Das Kinderlos
Kunst muss nicht zeigen, was ist. Aber was sein kann. Ein halbes Jahr hat die Künstlerin Camille Henrot in der Republik die Mutterschaft reflektiert. Was davon bleibt.
Ein Essay von Antje Stahl, 20.11.2021
Vor ein paar Monaten fing mein Sohn an, mich «Mama» zu nennen. Seine knapp anderthalbjährige Sprachentwicklung ist nun so weit. Er ruft mir hinterher, wenn ich morgens das Schlafzimmer verlasse, um pinkeln zu gehen. Oder mich auf dem Spielplatz von seinem Sandkistenplatz entferne, um aus dem Kinderwagen was zu trinken zu holen.
Auch möchte er sich, glaube ich, manchmal vergewissern, dass er nicht verlassen wurde. Während ich in der Küche herumhantiere und er weit weg von meinem Aufpasserblick am Stromkabel einer Lampe zieht, höre ich «Mama» wenigstens so oft, bis ich ihm antworte: «Jaa, ich bin daa.» Dann, vor ein paar Tagen auf dem Weg zur Kita, sprach er mich plötzlich scheinbar völlig zweckentfremdet an. «Mama», sagte er, «Mama.» Dabei klang seine helle Stimme hingebungsvoll, in seinen Augen könnte sogar so etwas wie Bewunderung gelegen haben.
Kinder lieben bedingungslos, davon hatte ich lange vor der Geburt meines Sohnes gehört. Für viele Frauen, die ich kenne, liegt darin das ganz grosse Glück von Mutterschaft: für ein Wesen – und sei es nur für ein paar Jahre – eine Art Heilige zu sein. Für mich fühlte sich der Gang zur Kita jedoch eher wie ein Kreuzweg an. Dieses heraufschauende «Mama» bereitete mir Unbehagen.
Die Venus von Instagram
In ihrer Republik-Kolumne «Milkyways» kam die Künstlerin Camille Henrot immer wieder auf Idealvorstellungen von Müttern zu sprechen. Und da ich mich mit diesem Text nun von der gemeinsamen Arbeit verabschiede – zehn Folgen sind ein schönes Paket, denken wir (und planen bereits, ein Künstlerbuch mit weiteren zu realisieren) –, habe ich alles noch einmal durchgesehen. Dabei bin ich vielen Zeilen begegnet, in denen der Heiligenstatus von Müttern mehr als problematisch wird. Vielleicht hatte mein Unbehagen an diesem Kita-Weg-Morgen auch damit etwas zu tun?
Gleich zum Auftakt im April liess Camille Henrot berühmte mythologische oder religiöse Figuren wie Venus oder die Jungfrau Maria auftreten. An ihrer unbefleckten Schönheit halten schliesslich sowohl Werbebilder als auch Prominente bis heute fest. Als Beyoncé im Jahr 2017 auf Instagram die Namen ihrer neugeborenen Zwillinge Sir Carter und Rumi bekannt gab, wurden ihr sogar beide Rollen – also Maria und Venus – auf den Leib geschneidert.
Auf dem bereitgestellten Instagram-Foto sind sie und ihre Säuglinge in ein stoffgewaltiges Gewand aus blauvioletten Farben gehüllt, das in der alten Ikonografie-Tradition allein der Mutter Jesu vorbehalten war. Ausserdem steht Beyoncé mit ihren Zwillingen im Arm in einem üppigen Blumenkranz-Garten, im Hintergrund sieht man den sonnigen Horizont über blauem Meer, dem bekanntlich Venus einst entstiegen sein soll: Mehr Ikonen-Inszenierung geht eigentlich nicht.
