Das Ölgemälde «Der Watzmann» zeigt das Bergmassiv mit dem dritthöchsten Gipfel Deutschlands. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie / Leihgabe der Deka Kunstsammlung, Frankfurt am Main

Unser Caspar!

Caspar David Friedrich liebte die Kühe und die Gletscher der Schweiz. Zu diesem eigentümlichen Schluss kommt zumindest das Kunst­museum Winterthur, das dem romantischen Maler kurz vor seinem 250. Geburtstag eine Ausstellung widmet.

Von Antje Stahl, 25.08.2023

Vorgelesen von Jonas Rüegg Caputo
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Die Ausstellung «Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik» im Kunst­museum Winterthur war noch gar nicht eröffnet. Trotzdem musste die Handtasche der Journalistin ins Schliess­fach. Die Restauratoren aus Deutschland seien noch im Haus, erklärte David Schmidhauser, Kurator der Schau, eine Woche vor der Vernissage (die heute Freitag­abend stattfindet). Die Kollegen aus Deutschland seien etwas «empfindlich», wenn es zu den von ihnen zu begutachtenden Gemälden komme. Kein Problem.

Abgesehen von den Versicherungs­anstalten, für die jeder Kratzer dokumentiert werden muss, wenn Caspar David Friedrichs Werke als kostspielige Leihgaben die Grenze passieren, hat ja schliesslich auch die Letzte Generation die Landschafts­malerei im Visier.

Kein halbes Jahr ist es her, dass Aktivistinnen dem «Wanderer über dem Nebelmeer», der nun in Winterthur zu bewundern ist, die Aussicht auf jenes Gebirge verderben wollten, das Friedrich ihm um 1817 so weltberühmt zu Füssen legte. Anders gesagt: In Hand­taschen könnten nicht nur Aufnahme­gerät und Geld, sondern auch Tupper­dosen mit Tomaten­suppe oder Kartoffel­brei stecken.

Der «Wanderer über dem Nebelmeer», entstanden um 1817. Hamburger Kunsthalle, Dauerleihgabe der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen, erworben 1970

Für gewöhnlich steht Friedrichs Rücken­figur im Gehrock mit Gehstock hoch oben auf einem Gipfel über Nebel und unter Wölkchen. Zu Zeiten des Klima­wandels sollte dieses malerische Schauspiel dem Anblick von Feuer, Flammen und Rauch­schwaden weichen – dafür hatten die Aktivistinnen extra eine Collage angefertigt, die sie in der Hamburger Kunst­halle auf die Glasschutz­scheibe des Bildes kleben wollten. Gemälde anschauen, während die Erde brenne, sei vollkommen daneben, empörten sie sich. In Anbetracht der Nachrichten der vergangenen Sommer­wochen, die einen aus Griechen­land, Italien, Kroatien und so weiter ereilen, könnte man ihnen rückblickend vielleicht sogar zustimmen.

Wenn es darum geht, Caspar David Friedrich für die Zeit­genossen zu erschliessen, möchten Museen jedoch auch in Zukunft lieber keine apokalyptischen Ängste schüren.

Slow Travelling im Elbsandstein­gebirge

Am 5. September 2024 würde der Maler 250 Jahre alt – also erst in einem Jahr. Die Jubiläums­feierlichkeiten beginnen trotzdem schon. Ausser für den «Wanderer über dem Nebelmeer» wird Friedrich bis heute ganz besonders für seinen «Mönch am Meer» (1808–1810) geliebt. Auch diese Rücken­figur steht ganz allein und einsam da. Im Gegensatz zum Wanderer wird der Mönch von seiner Umgebung jedoch geradezu verschluckt. Der Himmel breitet sich bedrohlich fast über die gesamte Bildfläche aus, der Strand ist nur ein schmaler Streifen vor dem dunklen Meer.

Friedrich, der in Greifswald geborene Sohn eines Seifen­sieders und Kerzen­ziehers, wurde von US-Amerikanern deshalb während des Kalten Krieges sogar als erster abstrakter Maler überhaupt bezeichnet. Die Autorin dieses Beitrags lernte an der Uni im Fach Kunst­geschichte jedenfalls noch, das Erhabene sowohl im Mönch am Meer als auch im abstract expressionism eines Mark Rothko ausfindig zu machen. Friedrich, das war der grosse Erneuerer aus Germany, ja, der modernste unter den Romantikern.

