Die clevere Schweizer Migrationspolitik
Bern hat im letzten Vierteljahrhundert in Sachen Zuwanderung einiges richtig gemacht. Das legt ein Vergleich nahe zwischen der Schweiz und Grossbritannien.
Von Simon Schmid, 02.07.2018
Die Schweiz und England haben vieles gemeinsam. Beide Nationen haben einen starken Bankensektor, beide scheiden regelmässig im Penaltyschiessen aus. Und in beiden Ländern tobt eine Debatte über die Zuwanderung: In der Schweiz hat sie zur Annahme der Masseneinwanderungsinitiative geführt, in England trug sie massgeblich zum Volksentscheid für den Brexit bei.
Die Schweiz und England – beziehungsweise: Grossbritannien – weisen aber auch Unterschiede auf. Und zwar gerade bei der Zuwanderung. Von diesen Unterschieden – und den möglichen Ursachen – handelt dieser Beitrag.
Unterschiedliche Migrationspolitik
Über die Wanderungsgeschichte der Schweiz haben wir an dieser Stelle bereits vor drei Wochen geschrieben. Drei politische Entscheidungen haben diese Geschichte in jüngster Zeit geprägt:
Der Entscheid in den 1990er-Jahren, vom Kontingentsystem wegzukommen und stattdessen an die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU anzudocken.
Der Entscheid, die Personenfreizügigkeit gestaffelt und mit Übergangsfristen einzuführen: ab 2002 mit siebenjähriger Übergangsfrist für die alten EU-Länder, ab 2006 mit fünfjähriger Übergangsfrist für die osteuropäischen Mitglieder und ab 2011 mit fünfjähriger Übergangsfrist für Rumänien und Bulgarien (während der Fristen galten Inländervorrang und Kontingente).
Der Entscheid, die Personenfreizügigkeit ab 2004 mit sogenannten flankierenden Massnahmen zu begleiten: Instrumenten, die es der Politik vereinfachen, Mindestlöhne in bestimmten Branchen festzulegen und die Einhaltung dieser Mindestlöhne zu überprüfen.
Unter diesem Migrationsregime hat sich die Zuwanderung in die Schweiz in den letzten fünfundzwanzig Jahren entwickelt. Kennzeichnend dafür waren ein erster Anstieg der Zuwanderungszahlen zum Ende der 1990er-Jahre und ein zweiter Anstieg ab der Mitte der Nullerjahre. Die meisten Zugewanderten kamen aus der EU.
Auch Grossbritannien ist in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten zu einem Einwanderungsland geworden. Die Immigration ins Vereinigte Königreich lief allerdings unter anderen Prämissen ab als in der Schweiz.
Als Mitglied der EU übernahm Grossbritannien ab 1993 die Regeln des Binnenmarkts. Zu ihnen gehört die unionsweite Niederlassungs- und Arbeitsfreiheit für EU-Bürger.
Als eines von drei EU-Mitgliedsländern weitete Grossbritannien die Personenfreizügigkeit ab 2004 unverzüglich und ohne flankierende Massnahmen auf die neuen Oststaaten aus (die anderen zwei Länder waren Schweden und Irland, im Rest der EU galten siebenjährige Übergangsfristen).
Als weltoffenes Land liberalisierte Grossbritannien in den 1990er-Jahren die Zuwanderung aus Drittstaaten und ging von Arbeitsbewilligungen zu einem punktebasierten System über: Wer bestimmte Merkmale erfüllte, durfte nach Grossbritannien einreisen – ab 1997 mit der ganzen Familie.
Grossbritannien erlebte drei Zuwanderungswellen. Ende der 1990er-Jahre stieg erst die Migration aus den Nicht-EU-Ländern an – wegen des erleichterten Familiennachzugs. Ab 2004 wanderten dann vermehrt Osteuropäer nach Grossbritannien ein. Und nach der Eurokrise um 2014 kam es zu einem erneuten temporären Anstieg der Zuwanderung.
Im Vergleich der Zuwanderungszahlen (in den Grafiken ist jeweils die Netto-Zuwanderung abgebildet, also die jährliche Immigration abzüglich der Emigration) zwischen den beiden Ländern fallen zwei Dinge auf.