Deshalb ist auf diesem Instagram-Foto auch «alles wasserdicht und frei von Körperflüssigkeiten», um zurück auf die «Milkyways»-Kolumne zu kommen. «Sexualität» gibt es wohl, weil Queen Beys Beine nackt aus dem Umhang hervortreten. Von allem anderen, was Camille Henrot interessiert – die schlaflosen Nächte, wunden Brustwarzen, vollgestauten Milchbusen, die von Geburten zerrissenen und mitunter «kaiseraufgeschnittenen» Körper, die überforderten Gemüter und Wochenbettdepressionen –, also vom sogenannten «Leiden», gibt es keine Spuren.
Eine neue Ästhetik von Mutterschaft
In den sozialen Netzwerken wurde der Auftritt von Queen Mother Bey daher auch nicht nur mit Likes versehen. Leute veröffentlichten Gegenbilder, die das «wahre Spektrum an Erfahrungen» aus dem Alltag mit Zwillingen zeigen, von «Schwäche, dem Zerfall und der Erschöpfung» Zeugnis ablegen, über die Camille Henrot auch in ihrer letzten Folge geschrieben hat.
Bei solchen digitalen Reaktionen neige ich leider selbst dazu, sie wie Naturmetaphern zu betrachten und als «Wellen» abzutun, die kommen und gehen, nur eben nichts am Status quo ändern werden. Aber damit würde ich wohl sogar der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft unrecht tun. In einem sie durchaus repräsentierenden Ort, der Kunsthalle Mannheim in Deutschland, eröffnete Anfang Oktober eine Ausstellung mit dem Titel «Mutter!», in der viele Künstlerinnen wie Camille Henrot daran arbeiten, die Ästhetik von Mutterschaft von ihren Tabus zu befreien.
Drei Gemälde von Camille Henrot werden dort ausgestellt. Und das Foto von Beyoncé wird kritisch kommentiert. Auf einer Fotografie von Rineke Dijkstra steht eine junge Frau namens Julie mit ihrem Neugeborenen vor einer cremeweissen Wand auf einer Art, wie es scheint, Krankenhausflur. Sie trägt nichts als diese unbeschreiblich furchtbare Netzunterhose mit der dicken Binde, die den Blutausfluss nach der Geburt aufsaugen soll. Gleich daneben erzählt Elina Brotherus in einem Fotoessay von ihrem gescheiterten Versuch, ein Kind zu bekommen.
Das Kontrastprogramm: Wir sehen einen Bauch, der von den vielen Hormonspritzen angeschwollen und voller blauer Blutergüsse ist. Elina Brotherus weint. Sie sitzt am Küchentisch. Auf dem Boden. Auf einem beigen Samtsofa liegen Dutzende Arzneiverpackungen, die das falsche Versprechen der künstlichen Befruchtbarkeit steril dosieren. Die Frau muss allein mit der medizinischen Prozedur fertigwerden, scheinen diese Bilder aus den eigenen vier Wänden zu sagen.
«Mutter!» in der Kunsthalle Mannheim läuft noch bis zum 6. Februar.
In der Schweiz kommt jedes vierzigste Kind infolge einer In-vitro-Behandlung zur Welt. Das sind nicht superviele. Wenn man allerdings bedenkt, dass nur rund 35 Prozent derjenigen, die sich der Behandlung unterziehen, auch erfolgreich sind, sprich am Ende überhaupt gebären, stehen wir im Jahr 2019 vor 3900 Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch.
In der Regel wurden sie alle durch Kinderwunsch-Praxen geschleust, die sich durchaus als ästhetisches Gegenprogramm eignen zum häuslichen Gefühlsgefängnis, das die Künstlerin Brotherus dokumentiert: Frauen sitzen im Wochentakt breitbeinig auf Gynäkologenstühlen zwischen Kühlschrank, Bildschirm und Labor. Embryonen werden nummeriert und transferiert. Es kommen Pinzetten, Reagenzgläser, Staubsaugerröhren und Scheidenspiegel zum Einsatz. Viele erzählen, sie fühlten sich wie in Legebatterien aus Alienfilmen. Wie sollen die Erfahrungen in und aus dieser befremdlichen Welt verarbeitet werden?
