Was steckt eigentlich in der Nationalbank drin?
Eine Anleitung zum Lesen der SNB-Bilanz und zum Verstehen der schweizerischen Geldpolitik: Wir blicken bis 2005 zurück und bereiten uns für 2020 vor. Teil 2 der Serie zur SNB.
Von Simon Schmid, 07.05.2018
Dies ist ein Erklärartikel. Sie lernen daraus:
Was eigentlich in der Nationalbankbilanz steckt, die wir vor zwei Wochen historisch eingeordnet haben.
Wie Geldpolitik vor der Finanzkrise funktionierte und wie sie im Moment funktioniert.
Was die Nationalbank über die nächsten Jahre mit ihrer Bilanz anstellen könnte.
Zunächst eine kleine Begriffsklärung.
0. Was ist eine Bilanz?
Für alle Buchhaltungsmuffel, hier eine Schnellbleiche zur Einführung in die wundervolle Welt der Zentralbankbilanzen (für alle regelmässigen Leserinnen: Es ist fast dieselbe Infobox wie vor zwei Wochen):
Bilanzen und Zentralbankbilanzen
Eine Bilanz ist eine Gegenüberstellung des Vermögens und der Verbindlichkeiten eines Unternehmens. Auf der Vermögensseite («Aktiven») steht der Wert der Dinge, die das Unternehmen besitzt. Auf der Verbindlichkeitsseite («Passiven») stehen die Schulden des Akteurs gegenüber Drittpersonen. Die Differenz zwischen dem Vermögen und den Schulden heisst «Eigenkapital».
Bei einer Zentralbank stehen auf der Vermögensseite («Aktiven») die Wertpapiere im Besitz der Zentralbank. Typischerweise sind es Schuldtitel des eigenen Staats (in den USA und in der Eurozone) oder von anderen Staaten (in der Schweiz). Neuerdings kommen auch Unternehmensanleihen oder Aktien hinzu. Auf der Verbindlichkeitsseite («Passiven») stehen die Guthaben, die Drittpersonen (das heisst meist: Geschäftsbanken) auf ihrem Konto bei der Zentralbank haben.
Üblicherweise werden in einer Bilanz die Aktiven links und die Passiven rechts aufgelistet. In der Grafik, die Sie gleich sehen, stehen die Aktiven oben und die Passiven unten. So lassen sich die Veränderungen im Zeitverlauf abbilden.
Und nun gehts ans Eingemachte. An die Bilanz der SNB.
1. Was in der SNB-Bilanz steckt
Die folgende Grafik sieht ein wenig aus wie eine Trompete.
Sie zeigt die Bilanz der SNB im zeitlichen Verlauf, basierend auf Monatsdaten von Januar 2005 bis Februar 2018. Oberhalb der Nulllinie türmen sich die Aktiven auf, also die Vermögenswerte im Besitz der SNB. Unterhalb der Nulllinie stehen die Passiven, also die Verbindlichkeiten der Nationalbank.
Die Grafik ist symmetrisch, weil die Aktiven und die Passiven in einer Bilanz definitionsgemäss immer gleich gross sind.
Gehen wir die Bilanzposten der Reihe nach durch – von oben nach unten.
Zuerst die Aktiven.
Violett: die Devisenanlagen. Auch bekannt als Devisenreserven. Das sind Wertpapiere in Fremdwährungen (Obligationen und Aktien) in Besitz der SNB. Die meisten davon lauten in Dollar und Euro. Früher machten Devisenanlagen rund die Hälfte der Aktiven aus. Heute sind es über 90 Prozent.
Dunkelrot: übrige Aktiven. Ignorieren Sie diesen Posten vorerst.
