«Mit einem Nickerchen bewirke ich keinen Umsturz. Aber …»
Die Soziologin Nadia Shehadeh plädiert für mehr Faulheit und weniger Ambitionen. Im Interview spricht sie über die Illusionen der Chancengleichheit und erklärt, weshalb Sie sich für ein Wochenende auf dem Sofa nicht schämen sollten.
Von Ronja Beck, 07.08.2023
Nadia Shehadeh, ich liege unwahrscheinlich gerne auf dem Sofa. Sie sind einer der wenigen Menschen, denen ich das ohne schlechtes Gewissen eingestehen kann.
Wenn wir auf dem Sofa liegen, in den Tag hineinträumen oder ein Nickerchen machen, dann gehen wir unseren Bedürfnissen nach Ruhe und Entspannung nach. Nun wird das von Arbeitgeberinnen, Karrieremenschen, auf Social Media, im privaten Umfeld – also eigentlich überall – als überflüssig oder unnütz dargestellt. Sie diskreditieren Leute als «Faulenzer» oder «Faulenzerinnen», wollen sie damit zu mehr Produktivität pushen – und das in einer Zeit, in der alle erschöpft sind. In der die Erwerbsbeteiligung so hoch ist wie noch nie, in der alle so viele Überstunden machen wie noch nie.
Sie sagen, Faulenzen sei gut. Zugegeben, ich liege zwar gerne tagelang auf dem Sofa, denke danach aber oft: Verdammt, ich vergeude mein Leben!
Der neoliberal ausgeprägte Kapitalismus treibt uns alle Träumereien aus. Wir sollen immer noch leistungsfähiger werden. Eine Fremdsprache lernen, wandern gehen. Wenn mich dann meine Freunde fragen, was ich am Wochenende gemacht habe, und ich antworte: «Netflix geguckt und auf dem Handy gesurft», dann berichten die meisten von ähnlichen Aktivitäten – aber so richtig stolz darauf ist niemand. Wir sind gepolt auf perfekte Produktivität, die es nicht gibt, und hängen in einer ewigen Unzufriedenheit fest. Das finde ich traurig. Deshalb habe ich mich entschlossen: Ich schäme mich nicht mehr für meine Bedürfnisse!
Sie sagen, Ausruhen sei ein politischer Akt. Das müssen Sie erklären.
Natürlich werde ich mit einem Nickerchen keinen politischen Umsturz bewirken. Aber in dem Moment, in dem ich mich ausruhe, verweigere ich meinen Körper und meine Arbeit dem kapitalistischen System. In einem System, das auf Ausbeutung ausgerichtet ist, ist das schon ein wenig revolutionär. Afroamerikanische Aktivistinnen haben das schon vor Jahren beschrieben – ich komme, was das betrifft, also nicht mit komplett neuen und innovativen Ideen um die Ecke.
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin. Zwischen 2019 und 2022 schrieb sie in ihrer Kolumne im «Missy Magazine» über Feminismus, Popkultur und gesellschaftspolitische Themen. Seit 2007 arbeitet sie in der Erwachsenen- und Jugendarbeit im deutschen Bielefeld. Im Februar 2023 erschien im Ullstein-Verlag ihr erstes Buch «Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen».
Begibt man sich in der Leistungsgesellschaft nicht auf direktem Weg Richtung Unglück, wenn man sich gegen die Karriere entscheidet?
Ich habe mich mit Anfang 30 von Aufstiegsgedanken als Soziologin verabschiedet. Ich lebe mein Durchschnittsleben mit meiner Stelle in der Jugendberufshilfe, und ich schreibe ein bisschen. Das macht mir Spass. Mehr muss ich nicht erreichen.
Wie sind Sie an diesen Punkt gekommen?
Ich habe ab 18 Jahren sehr viel in vielen verschiedenen, auch schlecht bezahlten Jobs gearbeitet. So habe ich früh meine rosa Brille verloren. Als ich in der Bäckerei hinter der Theke stand, wurde mir klar: Aus viel wird nicht automatisch viel.
Was meinen Sie damit?
Es gibt diese breit gestreute Idee eines Arbeitsmarktes, in dem jeder oder jede mitmachen und erreichen kann, was er oder sie will. Als wäre alles nur eine Frage von Fleiss und Willen. Dabei wissen wir: So ist es nicht. Es gibt keine Chancengleichheit, das belegen Studien. Es gibt viele Menschen, die am Wettbewerb nicht oder nur am Rande teilnehmen können. Weil sie Kinder, eine Migrationsgeschichte oder eine Beeinträchtigung haben. Weil sie eine Frau oder eine weiblich gelesene Person sind und und und. Ich möchte den Leuten ein Angebot machen, sich ihre mentale und körperliche Bedürfnisse – zum Beispiel Faulenzen – nicht abzutrainieren, nur weil uns das angeblich am Vorankommen hindert.
