Die Kunst der Langsamkeit
Erschöpfung, Zeitnot, Erlebnishunger: Der Mensch im Spätkapitalismus soll und will ständig funktionieren. Dabei bräuchte er nichts dringender als mehr Sinn für Musse. Wie das geht, führt ein Gemälde Caspar David Friedrichs vor Augen.
Von Kia Vahland, 03.10.2023
Manche gesellschaftlichen Missstände sind lange bekannt und benannt, scheinen aber trotzdem vollkommen selbstverständlich zu sein, weil sich alle an sie gewöhnt haben. So ist das auch mit der Erschöpfung der eigentlich doch einigermassen privilegierten Mittelstandsmenschen in Europa.
Es gibt zahlreiche Untersuchungen, Plädoyers und lebenspraktische Ratgeber, die davon handeln: Zeitnot, ständige Erreichbarkeit, stetes Funktionierenmüssen in allen Lebensbereichen haben zugenommen in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten. Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit lösen sich nicht nur in kreativen Berufen auf. Anforderungen wachsen selbst bei kleinen Dingen: Wo früher ein Kassierer stand, soll man seine Einkäufe im Supermarkt nun selbst scannen; wer Sicherheitsverfahren für seine Onlinedienste einrichten will, sollte sich mindestens einen Abend freihalten; Angestellte kleben ihre Spesennachweise nicht mehr schnell auf DIN-A4-Zettel, sondern müssen erst ein eigenes Tool beherrschen, um Erstattung zu beantragen.
Die Digitalisierung hat Arbeitsplätze im Service eingespart. Weniger Arbeit macht sie nicht; nur haben jetzt die Kundinnen und Nutzer diese zu verrichten – wenn sie nicht gerade Managerinnen sind, deren Assistenten so etwas beflissen erledigen.
Die immer intensivere Vertaktung des Lebens aber ist nicht nur auferlegte Fron; sie ist längst auch selbst gewählt oder erscheint zumindest so zwingend, dass viele kaum noch sagen können, ob sie das eigentlich so wollen oder nicht. Effizient zu sein, bereitet ja erst einmal das gute Gefühl, etwas zu schaffen; erst danach sind die Belastungen zu spüren.
Oft geht es auch kaum anders: Vor allem Mütter jonglieren Job, Haushalt und Kinder, behindert durch unzureichende und zu teure Betreuungsmöglichkeiten. In der Schweiz steigen die Krankenkassenprämien; in anderen europäischen Ländern schlägt die Inflation extremer zu. Viele werden nicht ausgerechnet jetzt Arbeitspensen reduzieren – erst recht nicht in Deutschland mit seiner inzwischen unzureichenden Altersvorsorge.
Derweil hat sich auch die Arbeit selbst in sehr vielen Branchen verdichtet – ohne dabei weniger bürokratisch zu werden. Nach Ende des Kalten Krieges setzte sich vielerorts eine rabiate Wachstumsideologie durch, politisch wie ökonomisch. Westliche Gesellschaften achteten immer weniger auf logistische und auch militärische Vorsorge. Stattdessen ging es darum, Schlupflöcher vermeintlicher Ineffizienz zu schliessen, um konkurrenzfähig – auch so ein Wort – zu bleiben. Produktionen sensibler Güter wurden ins billigere Ausland ausgelagert, und Konzerne beschränkten ihre Lagermöglichkeiten im Vertrauen darauf, dass immer alles irgendwo einkaufbar ist.
Die neoliberale Optimierungslogik erfasste bald auch Behörden und Institutionen, die nun permanent evaluiert werden, Zielvorgaben einhalten müssen und change manager beschäftigen. Der Soziologe Colin Crouch hat in seinem Buch «Die bezifferte Welt» ausgeführt, was das für Grossbritannien bedeutete: Ökonomische Kennziffern wurden schon in der Regierungszeit Margaret Thatchers zum Mass der Dinge.