Fuck you
Der Fotoessay von Elina Brotherus endet mit einem Selbstporträt, auf dem sie einen Dackel auf dem Arm hält und uns den Mittelfinger entgegenstreckt: Fuck you. «My Dog Is Cuter than Your Ugly Baby» – «Mein Hund ist süsser als dein hässliches Baby» – lautet der Titel. Damit grenzt sich die Künstlerin interessanterweise nicht von der sogenannten patriarchalen Gesellschaft ab, sondern von Eltern, nein: von Frauen mit Babys, von happy moms wie mir.
Je länger ich darüber nachdenke, desto selbstmörderischer wirkt das irgendwie. Ich jedenfalls kenne noch die feministische Regel, dass wir unseren Schmerz nicht gegen andere Frauen richten dürfen. Egal wie neidisch, verletzt, missgünstig, kritisch man auch auf ihr (vermeintliches) Glück schaut – schuld sind das System, die Frauenbilder, die Traditionen, die Konventionen. Endlich zeigt eine Künstlerin, dass diese Dinge dem Herzen oft ziemlich scheissegal sein können.
Kinderlosigkeit wurde in der Kunstgeschichte sehr, sehr lange idealisiert. Man kennt das aus fast allen künstlerischen Disziplinen – aus der Literatur, der Architektur, dem Schauspiel und so weiter: Der gute alte Genius war männlich konnotiert, passte nicht zum wollüstigen Fleisch. Der Künstlermann war wie der Bildhauer-Gott, der Adam aus der Erde und Eva aus seiner Rippe formte. Die Frau, die der entgrenzten, chaotischen, mitunter hysterischen Materie entsprechen sollte, eignete sich höchstens als seine Muse. Berühmt geworden ist das futuristische Manifest aus dem Jahr 1909, in dem Rennwagen, Kriege, Waffen, Fabriken verherrlicht – und die «Weiber» verachtet werden.
Aus heutiger Sicht wirken diese Theorien und Parolen lächerlich. Die Fakten allerdings untermauern, wie unterdrückt Frauen gesellschaftlich und in Kunstkreisen tatsächlich waren: Der Zugang zu Kunstakademien war ihnen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwehrt. Und die sogenannte Hausfrauenehe, die sie gesetzlich dazu verpflichtete, den Haushalt zu führen, wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst im Jahr 1977 abgeschafft. Im selben Jahr heirateten meine Eltern, by the way. Allzu lange ist es eben nicht her, dass patriarchalische Rollenverteilungen dem biologischen Geschlecht eingeschrieben wurden.
Kunst, aber bitte keine Kinder
Ist es daher verwunderlich, dass Künstlerinnen diese Logik bis heute verinnerlicht haben? Marina Abramović, die für den Performance-Einsatz ihres Körpers bekannt geworden ist und ihn seit den 1970er-Jahren durch Messer verletzt, mit voller Wucht gegen Wände rammt oder vor laufender Kamera verprügeln lässt, sagte 2016 in einem Interview auf die Frage, ob sie keine Kinder bekommen wollte:
Nein. Nie. Ich habe drei Mal abgetrieben, weil ich überzeugt war, dass es ein Desaster für meine Arbeit wäre. Man hat nur so und so viel Energie in seinem Körper, und die hätte ich teilen müssen. Das ist meiner Ansicht nach der Grund, warum Frauen in der Kunstwelt nicht so erfolgreich sind wie Männer. Es gibt jede Menge talentierter Frauen. Warum übernehmen die Männer die wichtigen Positionen? Ganz einfach: Liebe, Familie, Kinder – all das will eine Frau nicht opfern.
