Raus aus der Teufelskreis-Ökonomie
Warum die Wirtschaftswissenschaften einen umfassenderen Begriff von Arbeit benötigen. Weshalb mehr Markt nicht immer die richtige Antwort ist – und manchmal genau die falsche.
Von Peter Ulrich und Werner Vontobel, 02.01.2023
Ein neuer Trend wird in allen Medien debattiert: Die Generation Z, also die um die letzte Jahrhundertwende herum geborene, mehrheitlich im Wohlstand aufgewachsene Altersgruppe, flüchtet vor dem Leistungsdruck der heutigen Arbeitswelt. Sie will zunehmend nur noch in Teilzeitpensen arbeiten. Wer im Job wenig Erfüllung findet und es sich leisten kann, reduziert immer öfter seine Arbeitszeit oder steigt gleich ganz aus. Nach den offenbar nicht nur schlechten Erfahrungen im Corona-Homeoffice streben viele Beschäftigte nach mehr Selbstbestimmung und Selbstfindung.
Repräsentativ belegt wird das vom «Global Workforce Hopes and Fears Survey 2022»-Bericht von PricewaterhouseCoopers mit mehr als 52’000 befragten Arbeitskräften in 44 Ländern. In den USA macht der Trend unter dem Schlagwort The Great Resignation die Runde. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend gemäss einer neuen Studie des Bundesamts für Statistik in der Schweiz.
Arbeitgeber und Ökonominnen «warnen» unisono vor den Gefahren dieser Entwicklung: Sie akzentuiere den Fachkräftemangel, gefährde die Altersvorsorge und mache die öffentlichen Investitionen in die Ausbildung der Arbeitskräfte unrentabel, so etwa kürzlich Bildungsökonom Stefan Wolter.
Dass die Arbeitgeberinnen in Sorge sind, kann man verstehen. Aber wieso teilen auch die meisten Ökonomen diesen Standpunkt? Warum hört man von ihnen kaum je Überlegungen dahin gehend, dass die Flucht in die Teilzeitarbeit das Symptom einer überholten Arbeitspolitik sein könnte – einer Politik, die den anhaltenden Produktivitätsfortschritt fast ausschliesslich in Form von wachsendem Konsum und höheren Unternehmensgewinnen zu nutzen trachtet?
Das kommt daher, dass die meisten Ökonomen kraft ihrer Ausbildung zwei entscheidende Dinge nicht sehen können oder wollen.
Erstens blenden sie die Tatsache aus, dass wir produktive, bedürfnisbefriedigende Tätigkeiten nicht nur gegen Geld für Fremde ausüben, sondern seit jeher auch unentgeltlich für uns selbst und unsere Angehörigen, für Nachbarinnen und Bekannte. Die Missachtung der nicht monetären Care-Ökonomie macht sich hier bemerkbar.
Zweitens übersehen sie, dass Arbeit nicht nur der Produktion dient, sondern auch der sozialen Integration. Im Folgenden erläutern wir, worin sich dieser blinde Fleck der (Mainstream-)Ökonominnen symptomatisch zeigt, worauf er beruht und welche neuen Perspektiven und Fragestellungen sich ergeben, wenn wir den Versuch machen, die Ökonomie umfassender und realitätsgerechter zu verstehen.
Peter Ulrich, Dr. rer. pol., war ab 1987 erster Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen (HSG) sowie ab 1989 Leiter des dort von ihm gegründeten Instituts für Wirtschaftsethik. Er entwickelte die «Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie», die als Buch in deutscher, englischer und spanischer Sprache vorliegt.
Werner Vontobel, lic. rer. pol., Ökonom und Wirtschaftsjournalist, etwa für «Tages-Anzeiger», «Weltwoche» und «Blick». Langjähriges Mitglied der Chefredaktion des Schweizer Wirtschaftsmagazins «Cash». Autor zahlreicher Bücher, darunter «Die Wohlstandsmaschine. Das Desaster des Neoliberalismus» (1998) und «Arbeitswut. Warum es sich nicht lohnt, sich abzuhetzen und gegenseitig die Jobs abzujagen» (2008, mit Philipp Löpfe).
Wie nutzen wir den Produktivitätsfortschritt?
