Strassberg

Markt-Ideologie baut Bürokratie nicht ab – im Gegenteil

Beim Ausfüllen von Formularen sind wir alle gleich – könnte man meinen. Tatsächlich schützt die Verordnungs­flut Interessen, die sich demokratisch nicht legitimieren lassen.

Von Daniel Strassberg, 12.09.2023

Vorgelesen von Sven Gallinelli
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Wenig verbindet die drei Männer – ausser dass alle drei Häretiker waren. Paulus von Tarsus und Sigmund Freud wandten sich vom Judentum, Friedrich Nietzsche vom Christentum ab. Paulus änderte sogar seinen Namen, er wurde vom Saulus zum Paulus.

Mehr noch, sie wandten sich alle drei aus demselben Grund von ihrer Herkunft und ihrer Religion ab: Sie verabscheuten das Gesetz. Zwar waren sie weder Anarchisten, noch redeten sie einem ungebremsten Hedonismus das Wort, sie sahen durchaus, dass das Gesetz dazu dient, menschliches Zusammen­leben überhaupt erst zu ermöglichen und die Welt gerechter zu machen. Gleichzeitig sahen sie aber auch, dass es ins Gegenteil kippen und aus Bürgern und Bürgerinnen folgsame Untertanen formen kann.

Gesetze mit brutaler Polizei­gewalt durchzusetzen, auch das haben alle drei verstanden, ist bestenfalls die zweit­effizienteste Lösung. Viel wirkungsvoller ist es, wenn die Polizei verinnerlicht wird und die Kontrolle mittels Schuld­gefühlen dem Einzelnen selbst zufällt. Vor der Polizei kann man sich verstecken, vor Schuld­gefühlen nicht.

Paulus gelangte fast zweitausend Jahre vor Nietzsche und Freud zu dieser Einsicht:

Was sagen wir denn nun? Haben wir [die Juden, die sich an das Gesetz halten, Anm. d. Red.] einen Vorzug? Gar keinen. Denn wir haben soeben bewiesen, dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind. «(…) Es ist keine Gottes­furcht bei ihnen.» Wir wissen aber: Was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf dass jeder Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei. Denn durch des Gesetzes Werke wird kein Mensch vor ihm gerecht sein. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.

Römer 3; 9–20.

Das Gesetz macht die Welt nicht gerechter. Im Gegenteil, es dient dazu, verbotene Begierden zu produzieren, die Schuld­gefühle auslösen, mit denen die Untertanen wiederum kontrolliert werden können.

Nietzsche kommt in der «Genealogie der Moral» zu ähnlichen Schlüssen. Ursprünglich habe es nur die praktische Unterscheidung zwischen gut und schlecht gegeben. Als gut galt, was nützlich und gesund, als schlecht, was unnütz und krank machend ist. Diese Unterscheidung wurde von der herrschenden Klasse – Nietzsche nennt sie Priester – gekapert und in eine Moral von gut und böse verwandelt. Es ging nun nicht mehr darum, das Krank­machende zu vermeiden, sondern darum, das Gesetz als schlechtes Gewissen zu verinnerlichen, damit die Massen den Göttern beziehungs­weise ihren Priestern gehorchten:

[D]er älteste «Staat» [trat] demgemäss als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auf, bis ein solcher Rohstoff von Volk endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch geformt war. (…)

Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon –, dieser zurück­gedrängte, zurück­getretene, in’s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: Das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.

«Zur Genealogie der Moral», II, 17.

Mithilfe des schlechten Gewissens formt der Staat das Volk und lässt es sein Begehren nach Freiheit vergessen.

Auch Freud sieht im Gesetz vor allem ein Instrument der Unterdrückung. Doch das Gesetz dient bei ihm nicht nur dazu, schlechtes Gewissen zu produzieren, sondern gleichzeitig auch dazu, es zu beruhigen:

Solche [unerlaubten] Taten wurden vor allem darum vollzogen, weil sie verboten und weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war. Er litt an einem drückenden Schuld­bewusstsein unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, war der Druck gemildert. Das Schuld­bewusstsein war wenigstens irgendwie untergebracht.

Sigmund Freud, «Die Verbrecher aus Schuldbewusstsein», in: «Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit», Gesammelte Werke, Band X.

Menschen begehen Verbrechen, um bestraft zu werden, meint Freud. Dadurch entlasten sie das bereits bestehende schlechte Gewissen. Niemand lässt sich besser manipulieren als Menschen mit Gewissens­bissen.

