Kinder statt Putzen
Menschen in der Schweiz leisten kaum weniger unbezahlte Arbeit als früher, aber andere: Kinder nehmen mehr Zeit in Anspruch.
Von Olivia Kühni, 02.04.2018
Es ist eine Frage, die sich viele stellen. Wenn die durchschnittliche Arbeitszeit in europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten abgenommen hat: Warum zum Teufel spüre ich so wenig davon? Warum wird der Stapel an Unerledigtem gefühlt niemals kleiner? Vor allem wenn man kleine Kinder betreut oder pflegebedürftige Erwachsene?
Die Antwort auf diese Frage ist eine vielteilige. (Nicht nur, weil Wahrnehmung immer stark subjektiv verzerrt ist.) Zunächst haben die durchschnittlichen Wochenstunden an Erwerbsarbeit zwar im Durchschnitt abgenommen – aber nicht für jede Gruppe, wie hier schon im Auftakttext zum Thema Arbeitszeit beschrieben. Vor allem Frauen über 25 arbeiten heute durchschnittlich mehr Stunden gegen Entgelt als vor einer Generation.
Viel wichtiger aber ist dies: Will man aus Statistiken zur Arbeitszeit eine Erkenntnis zur Belastung von Menschen gewinnen (es gibt durchaus auch andere Erkenntnisziele), muss man zwingend auch die unbezahlte Arbeit miteinbeziehen – insbesondere die Haus- und Familienarbeit. Und die hat in den letzten rund hundert Jahren, anders als die Erwerbsarbeit, übers Ganze gesehen kaum abgenommen. Zu den möglichen Gründen gleich mehr.
Die wohl auffälligste Veränderung ist eine Verschiebung zwischen den Geschlechtern. Für Männer gilt bei der Hausarbeit, was für Frauen im Arbeitsmarkt gilt, wenn auch in deutlich geringerem Masse: Die wöchentlichen Arbeitsstunden haben zugenommen, von durchschnittlich 4 auf über 16 Stunden. Diejenigen der Frauen sind derweil von rund 42 auf rund 28 Stunden gesunken. Das zeigen etwa die Zahlen der Ökonomen Valerie Ramey und Neville Francis für die USA. Insgesamt blieb das Wochenpensum bei rund 22 Stunden fast gleich hoch.
Für die Schweiz reichen die entsprechenden Zahlen des Bundesamtes für Statistik nur bis 1997 zurück. Die Entwicklung aber ist auf diese kurze Frist hierzulande ähnlich: Frauen leisten heute 28,1 Wochenstunden Haus- und Familienarbeit (3,3 Stunden weniger als 1997), Männer 17,9 Stunden (2,2 Stunden mehr als 1997). Insgesamt hat auch in der Schweiz die gesamte wöchentliche Arbeitslast kaum abgenommen, selbst wenn die Zahlen leider nur nach Geschlechtern getrennt ausgewiesen werden. Ein wichtiger Grund für die kaum schwindende Belastung ist, wie ein zweiter Blick in die Statistiken zeigt: die Kinderbetreuung.
Die Angaben zur Entwicklung der Haus- und Familienarbeit («home production») seit 1900 in den USA stammen von den Ökonomen Valerie Ramey und Neville Francis, die mit dafür verantwortlich waren, dass das Thema der unbezahlten Arbeit in den letzten Jahrzehnten stärker in den Fokus rückte. (Siehe auch: «Wie viel wir arbeiten».) Die Daten zum durchschnittlichen Zeitaufwand pro Woche von 1997 bis 2016 stammen vom Bundesamt für Statistik. Die im Text erwähnte Arbeit der Soziologinnen Giulia M. Dotti Sani und Judith Treas finden Sie hier.
Aufgaben machen, füttern, transportieren
Frauen wie Männer wenden heute in absoluten Zahlen weit mehr Stunden als vor zwanzig Jahren dafür auf, Kinder zu füttern, mit ihnen Spiele oder Hausaufgaben zu machen, sie zu begleiten oder zu transportieren. Das sind die Tätigkeiten, die das Bundesamt für Statistik als «unbezahlte Arbeit mit Kindern» erfasst, weil sie potenziell professionell vergeben und bezahlt werden könnten.