Marina Abramović scheint es nicht in den Sinn zu kommen, vielleicht den Kunstbetrieb für die sogenannte Unvereinbarkeit von Beruf und Kindern unter Frauen verantwortlich zu machen. Schlechte Arbeitsbedingungen, (Selbst-)Ausbeutung, die ganzen schlimmen strukturellen Zwänge des Marktes werden von Abramović einfach ausgeklammert, was in ihrem Fall ganz besonders merkwürdig ist, weil sie, geboren 1946, im alten Jugoslawien in Belgrad aufgewachsen ist, in dem marxistisches Denken zumindest auf dem Papier als Staatsräson galt. Nach New York in die USA ausgewandert, scheint sie dem neoliberalen Alles-geben-Mythos zu erliegen. Aus heutiger Sicht muss Abramović jedenfalls wie eine Märtyrerin wirken, die im Glauben an die alten Werte rund um «das freie Künstlertum und sonst nichts» den Anschluss an die Gegenwart verpasst hat. Das macht sie angreifbar, vor allem für die jüngere Generation von Künstlerinnen.
Für «The Artist Is Present», ihre grosse Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 2010, verbrachte Abramović über einen Zeitraum von drei Monaten acht Stunden täglich auf einem Stuhl, um mehr als 1000 Besucherinnen in die Augen zu schauen. Es war ihr grosser Selbstverausgabungsbeitrag für die Welt. Unter ihnen befand sich auch die Künstlerin Hannah Cooke. Zumindest wenn man dem Video traut, für das sie die Moma-Kulisse der Performance in ihrem Studio in Karlsruhe nachbaute. Dort sitzt sie Abramović gegenüber und stillt ihre Tochter Ada. As simple as that.
Generationenkonflikt
Aus feministischer Sicht ist das wohl das perfekte Sinnbild für den Generationenkonflikt: Abramović ist, wie gesagt, Jahrgang 1946, Cooke ist Jahrgang 1986. Ein Sinnbild für den Wertewandel, für den, jedenfalls in Deutschland, neue «Kunst & Kind»-Bündnisse in vielen Grossstädten kämpfen. Es geht ihnen um die Anerkennung von Künstler-Elternschaft, die etwa in die Planung von Ausstellungen mit einkalkuliert werden soll. Um die strukturelle Veränderung des Status quo im Umgang mit Kindern. Leute von heute sehen nicht mehr ein, weshalb sie Kunst für Kinder oder Kinder für die Kunst opfern müssten: Alles sollte gleichzeitig möglich sein.
Zum Auftakt der Kolumne «Milkyways» wurde Camille Henrot gemeinsam mit ihrem Lebenspartner Mauro Hertig und Sohn Iddu beim Aufbau ihrer Ausstellung «Mother Tongue» in der Kestner Gesellschaft in Hannover gezeigt: Sie sitzen zwischen Skulpturen, Blecheimern und anderem Material, im Hintergrund liegt Kinderspielzeug herum, Iddu spielt auf Socken mit Mamas Kunst. Auf diese Weise werden Realitäten, vielleicht sogar Vorbilder geschaffen für andere Künstler, die nicht wissen, wohin mit ihren Kindern: Nehmt sie mit, ist die Botschaft. Dafür müssen Institutionen und Galerien Zeit, Verständnis und Geld aufbringen!
Bei allergrösster Zustimmung zu diesem neuen Zeitgeist frage ich mich allerdings auch, ob er unter schlechten Umständen nicht dafür sorgen könnte, mit Künstlerinnen wie Marina Abramović zu hart ins Gericht zu gehen. Die Soziologie setzt sich seit vielen Jahren mit den sogenannten Übergangsgenerationen auseinander, zu denen Abramović genauso wie viele Mütter aus meinem Freundeskreis gezählt werden müssen: Abramović nahm sich die Freiheit, mit ihrem weiblichen Körper die Grenzen der musealen Kunst zu sprengen, verpasste es bei diesem feministischen Gang durch die Institutionen jedoch, die andere Frauen-, eben die Kinderfrage, gescheit zu reflektieren.