Zunächst einmal ist es auch in der herkömmlichen ökonomischen Logik sinnvoll, den volkswirtschaftlichen Produktivitätsgewinn wenigstens teilweise zu einer Senkung der Normalarbeitszeit zu nutzen, so wie wir das bis in die 1970er-Jahre erfolgreich getan haben. Die politische Leitidee sollte heute mehr denn je lauten: reduzierte Erwerbsarbeit für alle – bei Mindestlöhnen, von denen es sich ohne sozialstaatliche Aufstockung anständig leben lässt. Das wäre sinnvoller als individuelle Teilzeitpensen, die sich nur diejenigen leisten können, die genug verdienen für eine ausgewogenere Lebensform.
Können wir uns eine generelle Verkürzung der Normalarbeitszeit aber auch volkswirtschaftlich leisten – oder sollten wir sie uns sogar leisten? Die Fakten sprechen dafür: In der Schweiz stieg gemäss dem Bundesamt für Statistik die Arbeitsproduktivität in den 25 Jahren von 1995 bis 2019 insgesamt, über alle Wirtschaftssektoren, um immerhin etwa 40 Prozent, also um etwa 1,25 Prozent pro Jahr. Demgegenüber ist die tatsächliche Jahresarbeitszeit pro erwerbstätige Person zwischen 2010 und 2020 nur um 7,2 Prozent gesunken, bis 2019 (ohne den Corona-Effekt) sogar nur um 3,9 Prozent. Und auch dies fast nur aufgrund des Trends zur Teilzeitarbeit – bei nahezu gleich bleibender Normalarbeitszeit.
Weil die Normalarbeitszeit kaum noch reduziert wurde, hat sich der Segen des Produktivitätsgewinns in den Fluch der stetig drohenden Arbeitslosigkeit verwandelt. Arbeitslosigkeit bedeutet Einkommensmangel, und dieser ist für die Betroffenen verheerend in einem Wirtschaftssystem, das auf die Versorgung der Menschen über den Markt setzt.
So hat sich in die Wirtschaftspolitik eine fatale Ziel-Mittel-Verkehrung eingeschlichen: Wir müssen immer mehr konsumieren, damit mehr Erwerbsarbeit geleistet werden kann, statt dass alle weniger arbeiten, sobald unsere materiellen Bedürfnisse hinreichend, zugleich aber umwelt- und klimaverträglich erfüllt sind.
Bei unveränderten Arbeitszeiten muss der Gesamtkonsum proportional zur Produktivität steigen. Dies ist jedoch aufgrund der sehr ungleich verteilten Einkommen kaum möglich: Im unteren Bereich des Einkommensspektrums müssten die Löhne deutlich stärker als die Produktivität steigen, um die abnehmende Konsumneigung derjenigen zu kompensieren, die schon alles haben (und zusätzliche Mittel lieber vermögensbildend anlegen).
Wirtschaftlich starke Länder wie Deutschland oder die Schweiz versuchen, die inländische Konsumlücke im Ausland auszugleichen – durch hohe Exportquoten. Das so bezeichnete Verhältnis der Ausfuhr von Waren und Dienstleistungen zum Bruttoinlandprodukt hat 2021 in Deutschland etwa 47 Prozent und in der Schweiz sogar fast 70 Prozent erreicht. Im internationalen Standortwettbewerb gerät die Steigerung der Exporte mit der im Inland eigentlich erforderlichen Lohnsteigerung allerdings in Konflikt.
Realpolitisch sitzt dabei die Exportwirtschaft am längeren Hebel. Infolgedessen setzte die Wirtschaftspolitik allzu lange einseitig darauf, «Arbeitsplätze zu schaffen» durch die relative oder sogar absolute Verbilligung der Arbeit. Das entspricht dem standardökonomischen Rezept der neoliberalen «Angebotspolitik».
Besonders in Deutschland sollte der Niedriglohnsektor zum Auffangbecken für die Arbeitslosen werden: Sozial ist, was Arbeit schafft, egal wie und wie schlecht bezahlt. In der resultierenden Armutsfalle des deutschen Niedriglohnsektors mit Stundenlöhnen von weniger als zwei Dritteln des Medianlohns (das heisst des mittleren Stundenlohns: Die eine Hälfte der Erwerbstätigen erhält mehr, die andere Hälfte weniger) sind im Jahr 2011, dem Höhepunkt dieser Fehlentwicklung, 24 Prozent und damit nahezu ein Viertel der Beschäftigten gelandet.