Anlässlich des 250. Geburtstags hat der Bestseller­autor und Kunst­kenner Florian Illies nun «Zauber der Stille», ein historisches Epochen­porträt, geschrieben. Zum Redaktions­schluss dieses Beitrags lag noch kein Rezensions­exemplar für die Medien vor, was schade ist, denn in dem Buch soll immerhin «Friedrich, der Maler, zu einem Menschen aus Fleisch und Blut» werden. Dazu passt aber vielleicht, dass Friedrichs Wahl­heimat Dresden unbedingt schon jetzt die «echten Spots der Romantik» für ein grosses internationales Jubiläums­publikum erschlossen hat.

Dresden, wo Friedrich nach seiner Ausbildung an der Akademie in Kopenhagen mit 24 Jahren ein Zusatz­studium in Landschafts­malerei aufgenommen und bis zu seinem Tod am 7. Mai 1840 gelebt hat, kann zwar nicht mit den Kreide­felsen auf Rügen und den Segel­schiffen auf der Ostsee konkurrieren, die Friedrich so oft ins Bild setzte. Die Stadt empfiehlt aber eine Wanderung auf dem Caspar-David-Friedrich-Weg: Vom Dorf Krippen entlang der Elbe bis hinauf zur Kaiser­krone im tollen Elbsandstein­gebirge in Sachsen soll man sich auf seine Spuren begeben, bevor die grossen Sonder­ausstellungen im Kupferstich­kabinett und Albertinum im Sommer 2024 eröffnen. En plein air geht eben immer.

Friedrich sei ein «überzeugter ‹Slow Traveller› gewesen, er wusste es nur noch nicht», heisst es zur Begründung aus Dresden. «Wenn der berühmte Maler reiste, dann gemächlich zu Fuss, im immer gleichen grauen Reise­mantel und mit häufigen Skizzen­stopps. Kutsch­fahrten waren ihm zu schnell, er wollte die Eindrücke nicht flüchtig vorbei­ziehen lassen, sondern nachhaltig in sich aufnehmen.»

In Zeiten, in denen E-Bikerinnen gerne mit laufender Kamera auf dem Velo­helm über alpine Wander­wege rasen, taugt die alte Landschafts­malerei aus dem frühen 19. Jahrhundert also offenbar auch dann noch zum kulturellen Gegen­angriff, wenn die Klima­katastrophe aussen vor gelassen wird. Nun ja.

Der Kurator David Schmidhauser ruft im Museums­foyer per Knopf­druck den Aufzug. «Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik» hausen unterm Dach.

Auf dem Weg nach oben sollte man sich unbedingt noch in Erinnerung rufen, dass Friedrich sich vor mehr als zweihundert Jahren auch deshalb nach Krippen zurückzog, einem heute anerkannten Kneipp­kurort, weil in Dresden der Krieg tobte. Im frühen Sommer 1813 jedenfalls, als Napoleon die Elbe-Linie zurück­eroberte und die Stadt besetzte, soll Friedrich dort viele Monate bei seinem Freund Friedrich Gotthelf Kummer gelebt haben.

«Angesichts der politischen Verhältnisse» hatte der Maler «eine starke Abneigung gegen Frankreich und alles Französische entwickelt», der Ärger über die vaterländischen Angelegenheiten habe ihn erkranken lassen, wurde damals sogar berichtet. (Heute wird Friedrichs allgemein nicht besonders stabiler Gesundheits­zustand lieber mit einer Autismus-Spektrum-Störung in Verbindung gebracht.)

Kein germanischer, ein europäischer Zeitgenosse ist er

Friedrich skizzierte am Fusse der Kaiserkrone trotzdem noch eine «felsige Kuppe», die ihm einige Jahre später zurück in seinem Dresdner Atelier neben anderen Zeichnungen zur Vorlage für seinen «Wanderer über dem Nebelmeer» gedient haben soll. Wichtig für die Rezeption seines Werks bleibt auch, wie sehr der Weimarer Hof sich für Friedrichs Kunst begeistern konnte: Sein «Hünengrab am Meer» (1807) oder eine «Sommer­landschaft mit abgestorbener Eiche» (1805) wurden schon mal als «Überreste eines alten, freien Deutschlands» verstanden – und als «Aufforderung, auch in aussichtsloser Lage Widerstand zu leisten». Für das gegenwärtige Sachsen sind solche Auszüge aus der Geschichte politisch definitiv zu aufgeladen, um locker Werbung damit zu machen.

Laut jüngsten Umfragen würde die AfD bei den sächsischen Landtags­wahlen, die mit den Jubiläums­feierlichkeiten zu Caspar David Friedrich 2024 zusammen­fallen, auf 30 Prozent kommen. Caspar David Friedrich sollte also nicht noch einmal zum National­helden stilisiert werden. Anlässlich seines 100. Todestages im Jahr 1940, als die Nazis gegen ganz Europa Krieg führten, wurde der «blasse, blonde Knabe mit tiefen blauen Augen» bereits zu jenen Romantikern gezählt, die Adolf Hitler als die «schönsten Vertreter jenes deutschen Suchens nach der wirklichen und wahrhaften Art unseres Volks» beschworen hatte.