Blassorange: die sogenannten liquiditätszuführenden Repo-Geschäfte. Das sind Tauschgeschäfte mit einer Laufzeit von einem Tag bis einem Monat, manchmal auch länger. Diese Geschäfte funktionieren ähnlich wie ein befristeter Kredit: Die SNB schreibt Banken für eine gewisse Zeit Schweizer Franken gut – und erhält als Pfand dafür Wertpapiere (mit hohem Rating). Dafür erhält sie von den Banken einen Zins. Repos spielten bis etwa 2010 eine Rolle, danach kaum mehr (warum, dazu kommen wir gleich).
Goldfarben: Gold. Ein Relikt aus früheren Zeiten. Sein Wert wird zu aktuellen Marktpreisen gemessen. Darum schwankt der Posten in der Bilanz leicht, obwohl die SNB in der Praxis sehr wenig mit Gold handelt.
So weit die Aktiven.
Das Prinzip ist bei all diesen Aktivposten dasselbe: Immer, wenn die Nationalbank irgendeinen Vermögenswert kauft (also etwa Gold, Devisen oder repofähige Wertschriften), dann geht dieser Vermögenswert in den Besitz der SNB über. Die Aktiven nehmen zu, die Bilanz wird grösser.
Gleichzeitig nehmen aber auch die Passiven zu.
Warum? Weil zu jedem Kauf eines Vermögenswerts auch ein Verkäufer gehört. Ihn muss die SNB bezahlen. Sie tut dies, indem sie ihm eine Summe gutschreibt. Und zwar auf dessen Girokonto, das er bei der SNB hat. Diese Girokonten sind aus Sicht der SNB eine Verbindlichkeit.
Damit zu den Passiven in der obigen Grafik.
Hellgrün: der Notenumlauf. Das sind die Banknoten, die in der Wirtschaft zirkulieren. Früher waren sie in Gold eintauschbar, heute nicht mehr.
Dunkelgrün: die Giroguthaben. Also die Guthaben, die Banken auf den Girokonten der Nationalbank haben. Sie lauten in Schweizer Franken. Die SNB kann (technisch) unbegrenzt viele dieser Guthaben schaffen. Denn sie ist die Zentralbank des Landes – sie gibt den Schweizer Franken heraus, die offizielle Währung. Vor der Krise sind die Girokonten in der Bilanz praktisch nicht erkennbar. Inzwischen sind sie riesig.
Dunkelblau: SNB-Bills. Das sind Obligationen, welche die Nationalbank herausgibt. Jemand leiht der SNB für einen bestimmten Zeitraum, meist für einen Monat bis zu einem Jahr, Geld. Nach Ablauf der Frist fliesst das Geld zurück. Es handelt sich also um einen Kredit an die SNB. Sie zahlt dafür einen Zins. SNB-Bills wurden 2011 und 2012 herausgegeben.
Hellblau: Reverse Repos. Sie funktionieren wie Repo-Geschäfte, nur umgekehrt, also liquiditätsabschöpfend. Jemand überlässt der SNB eine Weile lang Schweizer Franken, die SNB gibt dafür ein Wertpapier als Pfand und zahlt einen Zins. Die Nationalbank arbeitete 2011 und 2012 kurz damit.
Grau: übrige Passiven. Ignorieren wir diesen Posten ebenfalls.
Dunkelgrau: das Eigenkapital. Mathematisch gesprochen: die Differenz zwischen Aktiven und Passiven. Buchhalterisch: das Reinvermögen der Nationalbank nach Abzug aller Verbindlichkeiten.
Was die diversen Aktiv- und Passivposten in der SNB-Bilanz mit der Geldpolitik zu tun haben, darum geht es als Nächstes – in einem Abriss über die jüngere Geschichte der Geldpolitik in der Schweiz.
Alle Daten in diesem Artikel stammen aus dem Datenportal der SNB. Unter anderem sind dort die Angaben zur Bilanz der Nationalbank, zu den Zinssätzen und den Devisenkursen (im Monatsmittel) verfügbar.