Während in Deutschland das alles ab 1998 ein erklärtes politisches Ziel der Regierungen unter Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) war, konnte in der Schweiz die einigermassen funktionierende Sozialpartnerschaft von Arbeitgeberinnen und Gewerkschaften eine so krasse Fehlentwicklung weitgehend verhindern. Aber auch hierzulande ist vor allem in Bereichen mit fehlenden Gesamtarbeitsverträgen (GAV), insbesondere bei gering qualifizierten Dienstleistungen, ein Sektor mit unterbezahlten und sozial schlecht abgesicherten Arbeitsverhältnissen entstanden.
Der Teufelskreis der Wachstumsökonomie und die gesellschaftlichen Folgen
Wer unter den prekären Bedingungen des Tieflohnsektors seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, schuftet notgedrungen – ganz anders als die privilegierten Teilzeitbeschäftigten der Generation Z – fast bis zum Umfallen und bleibt dennoch angewiesen auf Sozialhilfen aller Art, neuerdings in Deutschland sogar auf situative «Entlastungspakete». Die sozialstaatlichen Folgekosten dieser neoliberalen Arbeitspolitik sind gigantisch, und ein Ende ihres Wachstums (!) ist nicht in Sicht. Damit sie einigermassen tragbar bleiben, muss die ganze Volkswirtschaft wachsen – der Teufelskreis ist geschlossen.
Auch in gesellschaftlicher und ökologischer Hinsicht setzten die Politikerinnen, die den «sachverständigen» Empfehlungen der orthodoxen Ökonomie brav folgten, einen Teufelskreis in Gang.
Erstens wurde massenhaft unbezahlte Arbeit in (überwiegend miese) Jobs umgewandelt. In Deutschland etwa ist laut einer Studie des Statistischen Bundesamts (Destatis) die unbezahlte Arbeit von 1992 bis 2013 um 13 Milliarden Jahresstunden (entsprechend einem Fünftel der Erwerbsarbeit) oder gut 12 Prozent geschrumpft. Allerdings nimmt in vielen Familien die unbezahlte Arbeit (Haus- und Betreuungsarbeiten sowie Freiwilligentätigkeit) immer noch mehr Zeit in Anspruch als die Erwerbsarbeit, was oft schwierig zu vereinbaren ist. Das geht einher mit der Zerrüttung von Familien und Nachbarschaften als Folge von langen Arbeitswegen und ungünstigen Arbeitszeiten.
Verschärfend wirkt zweitens, dass Arbeit auch räumlich verschoben wurde. Die Jobs gingen an die Standorte, welche die Löhne am schnellsten gedrückt, die Arbeitsmärkte «flexibilisiert» und die Unternehmenssteuern gesenkt hatten. Statt dass die Arbeitsplätze zu den Menschen kommen, müssen diese zu immer entfernteren Arbeitsorten «wandern».
Hierzulande wurde es kostengünstiger, fehlendes Personal im Ausland zu rekrutieren, statt vermehrt in die Aus- und Weiterbildung der im Inland vorhandenen Arbeitskräfte zu investieren. Das verstärkt potenziell den Lohndruck auf die Niedrigqualifizierten.
Gleichzeitig tummeln sich in den Führungsetagen der wachsenden Firmen immer mehr hoch bezahlte «Expats». Allerdings verduften diese karrierehalber oft nach wenigen Jahren wieder. Und so verschärft sich der kurzfristig überbrückte Mangel an inländischen Fachkräften in der aufgeblähten Volkswirtschaft auf Dauer sogar.
Drittens haben manche der neu geschaffenen Jobs kompensatorischen Charakter: Die Marktwirtschaft ist zunehmend damit beschäftigt, die eigene Komplexität zu bewältigen und selbst verursachte Schäden zu begrenzen. Man denke etwa an den ausufernden und krisenanfälligen Finanzsektor; an die Umverteilungsbürokratie, mit der die extrem ungleiche Verteilung der Markteinkommen kompensiert werden muss; oder an den Werbeaufwand, mit dem einer eh schon übersättigten Mittel- und Oberschicht noch mehr Konsum aufgedrängt wird, zugleich aber der Bedarf nach Entsorgung und Umweltschutz wächst.