Die Schweiz wies grössere Schwankungen auf als Grossbritannien und verzeichnete relativ zur Bevölkerung höhere Zuwanderungsraten: Ab 2000 lagen diese bei rund 0,5 Prozent der Bevölkerung, ab 2008 bei knapp einem Prozent. Dagegen stieg die Zuwanderung in Grossbritannien während der ganzen Periode nicht über 0,5 Prozent pro Jahr. Ins Vereinigte Königreich wandern verhältnismässig halb so viele Menschen ein wie in die Schweiz.
In die Schweiz wandern verhältnismässig mehr Personen aus der EU ein als nach Grossbritannien. Der Anteil der EU-Bürger an den Zuwanderern lag in der Schweiz in den letzten zehn Jahren bei etwa drei Vierteln. Im Vereinigten Königreich stammen weniger als die Hälfte der Zuwanderer aus der EU.
Einwanderung aus der EU vs. Einwanderung aus Drittstaaten
Die beiden Feststellungen spiegeln sich in der Ausländerstatistik der beiden Staaten. In der Schweiz arbeiten per 2016 erstens verhältnismässig mehr Ausländer: Ihr Anteil an der Zahl der Beschäftigten liegt bei 25 Prozent, in Grossbritannien sind es 17 Prozent. Zweitens arbeiten in der Schweiz verhältnismässig mehr EU-Bürger: 18 Prozent der Erwerbstätigen stammen aus Europa. In Grossbritannien liegt dieser Anteil nur bei 7 Prozent.
Die Zuwanderung in die Schweiz war in der jüngeren Vergangenheit also höher und europäischer als jene nach Grossbritannien.
Sie stammen hauptsächlich von den offiziellen Ämtern: dem Bundesamt für Statistik (BFS) in der Schweiz und dem Office for National Statistics (ONS) in Grossbritannien. Die genauen Quellen sind in den Grafiken verlinkt.
Die Zuwanderung aus der EU gilt als wichtiger Grund, warum viele Briten vor zwei Jahren für den Brexit gestimmt haben. Blickt man auf die Statistik, so erscheint dieses Verhalten paradox: Nicht die EU-Ausländer, sondern die Bürger aus Drittstaaten waren für den Grossteil der Migration verantwortlich. Die Zuwanderung aus der EU war in ihren Dimensionen überschaubar – das zeigt gerade der Vergleich mit der Schweiz.
Doch auch die Statistik der Schweiz wirft Fragen auf, die zunächst paradox scheinen. Wenn die Schweiz eine restriktivere Migrationspolitik als Grossbritannien betrieb: Warum war die Zuwanderung seit 2000 etwa doppelt so hoch wie im Vereinigten Königreich? Und: Hätte diese hohe Zuwanderung nicht wirtschaftliche Auswirkungen haben müssen, etwa auf die Beschäftigung und die Löhne in der Schweiz?
Über Migrationsstudien
Bevor wir auf diese Fragen eingehen, zunächst eine Bemerkung – über alles, was Sie zu Migration je gelesen haben und jemals lesen werden:
Es ist extrem schwierig, die sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Zuwanderung wissenschaftlich belastbar zu beziffern.
Zahlreiche Studien haben dies in der Schweiz über die Jahre versucht. Eine Synthese findet sich etwa im Observatoriumsbericht zum Freizügigkeitsabkommen, den der Bund jährlich erstellt (zu den Folgen der Zuwanderung auf die Beschäftigung auf Seite 56, zu den Löhnen auf Seite 68).
Das Fazit ist nicht einheitlich. Ob die Zuwanderung in die Schweiz zuungunsten eher der niedrig oder eher der hoch qualifizierten Einheimischen war, ist nicht klar. Es gibt auch keine klaren Anzeichen, dass sich die Zuwanderung überhaupt zu irgendjemandes Ungunsten ausgewirkt hat.
Die Gründe dafür, dass sich die ökonomischen Effekte nur schwer fassen lassen, sind in der Fachliteratur hinlänglich bekannt.
Theoretisch betrachtet ist Migration langfristig ein «neutrales» Phänomen. Ob mehr oder weniger Menschen auf einer bestimmten Fläche leben und arbeiten, sollte eigentlich keine Rolle spielen. Entscheidend für den Wohlstand sind Dinge wie technischer Fortschritt oder die Qualität staatlicher Institutionen. Migrationsbewegungen haben gemäss der gängigen Theorie höchstens einen temporären Effekt auf den Arbeitsmarkt.