Kurt Karl Eberlein, Kunst­historiker und grosser Anhänger der arischen Rassen­theorien, war überzeugt, «der junge Friedrich» sei «mit seiner nordischen Lichtliebe, Steinliebe, Grabliebe, mit seinem erdgebundenen Naturkult gewiss germanischer als alle seine Zeitgenossen» – «seine Deutschheit ging so weit, dass er nie eine fremde Sprache lernen wollte, nie ins Ausland reisen wollte».

«Morgennebel im Gebirge» von Caspar David Friedrich, entstanden 1808. Thüringer Landesmuseum Heidecksburg Rudolstadt

Man sollte sich diese ideologische Verzerrung von Friedrichs Biografie oder – halt, stopp – wenigstens die ihr zugrunde liegenden Fakten merken. Friedrich weigerte sich nämlich tatsächlich, grosse Reisen anzutreten, ganz besonders solche, die ihn zu Studien­zwecken über die Alpen nach Italien getrieben hätten wie so viele seiner Zeitgenossen, Goethe allen voran.

Friedrich war eben, das gibt auch David Schmidhauser zu, für seine «patriotische, national­liberale» Gesinnung bekannt. Trotzdem möchte ihn Schmidhauser in Winterthur als Europäer verkaufen – zumindest stilistisch gesehen. Und ihm eine ausgeprägte Vorliebe für die Schweiz anhängen. Beim Rundgang sagt Schmidhauser, das sei bei der ganzen Vorgeschichte schon einiger­massen «frech». Aber der Reihe nach.

Dass «Der Wanderer über dem Nebelmeer» aus der Kunsthalle Hamburg nun in Winterthur neben den prächtigen hauseigenen Sammlungs­stücken aus der Stiftung Oskar Reinhart sowie dem Partner­museum Georg Schäfer aus Schweinfurt zu sehen ist – und dass auch andere berühmte Friedrich-Werke, etwa «Der Watzmann» (1824/25), in der Schweiz gezeigt werden können, hängt natürlich mit dem Zeitpunkt zusammen. Spätestens 2024 wäre jedenfalls kein Friedrich mehr als temporäre Leihgabe aus Deutschland zu bekommen. (Den «Mönch am Meer» rückten die Staatlichen Museen zu Berlin schon dieses Jahr nicht raus.)

Für das Kunstmuseum Winterthur ist dieser dem Jubiläum voraus­eilende Zeitpunkt jedoch kein Problem, es macht aus der Not einfach eine Tugend: Die Vorboten der Romantik, das seien auch die «Stimmungs­träger der Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts», deren Werke hier neben Friedrichs gestellt werden, als wären sie seine Väter und er ihr Ziehkind. Und das Kunst­museum positioniert sich selbst als Vorboten: Ihre Ausstellung ist eine der aller­allerersten in einer langen Jubiläums­reihe. Schön.

Der geheime Titel der Schau

Auf den ersten Blick passt denn auch alles harmonisch zusammen. «Der Wanderer über dem Nebelmeer» hängt im Zentrum einer der dicken Stell­wände, die den grossen Ausstellungs­saal unterteilen und alle farbig in tiefem Admiral­blau angestrichen sind – eine Anspielung auf die berühmte blaue Blume, erklärt Schmidhauser. Sie ist, frei nach dem Dichter Novalis (und Wikipedia), ja als ultimatives Symbol für die romantische Sehnsucht nach Unendlichkeit in die Geschichte eingegangen.

Rechts und links von Friedrichs Segel­schiffen, Ruinen, Eichen, Höhlen, Gräbern, Felsen und Bergen wurden Gemälde, aber auch Zeichnungen, Aquarelle, Feder- und Pinsel­arbeiten anderer Künstler mit ähnlichen Motiven platziert, die Friedrich zum Vorbild gereicht haben sollen. Viele aus den Niederlanden, klar. Man schreitet von Bäumen und Wäldern an Segel­schiffen vorbei bis nach hinten zu den Bergen. Und hier am Ende wird es für das Schweizer Publikum richtig interessant.

Kurator Schmidhauser versucht mittels eines raffinierten kunst­historischen Manövers nämlich, das Elbsandstein­gebirge als Friedrichs Erfahrungs­raum auszuklammern. Die Schweiz, ihre Alpen, Gletscher und sogar Kühe hätten genauso Friedrichs «Sympathien oder zumindest künstlerisches Interesse» auf sich gezogen. Das und vieles mehr kann man im Ausstellungs­katalog im Kapitel «Caspar David Friedrich und die Schweiz» nachlesen. Schmidhauser erklärt flüsternd, so laute ohnehin «der geheime Titel» der Schau.