2. Wie Geldpolitik funktioniert
Sie beginnt zu der Zeit, in der, wie man in Fachkreisen gerne sagt, die Geldpolitik noch «normal» funktionierte. Das ist schon eine Weile her. Mindestens neun Jahre und sechs Monate, um genau zu sein.
Damals, also vor der Finanzkrise, basierte die Geldpolitik in der Schweiz, wie in den meisten anderen Ländern auch, auf zwei simplen Begebenheiten:
Banken brauchten Geld (und zwar: eine bestimmte Menge an Schweizer Franken auf ihren Girokonten bei der SNB).
Die Nationalbank konnte Geld zur Verfügung stellen (und zwar: so viel sie wollte bzw. zu den Konditionen, die sie wollte).
Diese Begebenheiten brachten mit sich, dass Banken gewissermassen in einem permanenten Defizit waren – in einem Defizit an Liquidität. Sie waren dauernd auf Schweizer Franken angewiesen, um die gesetzlichen Anforderungen bezüglich der Mindestreserven, die eine Bank bei einer gewissen Grösse auf ihrem Girokonto bei der SNB halten muss, zu erfüllen (hier eine Statistik, welche den Erfüllungsgrad der Mindestreserven zeigt).
Monat für Monat mussten sich die Banken also Franken bei der SNB borgen. Die Nationalbank stellte den Banken diese Franken über befristete Kredite zur Verfügung – mittels der erwähnten Repo-Geschäfte, bei denen die Banken ein Wertpapier als Pfand hinterlegen mussten. Eine verhältnismässig kleine Anzahl dieser Geschäfte, bei denen die Nationalbank die Zinsen frei wählen konnte, genügte der SNB, um die Geldpolitik zu bestimmen.
Die SNB war zu dieser Zeit gewissermassen das Zünglein an der Waage, wenn es um kurzfristige Kredite in Franken ging – und um den Zins, der für diese Kredite am Markt verlangt wurde, nicht nur in direkten Geschäften zwischen der SNB und den Banken, sondern auch bei Geschäften zwischen Banken.
Hier eine Grafik, die den Leitzins der Nationalbank anzeigt – das bevorzugte und bis zur Finanzkrise einzige Instrument zur Steuerung der Geldpolitik. Sie bezieht sich auf denselben Zeitraum wie oben, also auf 2005 bis 2018.
Niedrige Leitzinsen bedeuten grundsätzlich, dass die Wirtschaft expandieren kann. Sie verbilligen die Finanzierung von Firmen und schwächen den Franken. Hohe Leitzinsen bremsen dagegen die Wirtschaft.
Man sieht auf der Grafik, wie die SNB ihre Leitzinsen vor der Finanzkrise bis auf fast 3 Prozent anhob – ähnlich, wie es andere Zentralbanken zu dieser Zeit auch getan hatten. In der Krise senkte die Nationalbank den Zins schlagartig unter 1 Prozent. Es begann ein neues Kapitel in der Geldpolitik.
Der Wendepunkt datiert vom Herbst 2008. Weltweit gingen Notenbanken zu einer neuen Technik über: zur quantitativen Lockerung. Fortan sollte nicht mehr der Leitzins, sondern die Bilanz der Zentralbank das primäre Mittel sein, mit dem Notenbanken ihre Geldpolitik führten. Der Grund dafür war gleichzeitig simpel und kompliziert. Simpel, weil man bei den Leitzinsen schon fast bei null angelangt war – tiefer konnten und wollten die Zentralbanken sie nicht senken, man brauchte also ein anderes Instrument, um die Wirtschaft anzukurbeln. Kompliziert, weil die quantitative Lockerung eine Technik ist, die an verschiedensten Orten im Finanzsystem einwirken kann, aber Zentralbanken noch wenig Erfahrung damit hatten.
Die quantitative Lockerung, das waren im Wesentlichen Wertpapierkäufe durch die Zentralbanken. Die Federal Reserve, die Europäische Zentralbank und auch die Schweizerische Nationalbank kauften den Banken gewisse Wertpapiere ab und schrieben ihnen dafür Geld auf deren Girokonten gut.