Methodisch gesehen haben die Sozial- und die Wirtschaftswissenschaften ein grundsätzliches Problem, wenn es darum geht, kontrafaktische Fragen zu beantworten. Fragen wie: Was wäre gewesen, wenn die Zuwanderung nicht ein Prozent, sondern nur 0,5 Prozent betragen hätte? Weil sich dieses Szenario in der Realität nie ereignet hat, müssen Forscher die Frage über Umwege beantworten – indem sie etwa Länder oder Provinzen innerhalb von Ländern mit unterschiedlichen Zuwanderungsraten vergleichen und daraus indirekt Effekte ableiten.
Praktisch sind Themen wie die Zuwanderung zu vielschichtig, als dass sie sich selbst über indirekte Schätzmodelle abschliessend klären lassen. So unterscheiden sich die Migrationspolitik der Schweiz und diejenige Grossbritanniens nicht nur in einer Hinsicht (etwa darin, ob es flankierende Massnahmen gab), sondern in vielerlei Aspekten. Auch der gesamtwirtschaftliche Kontext ist ein anderer: Ehemalige Kohle- und Stahlhochburgen, die sich im industriellen Niedergang befinden, gibt es zwar im Norden von Grossbritannien, nicht aber in der Schweiz. Die Struktur der beiden Länder unterscheidet sich stark. Entsprechend dürfte sich auch die Qualität der Zuwanderung unterscheiden.
Seien Sie also gewarnt: Auch die Grafiken und Schlussfolgerungen, die Sie in diesem Text zu sehen bekommen, sind mit Vorsicht zu geniessen.
Die Zuwanderer und ihre Berufe
Denn: Sie gehen nur auf einen kleinen Teil aller Aspekte ein, die mit der Migration im weitesten Sinne zusammenhängen (Arbeitsmarkt, Wohnungen, Kultur etc). Immerhin: Es sind Aspekte, bei denen sich bezüglich der Schweiz und Grossbritannien tatsächlich Unterschiede ausmachen lassen.
Und zwar geht es um die beruflichen Tätigkeiten, die zugewanderte Personen in den beiden Ländern ausüben. Hier zeigt sich, dass die Schweiz insgesamt über die höher qualifizierte Ausländerpopulation verfügt als Grossbritannien.
Die Zahlen, aus denen sich dies herauslesen lässt, stammen vom Bundesamt für Statistik. Sie sind aufgeschlüsselt nach drei Kategorien: nach Schweizern, nach EU-Ausländern und nach Nicht-EU-Ausländern. Dargestellt für jede der drei Gruppen ist die Verteilung der Arbeitskräfte nach Berufsprofil. Zuoberst stehen jeweils die Profile mit hohen Anforderungen (Führungskräfte, akademische Berufe und Technikerinnen), zuunterst die Profile mit niedriger Anforderung (Anlagen- und Maschinenbediener, Hilfsarbeitskräfte).
Man erkennt in der Grafik, dass EU-Ausländerinnen ähnlich auf die Berufsprofile verteilt sind wie die Einheimischen. Zum Beispiel sind die Prozentwerte für Führungskräfte und Akademikerinnen nahezu identisch, ebenso die Werte von Verkäufern und Handwerkern. Unter den Hilfsarbeitskräften und Bedienern von Maschinen sind die Ausländer aus der EU nur minimal übervertreten.
Etwas anders verteilt sind die Berufsprofile unter den Nicht-EU-Ausländern in der Schweiz. Die oberen Kategorien (Akademiker, Techniker etc.) sind bei dieser Personengruppe weniger stark vertreten. Dafür arbeiten die Ausländer von ausserhalb der EU öfter in den unteren Berufskategorien.
Die Aufschlüsselung legt nahe, dass die EU-Zuwanderung in der Schweiz nicht zu einer Unterschichtung geführt hat. Deutsche, italienische oder portugiesische Arbeitskräfte arbeiten in ähnlichen Positionen wie die Schweizer.
In Grossbritannien ist das Bild anders. Hier sind die EU-Ausländer in den Berufsprofilen mit niedrigen Anforderungen deutlich überrepräsentiert: Fast ein Viertel von ihnen arbeiten in «elementary occupations», also in «einfachen Berufen». Unter den Einheimischen tun dies nur 10 Prozent.
Andererseits sind die Nicht-EU-Ausländer in den «professional occupations» übervertreten.
