Warum so gleichstellungsfeindlich?
Der Nationalrat will höhere Krippensubventionen bewilligen. Es wäre endlich an der Zeit. Aber die Reaktionen auf den Entscheid sind sehr ernüchternd.
Von Daniel Binswanger, 04.03.2023
Eigentlich geschieht gerade Unerhörtes, schon beinahe Revolutionäres: Der Nationalrat hat am Mittwoch dieser Woche beschlossen, die Betreuungskosten in Krippen, Tagesschulen und Horten für alle Erziehungsberechtigten um 20 Prozent zu senken. Mit Subventionen von über 700 Millionen Franken pro Jahr.
Was ein Signal des Fortschritts, des Umbruchs und der Gleichberechtigung sein könnte, dürfte sich allerdings schon bald als weitere Episode im Trauerspiel der helvetischen Rückständigkeit erweisen. Denn erstens erscheint es als höchst unwahrscheinlich, dass dieser Beschluss auch den Ständerat passieren und tatsächlich umgesetzt werden wird. Und zweitens, selbst wenn: Die Finanzmittel würden zwar einen grossen Unterschied machen. Aber die Schweiz bliebe weiterhin ein finsteres Schlusslicht der europäischen Gleichstellung.
Die wahnwitzigen Dimensionen, welche die Schweizer Rückständigkeit inzwischen angenommen hat, sei mit einer kleinen Anekdote illustriert: Ein Berliner Bekannter, der einen Job in der Schweiz annehmen wollte und eine ebenfalls voll berufstätige Lebenspartnerin und zwei Kinder im Vorschulalter hat, befragte mich zu den Zürcher Lebenskosten. Das Gespräch drehte sich um erfreulich niedrige Steuern, schockierend hohe Krankenversicherungsprämien, ruinöse Mieten – und natürlich Kinderbetreuungskosten.
Ich warnte meinen Bekannten, er soll besonders Letztere nicht unterschätzen. «Weisst du, dass die Krippe in Zürich rund 130 Franken kostet?», warf ich ein. Er schaute mich entgeistert an: «Was? 130 Franken im Monat? Krass!»
Für einen Berliner Familienvater erschien es schockierend, dass ein Krippenplatz in Zürich 130 Franken pro Monat kosten soll – und damit gut fünf Mal so teuer wäre wie eine Berliner Kita, in der pro Kind monatlich 23 Euro fällig werden. Dass in Zürich ein nicht subventionierter Krippenplatz knapp 130 Franken pro Tag kostet und damit nicht fünf Mal, sondern rund hundert Mal so teuer ist wie in Berlin, lag für meinen Gesprächspartner jenseits des Vorstellbaren.
Unvereinbarkeit von Beruf und Familie mit Faktor hundert: Das ist die groteske helvetische Realität im Vergleich zum europäischen Umland.
Sicherlich: Abgesehen davon, dass in Berlin die Kinderbetreuung auch für bundesdeutsche Verhältnisse sehr günstig ist, muss man eine Gesamtkalkulation machen und kann Krippentarife nicht eins zu eins gegeneinander aufrechnen. Aber auch wenn man sämtliche Faktoren wie durchschnittliches Lohnniveau, Steuerbelastung, Kindergelder, Subventionen und Betreuungskosten gegeneinander aufrechnet, schneidet die Eidgenossenschaft atemberaubend schlecht ab.
Im «OECD Economic Survey Switzerland» vom letzten Jahr werden eindrückliche Zahlen präsentiert. Gemäss dieser Studie frisst die volle Fremdbetreuung von zwei Kindern eines berufstätigen Paares mit Durchschnittslohn in der Schweiz gegen 30 Prozent des Haushaltseinkommens weg – ein absoluter Spitzenwert. Im Durchschnitt der Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) werden lediglich 10 Prozent des Haushaltseinkommens fällig.
Die sogenannte participation tax rate, das heisst der Anteil an Einkommen, den eine arbeitslose auf Fremdbetreuung angewiesene Arbeitskraft mit Kindern für Steuern, Betreuungskosten und verlorene Unterstützungsleistungen aufbringen muss, wenn sie wieder eine Arbeit aufnimmt, zählt in der Schweiz OECD-weit zu den höchsten.