Crouch zufolge führte das dazu, dass Klinikärztinnen weniger Prävention anordneten, aber mehr Demenzdiagnosen stellten – seit sie nach Fallzahl honoriert wurden. Und manche Polizeiwache verzeichnete nach ihrer Beobachtung plötzlich kaum noch Vergewaltigungen. Nachdem nämlich eine neue Regel die Leistungsnachweise von Polizeieinheiten an die Kriminalstatistik gekoppelt hatte, redeten einige Polizisten offenbar betroffenen Frauen aus, Anzeige zu erstatten. Crouch erkennt eine Entprofessionalisierung westlicher Gesellschaften, weil Expertinnen sich immer stärker quantitativen statt qualitativen Anforderungen unterordnen müssen.
Das Buch ist im Jahr 2015 erschienen. Seitdem hat sich einiges geändert, wenn auch immer nur mit zwei Schritten vorwärts und einem zurück.
Erstens haben Pandemie und Klimawandel den Nutzen von Wissenschaftlichkeit zurück ins allgemeine Bewusstsein gebracht – wobei in einer Gegenbewegung Virologen, Biologinnen und Geologen verunglimpft wurden wie selten zuvor in der Moderne.
Zweitens wurde in der Corona-Zeit deutlich, wie gefährlich Arbeitskräftemangel und Überlastung vor allem in den Kliniken, der Pflege und anderen systemrelevanten Berufen sind – ohne dass sich daran freilich irgendwo grundlegend etwas geändert hätte.
Drittens steht durch Pandemie, Klimakatastrophen und Krieg in Europa nun die unerbittliche Effizienzlogik der Export- und Importwirtschaft infrage; Lieferketten können unterbrochen, Materialien knapp und Geschäfte mit Unrechtsregimen riskant werden. Auch diese Einsicht hat noch nicht voll durchgeschlagen; ein Primat des Politischen vor kurzfristigen ökonomischen Gewinnen kostet schliesslich Geld, Ideen, einen klaren Willen und viele Absprachen.
Also wird weiter erst einmal alles auf Kante genäht; in der Folge wirbelt auch das Individuum im Akkord. Und kommt vor lauter Pflichten, echten und vermeintlichen, zu nichts, jedenfalls nicht zur Ruhe. Das bedauert der Philosoph Byung-Chul Han in seinem 2022 erschienenen Buch «Vita contemplativa oder von der Untätigkeit». Er kritisiert die Verzweckung der Lebenszeit und setzt dagegen auf eine freie Form, untätig zu sein, als «Grundformel des Glücks». Diesen Zustand dürften viele zuletzt in ihrer Kindheit erlebt haben, jedenfalls wenn diese vor dem Siegeszug des Internets und der sozialen Netzwerke lag.
Dabei ist in der europäischen Geistes- und Gefühlsgeschichte fest verankert, dass die Vita activa, das tätige Leben, in einem Wechselspiel steht mit der Vita contemplativa, der Musse – nach der allerdings in manchen Phasen und Epochen mehr verlangt wird als in anderen.
In Venedig machte sich kurz nach 1500 eine junge Generation von Adligen, Schriftstellern und Künstlern auf, dem ökonomischen Pragmatismus ihrer Väter poetisches Verlangen entgegenzusetzen. Denn die Alten hatten mit ihrer Taktiererei die Republik in die Isolation und in trostlose Kriege mit so gut wie allen Grossmächten getrieben. Die Jungen schufen nun dichtend und malend eine arkadische Gegenwelt der Empfindsamkeit, aber auch der Todesgedanken.
Drei Jahrhunderte später strebten die deutschen Romantikerinnen nach Selbstbesinnung und danach, möglichst zweckfrei die äusseren und inneren Dinge zu erspüren. Kurz zuvor war die alte Welt in der Französischen Revolution von 1789 zusammengebrochen. Nötig erschienen vielen Denkern nun Kontemplation, Gedankenkraft und emotionale Energie, um die übrig gebliebenen Fragmente in der Fantasie zu etwas Neuem zusammenzufügen.