Als Kronzeuge für Friedrichs Philhelvetismus dient der gebürtige St. Galler Adrian Zingg, der 1766 an die zwei Jahre zuvor gegründete Maler­akademie in Dresden berufen worden war. Er sei es gewesen, der die Maler in Deutschland überhaupt erst zum Studium en plein air geführt habe. Nach seiner Ankunft soll er unverzüglich in die Sächsische Schweiz aufgebrochen sein – damit ist eben jenes Elbsandstein­gebirge rund um Krippen und Kaiserkrone gemeint, in das Friedrich später flüchten würde. Zingg soll sogar den «helvetischen Namen» für das Gebiet geprägt haben. Und schliesslich auch die «Lustreisen» für die neuen «Freilicht­zeichner» etabliert haben.

Darüber hinaus versammelt Schmidhauser einige Schweizer Landschafts­grafiker, die im ausgehenden 18. Jahrhundert Wasser­fälle und unterhöhlte Felsen, Gletscher und Wildkirchli­höhlen hoch oben in den Bergen skizzierten. Solche Blätter, oft von Hand aquarelliert, waren um 1800 in ganz Europa bekannt, weshalb auch Friedrich so eines kopierte. In einem Brief aus dem Jahr 1808 an seinen Bruder Christian (Friedrich kam als sechstes von zehn Kindern zur Welt) legt er dann auch seine Pläne zu einer Reise in die Schweiz dar, Schmidhauser erwähnt das selbst­redend, um Friedrichs Sehnsucht nach den Alpen auch jenseits seines Werkes nachzuweisen.

Wundervoll ist auch, dass das Gemälde eines «Hoch­gebirges» von Carl Gustav Carus (1824), der nachweislich in den Alpen verkehrte, im Kunstmuseum Winterthur als Indiz dienen darf, dass auch Friedrich die schnee­bedeckten Berg­spitzen gemalt habe. Bei Carus’ Bild handelt es sich nämlich lediglich um eine Nachahmung des Friedrich-Gemäldes «Hochgebirge (Schweizer Landschaft)», das nur leider niemand, der noch lebt, je zu Gesicht bekommen hat, weil es verschollen ist.

Drei weitere Rückenfiguren: «Mondaufgang am Meer», 1822. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie
«Das Eismeer bei Chamonix», gemalt 1825–1827 von Carl Gustav Carus, einem Zeitgenossen Friedrichs. Museum Georg Schäfer, Schweinfurt

1824/25 entstand auch Friedrichs Ölgemälde «Der Watzmann», das es, ob seiner schieren Grösse von 135 mal 170 Zentimetern, fast mit der Historien­malerei aufzunehmen versucht. Auch hier soll die Schweiz irgendwie ihre Finger, Entschuldigung, ihre Berge mit im Spiel haben. Realisiert hat der Maler seine Reise­pläne bezüglich Schweiz übrigens nie. Ihm fehlte wohl das Geld dazu.

Zu guter Letzt entdeckt man im Kunst­museum Winterthur unter den Vorboten der Romantik sogar noch einen Franzosen, der sich fast gänzlich Darstellungen der römischen Campagna widmete: den Künstler Claude Lorrain (ca. 1600/1604–1682). Ob man dies – so ein Jahr vor dem grossen Jubiläum – als freundlich erhobenen Mittel­finger für all diejenigen verstehen soll, die stolz auf Friedrichs Patriotismus und stilistische Alleinstellung waren?

David Schmidhauser muss zurück zu den Restauratoren. Sie bemühen sich am Ende ja darum, dass Caspar David Friedrich unantastbar bleibt, ganz gleich, wer ihm mit welchen Mitteln auch immer zu Leibe rückt.

Hinweis: Wir haben in einer früheren Version geschrieben, dass Friedrichs Gesundheits­zustand heute eher mit «Autismus und Asperger» in Verbindung gebracht werde. Gemäss DSM-5 spricht man mittlerweile jedoch von «Autismus-Spektrum-Störung», die Diagnose Asperger-Syndrom wurde aufgegeben. Wir haben die Stelle angepasst und bedanken uns für den Hinweis aus der Leserschaft.

Zur Ausstellung

«Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik» im Kunstmuseum Winterthur läuft bis zum 19. November. Am 9. November liest der Autor Florian Illies dort aus seinem neuen Friedrich-Buch «Zauber der Stille».