Es werden hierzulande kaum überbietbare Anstrengungen unternommen, um Eltern und insbesondere Müttern den Eintritt in den Arbeitsmarkt zu erschweren. Bei der strukturellen Verunmöglichung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie spielt die Eidgenossenschaft in einer eigenen Liga.
Das würde durch die neuen Subventionen, die es erlaubten, die Krippenkosten um 20 Prozent zu senken, zwar abgemildert, aber noch lange nicht behoben. Selbst wenn diese Gelder tatsächlich fliessen würden, gehörte die Schweiz im Bereich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie immer noch zu den gleichstellungsfeindlichsten Ländern Europas. Und dass es überhaupt so weit kommt, ist – wie gesagt – sehr unwahrscheinlich.
Es ereignet sich heute, gut fünfzig Jahre nach seiner Einführung, ein weiteres Mal das quälende Drama, das die Schweiz mit dem Frauenstimmrecht erlebte. Wenn es um gesellschaftlichen Fortschritt und Gleichstellung geht, war die Eidgenossenschaft für lange Jahrzehnte ein reaktionärer Albtraum. Deutschland und Österreich führten das Frauenstimmrecht gut 50 Jahre, Frankreich und Italien 27 beziehungsweise 26 Jahre vor der Schweiz ein. Wir hatten mindestens eine Generation Rückstand auf unsere unmittelbaren Nachbarländer. Und so verblüffend es auch scheinen mag: Heute ist das ganz genauso.
Das ist umso erstaunlicher, als es ja nicht an handfesten wirtschaftlichen Argumenten fehlen würde, um die Vereinbarkeit nun endlich voranzutreiben. Nicht nur könnte mit einer Erhöhung der Beschäftigungsquote von Arbeitnehmerinnen gegen den Fachkräftemangel angegangen werden, es würde auch ein essenzieller Beitrag zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der typischen Schweizer Unter- und Mittelschichtsfamilie geleistet.
Die doppelte Berufstätigkeit ist schon längst zum gesellschaftlichen Standard geworden. Dass wir mit einer Betreuungsinfrastruktur leben, die diesen Lebensverhältnissen nicht entspricht, sondern sie ökonomisch schwer zu tragen und logistisch schwer zu bewältigen macht, ist einfach nur absurd. Hier werden Lebenschancen und Wohlstandsgewinne zerstört – aufgrund von Unbeweglichkeit, Dummheit und der Dominanz von reaktionären Werten. Es zeigt, wie stark die ideologischen Kräfte sind, die eine Anpassung an die gesellschaftlichen Realitäten verhindern.
Irritierend sind auch die Debatten, die wir im Jahr 2023 offenbar immer noch führen müssen. Es wird so getan, als seien Krippensubventionen eine Sozialleistung, die ausschliesslich den einkommensschwachen Eltern zuteilwerden dürfe. Nur ja keine Giesskanne! Dabei zählt das System der Kinderbetreuung heute nicht mehr zu den Sozialleistungen, sondern zur Infrastruktur. Es ist eine Voraussetzung für einen hohen Beschäftigungsgrad der Gesamtbevölkerung und für gute Lebensverhältnisse der heutigen Familien. Dass man den Unterhalt dieser Infrastruktur nicht als staatliche Aufgabe betrachtet, sondern die «Eigeninitiative» von Eltern beschwört, wirkt nur noch realitätsfern.
Auch die Volksschule könnte man schliesslich abschaffen und die Bildung der Kinder der «Eigeninitiative» der Eltern überlassen. Auch die Subventionen für die SBB könnte man streichen mit dem Argument, es handle sich um Ausgaben nach dem Giesskannenprinzip, weil sowohl einkommensstarke wie einkommensschwache Bürgerinnen den Zug nehmen können und weil ein staatlicher Eingriff in die Wahl des Fortbewegungsmittels nicht zulässig sei.
Wir können uns die ganzen Scheindebatten allerdings auch sparen: Es geht keine Sekunde um wirtschaftliche Ordnungspolitik. Es geht um Wertehaltungen.
