Erfolgsrezept ziemlich alt sein – mindestens 147 Jahre.
Von Simon Schmid, 19.02.2018
Die Gründe, warum die Schweiz so wohlhabend ist, sind allgemein bekannt. Sie lauten, einmal rasch heruntergerattert: Demokratie, Stabilität, Föderalismus, Standortwettbewerb, Flexibilität, Offenheit, Internationalität, Qualitätsorientierung, Bildung, Immigration, Friede, Diskretion, Glück.
Nachzulesen ist das etwa bei Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann, NZZ-Journalist Hansueli Schöchli, Ex-Avenir-Suisse-Chef Gerhard Schwarz und Public-Eye-Rechercheurin Alice Kohli. Die Kommentatoren sind sich da, trotz unterschiedlicher politischer Herkunft, weitgehend einig.
Nur – seit wann ist die Schweiz so erfolgreich? Wurde sie mit dem Bankgeheimnis von 1934 reich? Profitierte sie von den Weltkriegen? Beides ist richtig. Doch die Daten zeigen: Die Schweiz hat schon ziemlich lange eine starke Wirtschaft. Mindestens 147 Jahre lang, um genau zu sein.
Das belegt eine Datenbank, die kürzlich aktualisiert wurde: die Maddison Project Database zur Entwicklung des Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf.
Das Maddison Project geht zurück auf den britischen Wirtschaftshistoriker Angus Maddison (1926–2010). Er veröffentlichte 2003 erstmals eine Statistik mit dem BIP pro Kopf sämtlicher Länder von der Antike bis zur Gegenwart. Die Datenbank wird von der Universität Groningen periodisch revidiert und dient vielen Forschern als Referenz. Die neueste Version erschien im Januar 2018. Die Maddison Project Database kann als Excel heruntergeladen werden. Die wichtigste Zeitreihe heisst «cgdppc». Sie gibt das BIP pro Kopf von 169 Ländern an, ausgedrückt in Dollars des Jahres 2011. Quelle sind offizielle Landesstatistiken, die mit sogenannten Kaufkraftparitäten vergleichbar gemacht werden. Das sind fiktive Umrechnungsfaktoren, die das Preisniveau in den einzelnen Ländern berücksichtigen.
Wir haben die Datenbank auf besondere Art ausgewertet. Und zwar mit einer Aussenbetrachtung der Schweiz: Wir haben ausgerechnet, wie die vier grossen Nachbarländer gegenüber der Schweiz dastehen. So ergibt sich ein Langzeit-Produktivitätsvergleich der Volkswirtschaften von Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien mit der Volkswirtschaft der Schweiz.
Die Auswertung zeigt: Schon 1870 – davor sind die Daten unvollständig – war die Schweiz ihren vier Nachbarn ein gutes Stück voraus. Deutsche und Franzosen produzierten damals im Schnitt nur rund 80 Prozent der Waren und Dienstleistungen, welche die Schweizer produzierten. Österreicher erzeugten damals rund 70 Prozent, Italiener rund die Hälfte.
Die Schweiz hat also schon sehr lange eine produktive Wirtschaft. Italien und Österreich haben seit anderthalb Jahrhunderten kaum aufgeholt, Deutschland ist leicht, Frankreich beträchtlich zurückgefallen: Sein BIP pro Kopf lag 2016 nur noch bei gut 60 Prozent des Schweizer Niveaus.
Die Schweiz hat also ihren Vorsprung rund 150 Jahre lang halten können. Daraus zu schliessen, dass über all diese Jahre allgemeiner Wohlstand herrschte, wäre allerdings falsch.
Ähnlich wie viele europäische Staaten blieb die Schweiz über weite Strecken des 19. Jahrhunderts ein Auswanderungsland. Der Reichtum war ungleich verteilt. Wie die Ökonomen Beatrice Weder di Mauro und Rolf Weder in einer Studie schreiben, verdienten Handwerker und Arbeiter in der Schweiz im Vergleich zu Menschen in Städten wie Leipzig, Amsterdam oder London bis 1910 unterdurchschnittliche Löhne.
Man muss sich vor diesem Hintergrund in Erinnerung rufen, dass das BIP pro Kopf nicht die einzige wirtschaftliche Kennzahl ist, an der man ein Land messen sollte. Insbesondere, wenn ein Land über Importe und Exporte so stark mit dem Ausland verflochten ist wie die Schweiz. Dass sich in einem Land derart viele wertschöpfungsstarke Firmen ansammeln, wäre undenkbar, wenn sich nicht gleichzeitig einige schwächere Branchen in den umliegenden Ländern verteilen könnten.
Nichtsdestotrotz sind die Zahlen zur Schweiz erstaunlich. Gerade in jüngster Zeit hat sich das Land nochmals von den Nachbarn abgesetzt: Die Wirtschaftsleistung pro Kopf hat in Österreich, Italien oder Frankreich im Vergleich zur Schweiz seit der Jahrtausendwende deutlich nachgelassen.