Was ist der Kern Ihrer Botschaft: dass man keine Karriere machen muss oder dass viele keine machen können?
Beides. Aber es ist klar, dass mein Buch wohl eher Menschen anspricht, die sich in einer ähnlich privilegierten Position befinden wie ich. Also Leute, die akademisiert sind, die viel Zeit haben, um über ihre berufliche Laufbahn nachzudenken – und nicht jeden Tag ums Überleben kämpfen. Mich hat gefreut, dass sich auch viele Mütter in meinem Buch wiedergefunden haben, obwohl ich selbst keine Kinder habe. Und ich habe sehr freundliche Zuschriften erhalten – von Menschen mit Burn-out oder solchen, die gerade gekündigt haben und sich neu orientieren. Und auch von vielen jungen Menschen, die gerade die ersten Schritte nach dem Studium auf dem Arbeitsmarkt wagen und sich überfordert fühlen.
Sie kritisieren in Ihrem Buch auch das Bild von Girlbossen, also Frauen, die sich an die Spitze von Unternehmen gekämpft haben und andere dazu inspirieren wollen, dasselbe zu tun. Und das, obwohl das Ziel für die allermeisten unerreichbar ist. Aber spielt das überhaupt eine Rolle, solange solche Geschichten den Menschen im Alltag Hoffnung schenken?
Natürlich können wir berufliche Ambitionen haben, Antrieb verspüren und uns von solchen Geschichten inspirieren lassen. Aber nicht jede Person kann es oder tut es und nicht jede muss es. Wenn ich auf meine Arbeit mit Jugendlichen schaue, dann finde ich, dass ich in diesem Beruf grosse Dinge erreicht habe – auch ohne dabei einen Nobelpreis zu gewinnen. Ich finde es bedenklich, dass uns neoliberale Leistungsideen das Gefühl geben, es müsse immer weiter, weiter, weiter gehen. Folgt man diesem Dogma, dürfen wir nie ankommen. Ich glaube auch, dass Frauen immer schon sehr verschiedene Vorbilder hatten. Ich hatte sicher auch schon Momente, in denen ich mich mit Girlbossen identifiziert habe. Aber ich habe mich genauso mit «Loserinnen» identifiziert, die sich dem Leistungsgedanken widersetzen. Beruflicher Erfolg muss nicht zwingend die Masseinheit für ein dauerhaft erfülltes Leben sein, die Rentnernachbarin oder die gerade erwerbslose Freundin können genauso inspirierend sein.
Für Loserinnen gibt es aber keinen Applaus.
Absolut. Ich denke das oft bei bekannten Persönlichkeiten wie der Sängerin Britney Spears oder gerade erst bei Sinéad O’Connor. Letztere hat sich zu Lebzeiten den Vorgaben der Musikindustrie widersetzt und ist angeeckt. Als sie vor kurzem verstarb, hiess es in den Nachrufen: Wir hätten sie mehr schätzen sollen. Wie schlimm, dass dieser Gedanke erst dann einsetzt.
In einer Gesellschaft, in der viele nicht mehr religiös sind, fällt blöderweise auch der Himmel nach dem Ableben weg. Füllen unsere Ambitionen da nicht eine schmerzende Lücke der Sinnlosigkeit?
Auf jeden Fall. Wir haben das Spirituelle ersetzt durch die Werkfrömmigkeit und die protestantische Askese. Das wurde mir zum ersten Mal bewusst, als ich mich als Teenager nahezu obsessiv mit viktorianischer Literatur beschäftigte. Ich war fasziniert von den Brontë-Schwestern, wie sie ständig schreiben, sticken, Latein lernen. Diese Geschäftigkeit habe ich richtig inhaliert, für gut und wichtig befunden. Nur ist sie nicht in Stein gemeisselt. Es sind kulturelle Muster, in denen wir uns bewegen und bewegen müssen. Oft sind wir uns dieser Muster nicht einmal bewusst. Dabei kann man Sinnhaftigkeit genauso in zwischenmenschlichen Beziehungen anstatt in der Arbeit finden.
Wenn aber alle die Karriereleiter hochklettern, kann ich mir schon sagen, dass ich das nicht kann oder muss. Schlecht fühle ich mich trotzdem.
Ich glaube leider, dass man diesem Gefühl nie richtig entfliehen kann. Sich der Mechanismen bewusst zu werden, ist aber bereits ein grosser Schritt.
Pandemie, Krieg, Klimakrise, Inflation – braucht es nun nicht gerade Menschen mit besonders grossen Ambitionen, um diese Krisen zu bewältigen?
Ich verbiete niemandem, viel zu arbeiten. Ich rate nur, nicht dem neoliberalen Mythos zu glauben, dass alle die gleichen Chancen hätten. Armut, Reichtum, Zugehörigkeiten werden vererbt. Akademikerinnenkinder werden eher Akademikerinnen und Arbeiterkinder eher Arbeiter. Die Idee, dass überall nur die Besten ihres Fachs sitzen und anführen, ist obsolet.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie verrückt es ist, dass wir trotz aller Krisen ganz normal zur Arbeit gehen sollen, als wäre nichts.