Und wie so häufig: Am unerfreulichsten ist der Mediendiskurs. Weshalb wird in der «NZZ am Sonntag» ein Artikel über Krippenkosten-Verbilligungen unter den Titel «Billigere Krippen führen nicht dazu, dass Mütter im Job mehr arbeiten» gesetzt? In der Überschrift wird behauptet: «Schweizer Frauen verdienen im Schnitt 60 Prozent weniger, wenn sie ein Kind bekommen. Doch die geplanten neuen Kita-Subventionen dürften dies kaum ändern, wie die Forschung zeigt.» Der Artikel diskutiert sehr ausführlich die Ergebnisse einer Studie des Ökonomieprofessors Josef Zweimüller, die zu diesen Ergebnissen kommt. Das ist ein vollkommen legitimer Debattenbeitrag. Aber natürlich gibt es tonnenweise Untersuchungen, die zu gegenteiligen Resultaten kommen (im Artikel selber wird eine erwähnt). Was also zeigt die Forschung?
Das Vorgehen der «NZZ am Sonntag» erinnert an die Strategie der Klimawandelleugner: Man findet eine einzige Studie, welche die Klimaerwärmung infrage stellt. Und behauptet dann, das sei «die Forschung».
Noch bunter treibt es allerdings der «Tages-Anzeiger». Letzte Woche wurde Inland-Chefin Raphaela Birrer zur neuen TA-Chefredaktorin ernannt, was als grosser Sieg der Gleichstellung gefeiert wird. Diese Woche kommentiert Birrer die Nationalratsbeschlüsse und unterstützt die Vereinbarkeit – mit allergrösstem Vorbehalt. Sie schreibt in ihrem Kommentar: «Die Idee, dafür [für die Krippensubventionen] die Erträge aus der Einführung der OECD-Mindeststeuer einzusetzen, ist auf linker Seite beliebt. Doch ausgerechnet die Linke bekämpft die Umsetzung dieser Steuerreform an der Urne; (…) Diese Strategie entbehrt jeder Logik.»
Was Raphaela Birrer verschweigt: Die Linke hat im Nationalrat bereits bei den Beratungen der OECD-Mindeststeuer die Krippenfinanzierung durch diese Einnahmen gefordert. Dass die Räte ihr bei dem Antrag nicht gefolgt sind, ist ein wesentlicher Grund für die heutige Ablehnung der Steuerreform durch die SP. Dass eine spätere, bessere Umsetzung der OECD-Mindeststeuer dann doch eine Zweckbindung zur Krippenfinanzierung enthalten würde, bleibt weiterhin denkbar. Die SP hält den Druck aufrecht. Sie demonstriert – ob man das nun gut findet oder nicht –, dass sie absolut konsequent für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie eintreten will. Ist es die Argumentation der Sozialdemokraten, die jeder Logik entbehrt?
Zudem hat Raphaela Birrer auch die absolut klassischen Vorbehalte gegen die Vereinbarkeit in ihrem Köcher: «Das Paket ist (…) überdimensioniert. Eine neue Sozialleistung im Umfang einer Dreiviertelmilliarde pro Jahr ist eine zu grosse Belastung für den klammen Bundeshaushalt.» Wir haben alle nur die allerbesten gleichstellungspolitischen Absichten, aber das unüberwindbare Hindernis ist immer dasselbe: Sie kosten Geld. Alle europäischen Länder können sich massive Krippensubventionen leisten. Nur das drittreichste, beinahe am wenigsten verschuldete Land Europas kann das nicht. Auf keinen Fall!
Immerhin: Selbst die Eidgenossenschaft macht zaghafte Fortschritte. Auch die Alpenrepublik wird sich letztlich im Richtungssinn der gesellschaftlichen Entwicklung bewegen. Es dürfte nur leider auch bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie genauso herauskommen wie beim Frauenstimmrecht: Auch wir werden noch im 21. Jahrhundert ankommen – aber mit einer vollen Generation Verspätung.
Es ist ein ewiges Mysterium, weshalb die fundamentalen Wertehaltungen in der hochglobalisierten, prosperierenden Schweizer Gesellschaft weiterhin so reaktionär sind. Und es ist eine Schande.
Illustration: Alex Solman