Die Berufskategorisierung des britischen Statistikamts stimmt zwar nicht eins zu eins überein mit der Kategorisierung in der Schweiz. Beispielsweise werden in Grossbritannien die Land- und Forstwirtschaftsarbeiter nicht separat aufgeführt, dafür gibt es «caring, leisure and service occupations» als Kategorie – also «Pflege-, Freizeit- und Dienstleistungsberufe». Vergleicht man die Nationalitätsgruppen aber innerhalb der beiden Länder, so wird klar: Die zugewanderten Arbeitskräfte landeten in Grossbritannien öfter in einfacheren, schlechter bezahlten Berufen.
Diese Feststellung deckt sich mit dem Befund von Studien. Jene für die Schweiz haben wir bereits erwähnt, sie sind nicht einheitlich: Manche Studien orten eine grössere Konkurrenz seitens von Einwanderern eher im Bereich der hoch qualifizierten Berufe – manche orten grössere Effekte mit entsprechendem Lohndruck eher bei niedrig Qualifizierten.
In Grossbritannien sind die Studienergebnisse etwas deutlicher. Christian Dustmann, Tommaso Frattini und Ian Preston vom Londoner University College orten einen Lohndruck durch die Zuwanderung im untersten Fünftel der Einkommensverteilung – also bei den Berufsprofilen mit tendenziell niedrigen Anforderungen. Eine andere Studie des Home Office ist bezüglich dieses Lohndrucks etwas zurückhaltender.
Eine Parallele und eine Gegenläufigkeit
Nochmals: Man muss vorsichtig sein mit Schlüssen, wenn es um Migration geht. So ist, um ehrlich zu sein, auch der Titel dieses Beitrags etwas geflunkert: Wir wissen nicht mit Sicherheit, wie «clever» die Schweizer Migrationspolitik der letzten Jahre wirklich war und ob sie den Ausschlag dafür gegeben hat, welche Personen in die Schweiz eingewandert sind. Dass die hiesigen Zuwanderer im Durchschnitt recht gut qualifiziert sind, könnte am Ende auch daran liegen, dass es in der Schweiz viele innovative Firmen gibt, die Stellen für hoch qualifizierte Arbeitskräfte schaffen.
Nichtsdestotrotz hier noch eine letzte Doppelgrafik. Sie zeigt, wie sich der Anteil der Arbeitskräfte in den oberen und den unteren Berufsprofilen entwickelt hat – gesondert nach Einheimischen und Ausländern.
Zuerst zur Schweiz, wo das Bild selbsterklärend ist. Man sieht, wie sich die Berufsprofile mit dem Strukturwandel ändern: Mehr und mehr Arbeitskräfte arbeiten in der Führung, in akademischen Berufen oder als Technikerinnen. Der Anteil dieser Profile ist von 2002 bis 2018 sowohl bei den Einheimischen als auch bei den Ausländern gestiegen.
Und nun zu Grossbritannien, wo die Klassifizierung nicht ganz deckungsgleich mit der Schweiz ist, aber qualitativ doch vergleichbar.
Statt einer Parallelentwicklung beobachtet man hier eine Schere: Während der Anteil der «oberen» Berufsprofile unter den Einheimischen zwischen 2002 und 2013 konstant gestiegen ist, hat er unter den Ausländern abgenommen. Und zwar besonders ab 2004, als Grossbritannien seinen Arbeitsmarkt ohne Restriktionen für Zuwanderer aus den neuen EU-Oststaaten öffnete.
Die Schweizer Migrationspolitik ist im Fluss. Weil sie mit der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative nicht zufrieden ist, hat die SVP eine Kündigungsinitiative lanciert: Der Bundesrat soll per Volksentscheid dazu verpflichtet werden, die Personenfreizügigkeit mit der EU zu beenden.
Der Bundesrat verhandelt seinerseits mit der EU über ein institutionelles Rahmenabkommen. Und wird dabei womöglich, nach Aussagen von Aussenminister Cassis, Abstriche bei den flankierenden Massnahmen in Kauf nehmen. Ob das clever ist, werden wir ein anderes Mal beleuchten – noch ist nicht bekannt, welche Einschränkungen bei den flankierenden Massnahmen gemacht würden.
Halten wir für den Moment einfach fest: Die migrationspolitischen Entscheide der Schweiz waren in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht die dümmsten.
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