Gerade nach den ganzen Krisen der letzten Jahre ist das Bedürfnis nach einem ruhigen, sicheren, normalen Leben noch grösser geworden, habe ich das Gefühl. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mit dem Buch einen Trend bediene: keine Passion für den Job zu haben. Viele stellen gerade infrage, ob die Arbeit wirklich etwas mit Liebe und Leidenschaft zu tun haben muss. Oder ob wir hauptsächlich einfach arbeiten, um unsere Existenz zu sichern.
Vor ein paar Jahren wurde mit «quiet quitting», also dem stillen Kündigen, in den USA ein neuer Begriff für Menschen erfunden, die sich in ihrem Job nicht mehr verausgaben wollen. Ich dachte lange, damit seien Leute gemeint, die sich ihrer Arbeit verweigern.
Und dabei geht es einfach nur um Menschen, die Dienst nach Vorschrift leisten! Das wird von vielen Arbeitgeberinnen jetzt moralisch bewertet. Dasselbe gilt für die Debatte um den Fachkräftemangel. Viele Konzerne und Firmen beklagen nun: Alle wollen heute studieren! Niemand will mehr richtig arbeiten! Dabei wurde jahrelang gepredigt, dass jede machen und werden kann, was sie möchte. Und jetzt, wo es so viele offene Stellen gibt, können und möchten die Menschen tatsächlich mehr aus sich machen – und verlangen bessere Konditionen. Die Karriere, der Aufstieg, die Ausbildungen, die uns Arbeitgeber und Girlbosse während Jahren angeraten haben, werden plötzlich zum Verrat, wenn die Leute fehlen, die an der Maschine stehen.
Die Lücke sollen unter anderem Frauen stopfen. Wie wichtig ist Karriere für die Gleichstellung?
Mir wird oft gesagt: Nadia, du sagst, wir Frauen sollen keine Karriere machen müssen, dabei ist das doch gerade für Frauen total wichtig! Klar, antworte ich dann, ich finde es sehr wichtig, dass Frauen finanziell unabhängig sind. Aber ich möchte nicht, dass arme und finanziell abhängige Frauen glauben, sie seien selbst schuld. Deshalb behaupte ich auch nicht, wir müssen jetzt alle einfach unsere Einstellung ändern und chillen und dann wird alles super. Das können sich im jetzigen System nur wenige Menschen leisten.
Frauen mit Kindern gehören da wohl eher nicht dazu.
Absolut. Wir wissen aus Studien, wer die meiste Care-Arbeit leistet. Aus unserer eigenen Lebensrealität oder aus Film und Fernsehen kennen wir dieses Bild vom Mann, der nach der Arbeit nach Hause kommt und direkt auf die Couch zieht. Viele Frauen, die ich kenne, stecken hingegen in einem Dauerrödeln fest. Sie sind immer in Bewegung, tun immer etwas Vernünftiges, sind immerzu sinnvoll geschäftig. Das Bild des Mannes, der mit Pizzakarton und Coladose ein Wochenende ungeduscht vor der Spielkonsole verbringt, lässt sich kaum auf die Frau anwenden, ohne sie im gleichen Zug zu pathologisieren und zu denken: Die muss durchgedreht sein! Wie ungerecht, denn ich möchte das nämlich auch tun können.
Sind quiet quitting und Fachkräftemangel ein Grund zur Hoffnung, dass es auf die Dauer einfacher wird, sich bei der Arbeit nicht komplett zu verausgaben?
Da bin ich skeptisch. Einerseits gibt es Branchen, die so händeringend nach Personal suchen, dass sie die Arbeitskonditionen verbessern müssen; es ist von einer Revolution auf dem Arbeitsmarkt die Rede. Andererseits ist unser System immer noch auf Wachstum und oft unbezahlte Mehrarbeit ausgerichtet. Wenn das nicht wichtig wäre, wäre quiet quitting als Begriff nicht so durchgestartet. Die Frage ist nun: Beschränken sich die Betriebe auf den neoliberalen Kniff, um ihre Mitarbeiter zu halten, und stellen statt Obstkorb und Kickertisch wie früher in den Start-up-Büros nun die 4-Tage-Woche in Aussicht? Geht es wirklich um eine Verbesserung von Arbeitsbedingungen oder möchte man mit neuen Versprechungen Mitarbeiterinnen anlocken? Ich denke, viele Debatten, die wir heute führen, sind nicht so revolutionär, wie wir glauben, sondern auch auf den Erhalt des Systems ausgerichtet. Und deswegen glaube ich auch, dass wir von einem Happy End noch weit entfernt sind.