Warum das so ist, darüber berichten wir ein anderes Mal.
In der Zwischenzeit überlassen wir Sie den Statistiken. Nachfolgend vier Grafiken zu den vier Nachbarländern – falls Sie genau wissen wollen, was über die letzten 147 Jahre in Österreich, Deutschland, Frankreich und Italien passierte.
1. Österreich
Österreich ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der Schweiz: Das Land ist ähnlich gross, hat eine ähnliche Geografie und zählt zum selben Sprachraum. Wirtschaftlich kommt es aber nicht an die Schweiz heran.
Über die letzten 147 Jahre lag das BIP pro Kopf in Österreich im Schnitt nur bei 64 Prozent des Schweizer Niveaus. Das hat mit dem Einschnitt des Zweiten Weltkriegs zu tun. Aber nicht nur: Weder zuvor noch danach kam Österreich jemals länger über 80 Prozent der Schweizer Wirtschaftsleistung hinaus. Zuletzt hat Österreich wieder an Terrain verloren.
Probleme sind die anwachsende Staatsquote, der ineffiziente Föderalismus ganz ohne Steuerwettbewerb, die hohen Lohnsteuern und die ungenügenden Investitionen in Hochschulen und Grundlagenforschung. Im Vergleich zur Schweiz hat Österreich zudem wenig multinationale Unternehmen. Die Börse ist kleiner, Risikokapital ist rar. All das schmälert das Wirtschaftspotenzial.
2. Deutschland
Ende des 19. Jahrhunderts waren die Schweiz und Deutschland wirtschaftlich ebenbürtige Länder. Die Schweiz hatte ihre Instrumenten-, Uhren- und Chemieindustrie, Deutschland seine Stahlwerke und den Maschinenbau. Das BIP pro Kopf lag zwischen 80 und 100 Prozent des Schweizer Niveaus.
Im Zuge der Aufrüstungen der 1930er-Jahre stieg das BIP pro Kopf in Deutschland sogar kurz auf 120 Prozent des Schweizer Wertes an. Nach dem Krieg pendelte sich die Wirtschaftsleistung dann bei 80 Prozent ein – knapp unter dem historischen Schnitt von 82 Prozent. Über diese Schwelle kam Deutschland nicht mehr hinaus.
Dies liegt zum einen daran, dass Deutschland nach dem Krieg zweigeteilt war. Im Westen gab es ein Wirtschaftswunder, im Osten ein sozialistisches System. Die Diskrepanz beeinflusst die Statistik noch heute: Auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung liegt das BIP pro Kopf in den neuen Bundesländern rund ein Drittel unter dem gesamtdeutschen Niveau.
Andererseits haben Branchen wie die Kohleindustrie Deutschland in den letzten Jahrzehnten heruntergezogen. Regionen wie Nordrhein-Westfalen haben durch den Niedergang der Kohle stark gelitten. Von diesem Strukturwandel war die Schweiz viel weniger stark betroffen.
3. Frankreich
Kohlereviere gibt es auch in Frankreich. Doch sie sind nicht der einzige Grund, warum das Land in den letzten Jahrzehnten zurückgefallen ist.
Über die gesamten letzten 147 Jahre erzielten die Franzosen im Schnitt ein BIP pro Kopf von 78 Prozent des Schweizer Niveaus. Doch dieser Wert wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr erreicht. Zuletzt bewegte sich die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung bei etwa 65 Prozent von derjenigen der Schweiz.
Frankreich hat im europäischen Vergleich eine hohe Arbeitslosigkeit und verhältnismässig hohe Staatsschulden. Das sind allerdings eher Symptome als Ursachen des Malaise. Schwachpunkte in der französischen Wirtschaft sind der Zentralismus, die Dominanz von Grosskonzernen gegenüber KMU sowie der rigide Arbeitsmarkt. Immerhin ist sie familienfreundlicher: Französinnen bekommen im Schnitt mehr Kinder als Deutsche oder Schweizer.
4. Italien
Italien ist das wirtschaftsschwächste der vier Schweizer Nachbarländer. Das BIP pro Kopf lag im Schnitt nur bei 53 Prozent des hiesigen Niveaus.
Der niedrige Mittelwert verdeckt die spektakuläre Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die italienische Wirtschaft wuchs von den Wunderjahren der 1950er- und 1960er-Jahre bis zur Jahrtausendwende. Das BIP pro Kopf näherte sich bis auf 80 Prozent des Schweizer Niveaus. Italien entwickelte in dieser Phase eine robuste KMU-Struktur mit der Modebranche, mit Möbeln, Schmuck und Maschinen als Schlüsselindustriezweigen.
Gestützt wurde der Aufschwung allerdings auch durch hohe Defizite. Italien hat das Wachstum über eine hohe staatliche Schuldenaufnahme angekurbelt. Der Beitritt zur Europäischen Währungsunion setzte dieser Politik um die Jahrtausendwende ein Ende. Seither hat Italien an Dynamik eingebüsst.