So wird fortlaufend der Überfluss des Überflüssigen oder gar Schädlichen gesteigert, während gleichzeitig wachsende Bevölkerungsanteile von einer neuen Verknappung von Lebensnotwendigem betroffen sind: Es mangelt zunehmend an sauberer Luft und Trinkwasser, gesunden Lebensmitteln und zahlbarem Wohnraum, an Kinder-, Alten- und Krankenbetreuung. Und immer mehr Infrastrukturen erweisen sich als überfordert (Stichwort: mangelnde Resilienz) oder grundlegend fehlkonstruiert (Stichwort: Pseudoliberalisierung).
Erwerb und Selbstversorgung: Eine Frage der Balance
Mit einer Senkung der Normalarbeitszeit ist es angesichts all dieser Probleme natürlich nicht getan. Aber sie erleichtert schon einmal die faire Aufteilung der Familienarbeit, insbesondere der Kinderbetreuung zwischen Müttern und Vätern. Darüber hinaus schafft sie Freiräume und bisweilen Lust auf mehr Eigenarbeit für die Selbstversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs. Gelderwerb und Konsum dominieren nicht mehr alles. Die Werbebotschaft, dass Bedürfnisbefriedigung allein konsumtiv durch den «Genuss» käuflicher Güter und Dienstleistungen erfolge, während Arbeit blosses Mittel zum Zweck des Konsumwohlstands und daher stets Mühsal (lateinisch labor) sei, weicht der Erfahrung unmittelbar sinnvollen Tuns.
Daraus nährt sich der Impuls, grundsätzlich nachzudenken über ein neues, menschengerechtes Gleichgewicht zwischen bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Eigenarbeit, zwischen Marktorientierung und unmittelbarer Bedarfsorientierung.
Die Aussichten sind verlockend: Eröffnet sich uns womöglich die epochale Chance, mit weniger Stress und weniger Plackerei mehr echten Wohlstand, mehr individuellen Lebenssinn, ein ausgeglicheneres Familienleben und mehr soziale Integration in produktiven Gemeinschaftsaktivitäten zu gewinnen?
Dass solche Optionen des Ausbruchs aus den Zwängen des Wirtschaftswachstums in der Teufelskreisökonomie kaum diskutiert werden, hat einen simplen Grund: In ihrer Wachstumsdoktrin zählt nur die Erwerbsarbeit, denn nur sie wird im Bruttoinlandprodukt erfasst.
Verkannt wird darüber hinaus, dass die Wirtschaft unsere Bedürfnisse nicht nur über die Menge der produzierten Güter beeinflusst, sondern vor allem auch durch die Art und Weise, wie sie unser soziales Leben organisiert oder desorganisiert. Schon immer sind wesentliche Teile unserer Bedürfnisse auf dem Weg der familiären oder gemeinschaftlichen Selbstversorgung erfüllt worden, also ohne den bisweilen ineffizient grossen Umweg über Geldeinkommen. Mit einer geeigneten nachbarschaftlichen Infrastruktur und modernem Gerät könnten wir unsere sozialen und auch manche materiellen Bedürfnisse besser und erst noch günstiger befriedigen als über den Markt – besonders wenn dank generell kürzerer Erwerbstätigkeit Zeit und Energie für die Selbstversorgung ausserhalb des Marktes wachsen würden.
Statt einseitig alle arbeitsfähigen Personen mit möglichst hohen Pensen in die Erwerbswirtschaft integrieren zu wollen, sollten wir die zeitlichen, räumlichen und technischen Rahmenbedingungen für die umweglose Bedarfswirtschaft verbessern. Zweckdienlich sind beispielsweise gut ausgestattete Gemeinschaftsräume in jeder Wohnüberbauung oder in jedem Quartier, reservierte Parzellen für die guten alten Schrebergärten und eine Stadtplanung der kurzen Wege (Stichwort: 15-Minuten-Stadt).
Vorzüge und Vordenker einer neu ausbalancierten Wirtschaft
Eine ausgewogene Kombination von Erwerbs- und Bedarfswirtschaft bietet gegenüber der konventionellen, einseitig auf Marktwachstum setzenden Wirtschaftspolitik drei wesentliche gesellschaftliche Vorzüge:
Erstens orientiert sich die Bedarfswirtschaft unmittelbar an den Lebensbedürfnissen der Menschen und wird als dementsprechend sinnvoll empfunden, was für die «Beschäftigten» in komplexen Produktionsstrukturen sehr oft nicht gegeben ist.