Für Frauen macht die Kinderbetreuung einen beachtlichen Teil der Zeit wieder wett, die sie in der letzten Generation an Hausarbeit eingespart haben: Was weniger geputzt wird (–1,6 Stunden), wird nun zusätzlich für die Kinder (+1,2 Stunden) aufgewandt. Bei Männern gehört die Kinderzeit (+0,7 Stunden) neben dem Kochen (+2,2 Stunden) und dem Putzen (+0,8 Stunden) zu den Bereichen, in denen ihr Engagement am stärksten zugenommen hat.
Besonders aufschlussreich sind die Zahlen, wenn man sich nicht den Durchschnitt der gesamten Bevölkerung anschaut – was die Zahlen abflachen lässt, da alles auf mehr Köpfe verteilt wird. Sondern wenn man nur die Haushalte mit Kindern betrachtet. Hier sind die Ergebnisse deutlich: 1997 verbrachten Väter (oder Stiefväter) durchschnittlich rund 10 Stunden pro Woche mit Arbeit rund ums Kind, 2016 waren es rund 14 Stunden. Bei Müttern (oder Stiefmüttern) stieg der Wert von rund 18 Stunden auf 22 Stunden. Kurz: Im Gegensatz zu vor 20 Jahren kommen beide Geschlechter auf je 4 Wochenstunden mehr.
Führt man sich vor Augen, dass Frauen in der Schweiz heute durchschnittlich wesentlich mehr Stunden Erwerbsarbeit leisten als vor zwanzig Jahren (und Männer kaum weniger), wird klar, woher die hohe zeitliche Belastung vieler Eltern zu einem wichtigen Teil kommt: vom zusätzlichen Aufwand für die Kinder.
Die Entwicklung ist übrigens ein Symptom für höhere Bildung und steigenden Wohlstand. Forscher beobachten sie in zahlreichen westlichen Ländern. Ob in Kanada, Dänemark, Spanien oder Finnland, in den USA, in Slowenien oder Grossbritannien: Überall nahm die Kinderzeit seit 1965 um durchschnittlich rund eine Wochenstunde zu, wie etwa die Soziologinnen Giulia M. Dotti Sani und Judith Treas aufzeigen.
Die Ansprüche der Eltern an die eigene Rolle seien gestiegen, schreiben die Autorinnen mit Verweis auf zahlreiche andere Studien. Mütter und Väter wollten einerseits ihre Kinder in anonymen städtischen Umgebungen schützen und andererseits «deren Erfolg in einer zunehmend kompetitiven Wirtschaft sicherstellen».
Eine Ideologie des «intensive parenting» habe über die letzten Jahrzehnte in vielen westlichen Gesellschaften an Auftrieb gewonnen, auch aufgrund von Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie. Dabei werde insbesondere von Müttern, aber auch von Vätern ein Erziehungsstil erwartet, der das Kind ins Zentrum stelle. Mit entsprechenden Kosten – an Geld wie Emotionen.
Nicht zuletzt spielt der soziale Status dabei eine Rolle. Ein intensives elterliches Engagement «gilt nicht nur als dem Kindswohl förderlich, sondern auch als ein Weg, sich von tieferen sozioökonomischen Schichten abzuheben», schreiben Dotti Sani und Treas. Mehr Wohlstand bedeutet also auch im Privaten nicht zwingend, dass man weniger arbeitet. Nur anders.
Eine Ausnahme übrigens gibt es unter den elf von den Soziologinnen untersuchten Ländern: Frankreich. Hier verzichten Eltern darauf, mehr für ihren Nachwuchs zu arbeiten.
Allfällige Erklärungen dafür würden hier zu weit gehen – und möglicherweise unsere Verlegerschaft auf immer entzweien –, darum verweisen wir an dieser Stelle auf ein Interview zum Thema mit der französischen Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter. Diese behauptet: «Eine Französin ist mehr Frau als Mutter.»