In der Malerei gelang das wie keinem anderen Caspar David Friedrich. Er schmeichelt seinen Betrachterinnen nicht, lockt sie nicht mit lieblichen Landschaften und betulichen Erzählungen – sondern er fordert sie, sich einzubringen in die Anschauung von dem, was ist. Man muss schon etwas verweilen vor seinen Farbwundern, den zart getupften Blumen und nahezu unendlich weiten Blicken, der Dunkelheit und dem gleissenden Licht, den harten Geometrien und weichen Lasuren. Dann aber tut sich eine Chance zur Vita contemplativa auf, die im visuell überbordenden Alltag der Gegenwart nur selten zu haben ist.
Ein besonders schönes Beispiel ist Caspar David Friedrichs «Mondaufgang am Meer» von 1822.
Das Gemälde ist wegen seiner intensiv dunklen und nachgedunkelten Farbigkeit kaum reproduzierbar (schon deswegen lohnt ein Abstecher in die laufende Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Winterthur). Wolken schwingen sich über einen breiten Meereshorizont, sie umfangen die Mondscheibe, betten sie eher ein, als dass sie ihren Schein verfinstern. Drei Menschen haben sich am Ufer auf einem Felsen niedergelassen und beobachten, wie der Himmel sich langsam in immer wärmeren Tönen erhellt.
Wie so oft bei diesem Maler sehen wir die Figuren fast ganz von hinten. Wir können ihre Gefühle nicht aus ihren Mienen ablesen, nur aus ihren Körperhaltungen. Die beiden vorderen, zwei junge Frauen mit Dutt, sitzen vertraut beieinander; konzentriert und aufgeschlossen betrachten sie das Schauspiel der Natur und die beiden Segelschiffe auf dem eher ruhigen Meer. Hinter ihnen, mit etwas Abstand, krümmt ein Jüngling melancholisch seinen Rücken. Immerhin sein blitzend weisser Kragen glitzert im Mondschein; gänzlich der Trübsal verfallen ist der Mann wohl nicht.
Man kann sich nun aussuchen, wer einem näher ist: die beiden zukunftsfreudigen Frauen, die offen sind für das, was da kommt – oder ihr in Gedanken versunkener, einsamerer Begleiter. Wobei: Wirklich nah ist den Betrachtenden keine der drei Figuren, schliesslich hat der Maler unwirtliches braunes Gestein im Vordergrund platziert. Solche Widerstände liebt er, auf dass man länger innehalte, es sich nicht zu einfach mache mit seiner Kunst und der in seinen Augen göttlichen Schönheit, die sie offenbart.
Nun hat Friedrich keine Achtsamkeitsübung für spätere Generationen gemalt, die sich von Aufgabe zu Aufgabe, Erlebnis zu Erlebnis hangeln und nebenbei den Planeten zerstören, den er feierte. Wohltuend ist seine Kunst aber doch gerade heute. Vielleicht ist wieder einmal eine Zeit angebrochen, in der es viel Musse bräuchte, um aus verfahrener Lage herauszufinden.
Illustration: Alex Solman
Teresa Bücker: «Alle Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit». Ullstein, Berlin 2022. 400 Seiten, ca. 33 Franken.
Werner Busch: «Caspar David Friedrich». C. H. Beck, München 2021. 128 Seiten, ca. 15 Franken.
Colin Crouch: «Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht». Suhrkamp, Berlin 2015. 250 Seiten, ca. 34 Franken.
Johannes Grave: «Caspar David Friedrich». Prestel, München 2022. 288 Seiten, ca. 45 Franken.
Byung-Chul Han: «Vita contemplativa oder von der Untätigkeit». Ullstein, Berlin 2022. 128 Seiten, ca. 34 Franken.