Zweitens bietet sie den sich selbst versorgenden kleinen Lebensgemeinschaften eine weitaus stärkere Selbstbestimmung, als dies in hoch arbeitsteiligen und hierarchischen Organisationen möglich ist.
Drittens dämmt die gemeinschaftliche Deckung der Grundbedürfnisse von vornherein die sozial desintegrierenden Auswirkungen des Marktes ein.
Indem nämlich die Abhängigkeit von Kaufkraft für die Befriedigung der existenziellen Grundbedürfnisse geringer wird, nimmt die Rolle von Geld und Einkommen für die Existenzsicherung endlich wieder ab, statt dass sie den Lebensalltag immer stärker dominiert. Der strukturelle Zwang, neue Erwerbsarbeit durch Wirtschaftswachstum zu schaffen, entfällt weitgehend. So wird die Stärkung der Bedarfswirtschaft zugleich zur Basis für eine Postwachstumsökonomie im Sinne von Niko Paech, wie sie zur Bewältigung der Klimakrise ohnehin erforderlich wird.
Die grundlegende Voraussetzung zur Stärkung der Selbstversorgung ist, dass wir den Produktivitätsfortschritt vermehrt zur Kürzung der Normalarbeitszeit statt zur Steigerung des Konsums nutzen. Wir können uns dabei immerhin auf den wohl grössten Ökonomen des 20. Jahrhunderts berufen, auf John Maynard Keynes. In seinem berühmten Essay «Economic Possibilities for Our Grandchildren» (1930) argumentierte er, dass zwei bis drei Generationen später – und da wären wir inzwischen angelangt – dank der anhaltenden Produktivitätssteigerung eine Normalarbeitszeit von 15 Wochenstunden ausreichen werde, um die Konsumbedürfnisse der Menschen zu decken. Die Erwerbsarbeit würde dann zur Nebensache, und die Menschen könnten sich in der gewonnenen Zeit der Kunst eines kultivierten Lebens widmen.
Unter den durchaus zahlreichen Sozialökonominnen, die Keynes’ Gedanken folgen, haben vor allem der britische Ökonomieprofessor Robert Skidelsky und sein Sohn Edward Skidelsky, seinerseits Philosophieprofessor, mit ihrem Buch «Wie viel ist genug?» breite Resonanz gefunden. Dass sich Keynes’ Prophezeiung trotz eines Produktivitätsfortschritts, der seine Annahmen seither sogar übertroffen hat, nicht erfüllt, versuchen sie damit zu erklären, dass Keynes den Unterschied zwischen begrenzten Grundbedürfnissen und im Prinzip endlosen Konsumbegierden, wie der Kapitalismus sie schüre, nicht beachtet habe.
Das mag so sein, aber die elementare Bedarfsdeckung jener, die unter den Arbeits- und Einkommensbedingungen des Tieflohnsektors leiden, bleibt unter der Dominanz der Marktlogik prekär, selbst wenn der Luxuskonsum der Wohlhabenden längst obszöne Züge angenommen hat.
Das Problem ist nicht nur kultureller, sondern struktureller Art: Keynes konnte zu seiner Zeit die fatalen Effekte der Hyperglobalisierung nicht voraussehen. Der durch sie entfesselte internationale Standortwettbewerb hat die Gestaltungsmacht der je nationalen Politik ausgehebelt. Seither ist die Verkürzung der Normalarbeitszeit gemäss der Produktivitätsentwicklung zum Stillstand gekommen, und ohne sie lassen sich die prekären Bedingungen des Niedriglohnsektors kaum überwinden.
Immerhin hat in jüngster Zeit die Einsicht in die Notwendigkeit höherer Resilienz (Robustheit) der internationalen Lieferketten eine gewisse Tendenz zur De-Globalisierung ausgelöst. Mit ihr erweitern sich die arbeitspolitischen Gestaltungsspielräume wieder.
Ökonomische Rationalität als ideologisches Tarnkleid
Wäre es angesichts der Chancen einer ausbalancierten Dualwirtschaft nicht klug, uns gemeinsam – und nur so funktioniert es volkswirtschaftlich – ein Stück weit aus den Marktzwängen zu emanzipieren? Für die Normalbürger ist das Streben nach einem gut ausbalancierten «Doppelleben» teils in der Erwerbswirtschaft und teils in der Selbstversorgungswirtschaft immer schon ein Stück real existierende ökonomische Vernunft.