Keine Angst. Sie werden kein neoliberales Plädoyer für die Abschaffung von Gesetzen und für mehr Deregulierung lesen müssen. Ich versuche im Gegenteil, zu zeigen, dass die totale Verordnungs­gesellschaft, auf die wir zusteuern, ein direktes Ergebnis der neoliberalen Deregulierung der Märkte ist und dass der unüberschaubare Wust von Verordnungen trotz des Geschreis der FDP dem neoliberalen Projekt dient. Schaut man nämlich genau hin, sind es nur sehr wenige Verordnungen, die die FDP abschaffen will, nämlich solche, die ihr im Wege stehen. Alle anderen stockt sie fleissig auf.

An dieser Stelle wollte ich Beispiele grotesker und überbordender Bürokratie präsentieren. Stattdessen empfehle ich die zweite Staffel der Serie «The Bear», in der einige Freunde ein Restaurant eröffnen wollen: Jedes Amt schickt einen Inspektor oder eine Inspektorin vorbei, um im Namen der Sicherheit und der Gesundheit die Grösse des Lavabos, die Beschaffenheit aller Oberflächen, die Wahl der Reinigungs­mittel, die fachgerechte Entsorgung, die Sicherheit der Fluchtwege und die Anzahl der Toiletten­kontrollen zu kontrollieren. Jedes Mal wird ein Protokoll erstellt, das einen Stempel erfordert – der selbstverständlich gebühren­pflichtig ist. In der Schweiz ist das nicht anders.

Am 1. Dezember 1996 schaffte das Stimmvolk des Kantons Zürich das obligatorische Wirtepatent ab, dessen Idee es war, Gaststätten­besitzerinnen das nötige Wissen und Können zu vermitteln, mit welchem sie Gesundheit und Sicherheit der Gäste gewährleisten können. Natürlich gab es schon damals ein Lebensmittel­inspektorat, doch die primäre Instanz war der Wirt oder die Wirtin selbst. Heute hat sich der Ort der Kontrolle jedoch verschoben, primäre Kontroll­instanz sind nun die Bürokratie und ihre ins Feld ausgesandten Inspektorinnen. Allgemeiner ausgedrückt: An die Stelle demokratisch legitimierter Gesetze treten von der Bürokratie erlassene, der demokratischen Kontrolle weitgehend entzogene Verordnungen und die physische Kontrolle vor Ort durch Beamte.

Dem Einwand, hier würden zwei Ebenen vermischt, schliesslich beruhe jede Verordnung auf einem Gesetz und jedes Gesetz brauche seine Verordnungen, widersprach Walter Benjamin schon 1921:

Die Behauptung, dass die Zwecke der Polizei­gewalt mit denen des übrigen Rechts stets identisch oder auch nur verbunden wären, ist durchaus unwahr. Vielmehr bezeichnet das «Recht» der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der Staat, sei es aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zusammenhänge jeder Rechtsordnung, seine empirischen Zwecke, die er um jeden Preis zu erreichen wünscht, nicht mehr durch die Rechtsordnung sich garantieren kann. Daher greift «der Sicherheit wegen» die Polizei [oder andere Behörden, Anm. d. Red.] in zahllosen Fällen ein, wo keine klare Rechtslage vorliegt, wenn sie nicht ohne jegliche Beziehung auf Rechtszwecke den Bürger als eine brutale Belästigung durch das von Verordnungen geregelte Leben begleitet oder ihn schlechtweg überwacht.

Walter Benjamin, «Zur Kritik der Gewalt», Gesammelte Werke II.1, S. 189.

De facto, argumentiert Benjamin, setzen Staaten ihre Zwecke durch Verordnungen durch. Weder dem Markt noch der individuellen Freiheit können deshalb jene Gebiete überlassen werden, die von der Deregulierung freigeräumt wurden, sondern sie werden durch Verordnungen geregelt. Ihr offizielles Ziel ist stets die Sicherheit der Konsumentinnen. Das mag im Einzelfall zutreffen, doch in der Summe zeitigen sie einen anderen Effekt. Verordnungen steuern die Märkte, und zwar zugunsten der grossen Player. Kleinere Betriebe, Gaststätten oder Arztpraxen etwa können es sich oft gar nicht leisten, alle Verordnungen zu erfüllen – und werfen das Handtuch.

Das Ausfüllen von Formularen nimmt in der medizinischen Grund­versorgung derart viel Zeit in Anspruch, dass eine altmodische Einzelpraxis in vielen Fällen nicht mehr zu stemmen ist. Dasselbe gilt für Restaurants: Es ist beinahe unmöglich geworden, ein Restaurant zu führen und alle Vorschriften zu erfüllen. Als Folge davon werden immer mehr Praxen und Gastbetriebe von Ketten, sprich Konzernen, übernommen. Dass Bürokratie und Neoliberalismus perfekt aufeinander abgestimmt sind, wird durch die lautstarken Proteste der sogenannt wirtschafts­liberalen Parteien lediglich maskiert.

