Ich fordere, dass wir Care-Arbeit als Arbeit benennen
Einem Kind die Haare waschen ist doch ganz normal. Stimmt. Trotzdem ist es Arbeit. Serie zum feministischen Streik, Folge 4.
Von Cornelia Eisenach (Text) und Johanna Hullár (Bild), 15.06.2023
Eines Abends scrollte ich durch meine Twitter-Timeline: Leute bedankten sich dort für Preise, die sie gewonnen hatten, bewarben Bücher, die sie veröffentlicht hatten, verkündeten den Traumjob, den sie ergattert hatten. Und kriegten viele, viele Likes dafür.
Und ich? Ich war zu Hause und hatte an dem Tag zwei schier unmögliche Dinge vollbracht: Ich hatte meinem Vierjährigen die Haare gewaschen. Und verhindert, dass er dabei in Tränen ausbrach.
Doch wohin mit meinem Glück? Statt dass es dafür Beifall in Herzchenform gab, hörte ich Stimmen in meinem Kopf: Das gehört ja wohl dazu! Du wolltest doch Kinder! Ist doch ganz normal!
Für meinen Erfolg gab es keinen Preis. Keine Likes. Keine Anerkennung.
Solche Tätigkeiten, wie einem Kind die Haare zu waschen, Care-Arbeit genannt, gelten als selbstverständlich. Als natürlich, als «keine richtige Arbeit».
Serie zum feministischen Streik
Es ist wichtig, Probleme zu benennen. Noch besser ist es, Lösungen zu präsentieren. In der Woche des feministischen Streiks stellen sechs Republik-Autorinnen konkrete Forderungen. Zur Übersicht.
Folge 3
Ich fordere eine feministische Internationale
Sie lesen: Folge 4
Ich fordere, dass wir Care-Arbeit als Arbeit benennen
Folge 5
Ich fordere die Entzauberung der Kleinfamilie
Folge 6
Ich fordere, Werk und Künstler zusammenzudenken
Debatte
Was fordern Sie?
Die Autorin Mirna Funk sagte vor kurzem in einem Interview, sie habe freiwillig ein Kind bekommen, das sei Privatsache: «Ich finde es gruselig und schrecklich, dass diese Beziehung zu meinem Kind als Arbeit definiert wird.»
Sicher: Es kann schön und bereichernd sein, Kinder zu umsorgen und sie durchs Leben zu begleiten. Dass dieses Tun aber auch Arbeit ist, wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, wie viel Zeit es in Anspruch nimmt.
In der Schweiz investieren Frauen im Schnitt fast 30 Stunden pro Woche in die Haus- und Familienarbeit. Bei den Männern sind es keine 20. Mütter kleiner Kinder sind meist 14 Stunden am Tag beschäftigt, schreibt die Autorin Teresa Bücker in ihrem Buch «Alle Zeit».
Das bedeutet auch, dass diese Frauen weniger Zeit haben, über die sie frei verfügen können. Je mehr freie Zeit, desto grösser sind die Chancen am Arbeitsmarkt, desto besser kann man der eigenen Gesundheit Sorge tragen, desto eher sich politisch engagieren, kurz: desto grösser sind die Handlungsspielräume. Die freie Zeit, über die jemand verfügt, die Zeitsouveränität, ist laut Teresa Bücker eine Machtfrage.
In ihrem Buch schreibt sie: «Care-Gebende sollten Leistungen, die sie jeden Tag erbringen, nicht kleinreden, selbst wenn sie diese Aufgaben gern übernehmen.» Bücker zitiert die US-amerikanische Autorin und Feministin bell hooks: Diese ermutige dazu, «es als ‹Geste von Macht und Widerstand› zu begreifen, der eigenen Arbeit Wert zuzuschreiben, unabhängig davon, ob sie bezahlt werde oder nicht».
Care-Arbeit, so Bücker, dürfe sich «gut anfühlen, liebevoll und bereichernd sein und trotzdem als Arbeit bezeichnet werden». Denn ohne sie würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren.
Es ist oft unsichtbar, dass Menschen täglich kranke Partner pflegen, sich um ihre alten Eltern kümmern, Kinder grossziehen. Bleibt das so, weil wir es selbst für nicht erwähnenswert halten, dann bleiben auch die Verhältnisse bestehen: etwa dass Unternehmen die Care-Arbeit, die für einen reibungslosen Betrieb erforderlich ist, als Gratisressource nutzen. Dass Frauen weniger freie Zeit und dadurch weniger Macht haben.
Sobald wir Care-Arbeit benennen, können wir darüber reden, können wir sie vermessen, wie das etwa die feministische Ökonomin Mascha Madörin tut. Gemäss ihren Schätzungen kommt die unbezahlte Care-Arbeit für Kinder und Familie in der Schweiz auf einen Wert von 107 Milliarden Franken im Jahr oder monatlich 7000 Franken pro Paarhaushalt mit zwei Kindern.
Egal, welche weiteren Forderungen wir stellen wollen. Ob wir fordern, Care-Arbeit in Zukunft zu bezahlen. Oder ob wir fordern, die Erwerbsarbeitszeit zu reduzieren, damit jede und jeder die Zeit hat, sich ohne Burn-out den Kindern, den kranken Eltern, dem Haushalt zu widmen – der erste Schritt ist: diese Arbeit benennen, zeigen und anerkennen.
Die Bilder zur Serie zum feministischen Streik stammen von Johanna Hullár. Die gebürtige Budapesterin ist Fotografin und Videokünstlerin und lebt in Zürich. In ihrer Arbeit interessiert sich Hullár für «Verbindung, Intimität, Materialität, Zeit und Wahrnehmung», wie sie selber schreibt. Die Bilder hat Hullár für die Republik kuratiert, sie stammen aus diversen Projekten und Kollaborationen der Fotografin und sollen einen kunstvollen Blick auf Frauenanliegen eröffnen – der natürlich auch viel Interpretationsspielraum lässt. Mehr zu Johanna Hullár gibt es auf ihrer Website.
Was muss sich für Sie in Sachen Gleichstellung ändern? Warum ist Ihnen genau diese Forderung wichtig? Und was erhoffen Sie sich dadurch? Reden Sie mit und teilen Sie Ihre Forderungen mit der Republik-Community. Hier gehts zur Debatte.