Man würde unter diesen Umständen erwarten, dass sich die Wirtschaftswissenschaften intensiv mit den strukturellen Voraussetzungen einer zeitgemässen Arbeitspolitik auseinandersetzen. Doch die akademisch vorherrschende orthodoxe Standardökonomik rümpft bezüglich des «Keynesianismus» und anderer erweiterter Ansätze gleichsam die Nase. Sie argumentiert weiterhin just aus jener einäugigen Effizienzlogik des Marktes heraus, die zu den beschriebenen prekären Verhältnissen des Niedriglohnsektors und zu den darin wurzelnden gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat. Deshalb erscheint ihr eine verbindliche Verkürzung der Normalarbeitszeit als drohender Wohlstandsverlust.
Warum findet kein arbeitspolitisches Umdenken in den Wirtschaftswissenschaften statt? Die Erklärung hat mit der normativen Tiefenstruktur der orthodoxen Ökonomik zu tun. Normativ – das sind Vorstellungen davon, wie wir leben und wirtschaften sollen.
Wird über die lebensdienliche Gestaltung entsprechender Leitbilder nachgedacht, so sprechen wir von Wirtschaftsphilosophie und -ethik. Werden solche Leitbilder hingegen implizit vorausgesetzt und der kritischen Überprüfung systematisch entzogen, so handelt es sich eher um eine Wirtschaftsideologie. Bedauerlicherweise ist der Kern der dominierenden, ja an den Universitäten nahezu ausschliesslich gelehrten Ökonomik von solcher ideologischer Einigelung geprägt.
Weshalb fällt das der breiten Öffentlichkeit kaum auf? Die ökonomische Orthodoxie hat das akademische Tarnkleid ihrer ideologischen Prägung mit einem genialen methodischen Trick gewoben: Sie gibt ihre normativen Vorentscheidungen als Inbegriff ökonomischer Rationalität aus. Es ist die Rationalität des berühmt-berüchtigten homo oeconomicus, der strikt und rücksichtslos, ohne jede Empathie für andere Personen und «frei» von jedem Gemeinsinn, seinen wirtschaftlichen Eigennutzen maximiert. Jegliche Aspekte des guten Lebens und des gerechten Zusammenlebens in der Gesellschaft sind diesem akademischen Homunkulus fremd.
Der «rationale» Lebensentwurf des ökonomischen Homunkulus
Selbstverständlich wissen die Ökonomen, dass ihr methodisches Menschenbild empirisch falsch und normativ unhaltbar ist; in der empirisch forschenden Verhaltensökonomie wird es dementsprechend relativiert und ergänzt.
Aber das normative Konzept «rationalen» Wirtschaftens und mit ihm die wirtschaftspolitische Kernbotschaft bleiben unangetastet. Es geht stets um mehr von allem: mehr Effizienz durch technischen Fortschritt und globale Arbeitsteilung, mehr Gewinn und Einkommen, mehr Produktion und Konsum. Um Wirtschaftswachstum um fast jeden Preis.
Die Standardökonomik identifiziert sich gleichsam mit einem Lebensunternehmer, dessen ganzes Trachten auf seine Selbstvermarktung zielt. Er findet sein eigenes Glück im Wettbewerbserfolg und in der damit erzielten Maximierung seines materiellen Lebensstandards. Mehr noch: Vermeintlich trägt er am meisten zum Gemeinwohl bei, indem er mithilft, die Produktivität und mit ihr das Bruttosozialprodukt zu steigern. Dass er damit zugleich den Druck auf alle anderen verschärft, sich im immer härter werdenden Erwerbsleben zu behaupten, und dass demzufolge unser Leben immer «stressiger» wird, bedenkt er nicht. Und dass unser Ressourcenverbrauch nicht immer noch weiter gesteigert, sondern massiv gesenkt werden sollte, auch nicht.