Man sieht diese Änderung in der ersten Grafik. Die Bilanz der SNB dehnt sich gegen Ende des Jahres 2008 erstmals aus. Die Nationalbank schloss damals sogenannte Swap-Geschäfte mit anderen Zentralbanken und direkt mit Banken ab: Sie gab Franken heraus und nahm dafür Dollars und Euros für eine vorgegebene Frist entgegen (diese Geschäfte wurden später weniger wichtig, darum haben wir sie unter den «übrigen Aktiven» subsumiert).
Auf die Krise folgte eine etwas wechselhafte Periode – und schliesslich ein weiterer Paradigmenwechsel. Am 6. September 2011 setzte die Nationalbank eine neue Massnahme ein und legte einen Mindestkurs zum Euro fest.
Ab diesem Tag war klar, dass die Nationalbank etwas tun würde, was ihr zuvor nicht viele Beobachter zugetraut hätten: am Markt unbeschränkt Euros und andere Devisen zu kaufen, um den Eurokurs strikt über 1.20 Franken zu halten. Der Strategiewechsel erfolgte aus der Überlegung heraus, dass eine starke Währung für die Konjunktur- und Preisstabilität ebenso schädlich sein konnte, wie es eine massive Zinserhöhung im alten Konzept gewesen wäre. Die Änderung hatte zur Folge, dass die Bilanz weiter wuchs.
Man sieht das in der obersten Grafik an den violetten Balken. Sie ragten mit jeder Intervention am Devisenmarkt, bei welcher die Nationalbank Euros erwarb, weiter in die Höhe. Man sieht es aber auch an den dunkelgrünen Balken, die nach unten wachsen: den Giroguthaben. Sie nahmen ebenfalls zu. Warum? Weil die SNB die Verkäufer der Devisen in Schweizer Franken bezahlte. Und damit die Guthaben auf deren Girokonten erhöhte.
Je länger der Mindestkurs in Kraft war, desto weniger spielten übrigens die erwähnten Repo-Geschäfte eine Rolle – also das einstige Hauptinstrument der SNB zur Steuerung der Zinsen. Die Zinsen lagen ab 2012 praktisch bei null. Keine Bank war nun mehr auf die Kredite der SNB angewiesen – es gab Liquidität im Überfluss, die Banken hielten weit mehr Franken auf ihren Girokonten, als sie gemäss den gesetzlichen Mindestreserveanforderungen benötigten. So liefen zu dieser Zeit auch die letzten Repos aus.
Eine letzte Neuerung erfolgte im Dezember 2014 bzw. im Januar 2015 mit der Einführung der berüchtigten Negativzinsen. Die Massnahme sollte den Aufwertungsdruck auf den Franken mindern. Dieses Ziel misslang in der Anfangsphase gründlich, die Nationalbank sah sich gezwungen, die Eurountergrenze aufzuheben. Sie fuhr fortan doppelgleisig: mit Währungskäufen einerseits und mit einem negativen Leitzins von –0,75 Prozent andererseits.
Damit sind wir in der Zukunft angekommen. Und bei einer Entschuldigung.
3. Die Zukunft der Geldpolitik
Denn dieser Text ist bereits jetzt deutlich zu lang. Wir müssen dieses Kapitel leider auf den Teil 3 der Serie verschieben, der in einer Woche erscheint.
Wobei, eigentlich kennen Sie die Zukunft ja bereits. Blicken Sie einfach nochmals genau in die Vergangenheit: auf den Zeitraum von Mitte 2010 bis Mitte 2011. Da dachte die SNB schon einmal, die Zukunft habe begonnen.
Haben wir die Bilanz und die Geldpolitik der Nationalbank gut genug erklärt? Oder sind solche Erklärartikel eigentlich ziemlich langweilig und überflüssig? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht»: Hier geht es zur Debatte.