Letztes Beispiel. Letzte Woche war im «Tages-Anzeiger» zu lesen, dass erstmals die Anzahl der Wohnungen im Besitz von Immobilien­konzernen diejenige in Privatbesitz übersteigt. Auch dies ist wohl mindestens zum Teil das Resultat einer Bauordnung, der ein privater Bauherr häufig nur mit grössten Schwierigkeiten noch Folge leisten kann.

Bestimmt kann man über den Sinn vieler Verordnungen unterschiedlicher Meinung sein, einige sind sicher sinnvoll. Doch darum geht es nicht. Sondern darum, wie Verordnungen den Staat so steuern, dass mächtige Interessen nicht tangiert werden. Die Gesundheit der Bevölkerung steht für die Behörden bekanntlich an oberster Stelle, rührend sorgen sie sich um sie, mit einer unendlich langen Reihe von Verordnungen. Nur die Medikamenten­preise und die Gebiete, auf denen die Pharma­firmen forschen, können der freien Markt­wirtschaft wegen leider nicht reguliert werden, sodass schon heute Menschen sterben, weil sie sich bestimmte Medikamente, die von den Krankenkassen nicht übernommen werden, nicht leisten können oder weil niemand auf dem Gebiet seltener Krankheiten forscht, weil sie zu wenig lukrativ sind.

Niemand hat das so geplant. Es gibt keine Bilderberg-Verschwörung, die die allmähliche Verschiebung der gesellschaftlichen Macht orchestriert. Dass sich das Zentrum der Macht allmählich weg von den demokratisch legitimierten Institutionen hin zur Bürokratie bewegt, ist vielmehr Folge der Tatsache, dass die Interessen der Wirtschaft (sprich: des Kapitals) in der Schweiz sich durchzusetzen pflegen – auch dann, wenn die demokratische Legitimation dafür nicht auf der Hand liegt. Während auf wirklich relevanten gesellschaftlichen Gebieten, im Klimaschutz oder in der Banken­regulierung, keine wirksamen Kontrollen durchzukriegen sind, häufen sich Regulierungen, die die Machtlosen treffen – und die Player mit Gewicht begünstigen.

Doch stellt sich die Frage, weshalb sich so wenig Widerstand regt. Obwohl sich die meisten täglich mit sinnlosen Regelungen und unverständlichen Formularen herumschlagen, ist in der Schweiz kaum jemand bereit, Regeln zu umgehen, Ämter auszutricksen oder Formulare fantasievoll auszufüllen – obwohl dies, das kann ich versichern, ziemlich viel Spass machen kann. «Es braucht schliesslich Regeln», wird stereotyp wiederholt, ohne nach dem Sinn dieser Regeln zu fragen und danach, wem sie dienen. Weshalb werden Regeln von rechts bis links dermassen fetischisiert?

Karl Marx versteht Geschichte als Geschichte von Klassen­kämpfen, also als Ausdruck ökonomischer Strukturen. Um diese zu verschleiern, präsentieren die herrschenden Klassen Theorien, weshalb die Strukturen so sein müssen, wie sie sind. Diese Theorien nannte Marx Ideologien. Die Ideologie des globalisierten Spät­kapitalismus ist die Bürokratie: Zum einen bewirkt sie, wie schon Paulus erkannte, dass «jeder Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei». Weil niemand es schafft, alle Regeln einzuhalten und alle Formulare korrekt und rechtzeitig auszufüllen, kreiert die Bürokratie das Gefühl des individuellen Versagens und die Furcht, vom allwissenden Blick des Beamten­gottes ertappt zu werden. Wir fühlen uns beständig im Defizit, wir sind der Bürokratie immer etwas schuldig: Wir sind ewig Bittstellerinnen.

Gleichzeitig schafft Bürokratie die Illusion, vor den Verordnungen seien alle Menschen gleich. An der Stelle eines aufgeklärten entsteht ein bürokratischer Universalismus, einer, der kein individuelles Ausscheren toleriert: «Regeln gelten für alle!», wird man deswegen in Amtsstuben regelmässig angeherrscht.

«Es braucht schliesslich für das Zusammen­leben Regeln» ist daher nicht nur das Mantra der von Paulus, Nietzsche und Freud diagnostizierten Internalisierung der eigenen Unterdrückung, sondern auch der Selbst­beruhigung, letztlich doch in einer Gesellschaft von Gleichen zu leben.

Illustration: Alex Solman