Sinnvolles Tätigsein und mit ihm Lebensqualität jenseits des materiellen Wohlstands? Kennt der Homunkulus der totalen Marktlogik nicht. Eigenwert des gesellschaftlichen Zusammenhalts dank fairer Partizipation aller am Prozess und am Ergebnis der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung? Nie gehört, oder wenn doch, dann aus dem Konzept rationalen Wirtschaftens ausgeblendet. Gesellschaftliche Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern im marktwirtschaftlichen Selbstbehauptungswettbewerb? Interessiert nicht, denn die ökonomische «Rationalisierung» misst sich nur an der effizienten «Allokation» (der produktiven Verwendung) knapper Ressourcen, ohne Rücksicht auf die «Distribution» (soziale Verteilung) des Sozialprodukts.
Unter die Räder der marktwirtschaftlichen Sachzwänge gerät auch die Fairness gegenüber den nachfolgenden Generationen, die mit den potenziell katastrophalen klimatischen und ökologischen Folgen unseres unverantwortlichen Umgangs mit den natürlichen Ressourcen werden leben müssen.
Die enge Rationalität des homo oeconomicus ist offensichtlich nicht die ganze ökonomische Vernunft.
Markt und Wettbewerb – ja, aber bitte vernünftig dosiert
Die orthodoxen Ökonomen suchen den verlorenen Schlüssel zur ökonomischen Vernunft am falschen Ort. Es geht nicht mehr wie einst in Zeiten einer wenig entwickelten Volkswirtschaft primär um mehr von allem, sondern um die richtige Dosierung der Marktkräfte im politisch-ökonomischen Rezept.
Die neue Leitfrage lautet: Wie viel Markt und Wettbewerb sind zur bestmöglichen Lösung unserer sozioökonomischen Probleme angemessen? Welche Probleme sind effektiver (qualitativ besser) und effizienter (mit besserem Kosten-Nutzen-Verhältnis) lösbar ohne den Umweg über den Markt, also in familiärer oder gemeinschaftlicher Selbstversorgung?
Wer so fragt, interessiert sich für den sachdienlichen Stellenwert der Marktwirtschaft in unserem Leben. Je nach den Ergebnissen der Analyse eines Problemfelds wird dann nicht immer nur die Ausweitung («Liberalisierung») des Marktes samt der Intensivierung des Wettbewerbs als ökonomisch rational gelten.
Stattdessen kann nun die konsequentere Einbettung und Einbindung der Marktkräfte in die Gesellschaft, in der wir leben möchten, als Ausdruck vernünftigen Wirtschaftens beurteilt und von Wirtschaftsexperten empfohlen werden, samt einer diesem Leitbild angemessenen sozialstaatlichen Daseinsvorsorge. Es steht dann nicht mehr von vornherein fest, ob Ökonomen in ihrer einflussreichen Rolle als Politikberater für mehr Markt und Wettbewerb oder aber – bis anhin kaum denkbar – für deren problembezogene Einschränkung argumentieren werden.
Es geht dabei nicht etwa um die pauschale Abschaffung der Marktwirtschaft, sondern um ihre Beschränkung auf jene Bereiche, in denen ihre dezentrale Koordinationsleistung lebenspraktisch wirklich vorteilhaft ist. Dabei sollte die Wirkungsmacht der Marktkräfte stets zielbezogen dosiert werden. Weniger (statt immer nur mehr) Markt und Wettbewerb lässt sich je nach Problemlage als potenziell vernünftig erachten.
Was in der verengten Logik der orthodoxen Ökonomie tabu war, wird endlich aussprechbar!
Fred Frohofer, Werner Vontobel: «Eine Ökonomie der kurzen Wege. Von der Marktwirtschaft zur Bedarfswirtschaft». Zürich, Rotpunktverlag 2021. 176 Seiten, ca. 18 Franken.
Niko Paech: «Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie». München, Oekom 2012. 160 Seiten, ca. 20 Franken.
Michael J. Sandel: «Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes». Berlin, Ullstein 2012. 304 Seiten, ca. 15 Franken.
Robert und Edward Skidelsky: «Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens». München, Kunstmann 2013. 320 Seiten, ca. 25 Franken.
Ulrich Thielemann: «System Error. Warum der Freie Markt zur Unfreiheit führt». Frankfurt, Westend 2009. 240 Seiten, ca. 20 Euro.
Peter Ulrich: «Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung». Erweiterte Neuausgabe. Bern, Haupt 2010. 208 Seiten, ca. 28 Franken.