Die «bürgerlichen» Mütter bekamen Kinder und gaben ihre Berufe auf, ganz einfach, weil sich das Doppelleben zwischen Haushalt und Büro noch nicht in Gänze gesellschaftlich durchgesetzt hatte. Im Spiegel des heutigen Zeitgeistes, für den nicht selten ihre studierten Töchter mit einer beruflichen Karriere und einem Kind zu Hause stehen, verlieren ihre eigenen Entscheidungen und Biografien dann so an Wert, dass sie depressiv werden. Etwas Ähnliches könnte heute in der zeitgenössischen Kunst doch auch passieren? Wenn es wirklich zum neuen Ding wird, als Künstlerin mit Baby aufzutreten, stiftet das Bild von der radikalen, sich aufopfernden Künstlerin keinen Sinn mehr.
Ich möchte damit nicht sagen, dass wir an diesem Ideal festhalten sollten. Ich frage mich nur, was passieren würde, wenn jemand wie Abramović kein Trugbild heranziehen müsste, um auf eine Kinderwunsch-Frage zu antworten. Wenn Künstlerinnen im Gegenteil einfach sagen: «Ob ich Kinder wollte oder nicht, ist nicht von öffentlichem Interesse.» Oder: «Fragen Sie das auch Männerkünstler, die keine Kinder haben?» Kinderlosigkeit sollte nicht gerechtfertigt, geschweige denn erklärt werden müssen. Im oben erwähnten Interview sagt Abramović noch ergänzend, sie habe eine schlechte Kindheit gehabt. Und: «Meine Studenten sind meine Kinder. Ich glaube ans Unterrichten, ich liebe es.»
Wahrscheinlich ist der Fotoessay von Elina Brotherus mit dem Dackel deshalb so gut: Sie setzt ihren unerfüllten Kinderwunsch ins Bild. Und räumt motivisch einem Dackelwelpen den Platz für das ungeborene Kind ein. Und eben nicht der Kunst. Der Fuck-you-Mittelfinger richtet sich auch gegen diese Tradition.
Am Ende des Tages sind wir ohnehin noch weit von so einem Szenario – im Museum rennen alle mit Babys herum – entfernt. In der Kunsthalle Mannheim berichten Mitarbeiterinnen hinter vorgehaltener Hand, dass die ganze Sache mit den Künstler-Eltern und -Kindern eher nebensächlich behandelt wird, wenn nicht gerade eine Ausstellung zum Thema «Mutter» läuft. Einer meiner Lieblingstexte über die unmöglichen Produktionsbedingungen von Kunst als Mutter stammt von Barbara Peveling. Die Ich-Erzählerin hält sich in einer Schreib-Residency auf, in die ihre zwei Kinder mitkommen müssen.
In dreizehn unglücklichen Kapitelchen wird über Spätzlebraten auf Schnellkochplatten, fehlende Waschmaschinen und Ausflüge zu Badeseen berichtet, die die Ich-Erzählerin – klar: vom Schreiben abhalten. Hinzu kommt ein Zwiegespräch mit einem Engel, der wie die gute alte Fee natürlich nur das Beste für den Nachwuchs will und das Härteste der Mutter abverlangt. Seit fast zwei Jahren arbeite ich übrigens selber an einem Manuskript für ein Buch, die Deadline für die Abgabe musste seit der Geburt meines Sohnes nun zum wiederholten Male verschoben werden; was soll ich sagen: Es ist einfach nach wie vor fucking unmöglich, alles unter einen Hut zu bringen. Wem darf ich die Schuld dafür geben? Vielleicht ist das auch die falsche Frage: Warum wollten und sollten wir, um Himmels willen, überhaupt alles unter einen Hut bringen? Marina Abramović hat ja am Ende des Tages vielleicht sogar recht, dass ein Körper nur so und so viel leisten, aushalten, performen kann? Ich weiss es nicht.
Geteilte Care-Arbeit
Für Camilles Ausstellungsaufbau in Hannover ist der Komponist Mauro Hertig, Camilles Lebenspartner, mitgereist. Care-Arbeit, wie wir heutzutage sagen, ist keine Frauensache mehr und muss auf viele verteilt werden. Tatsächlich würde ich aus meiner subventionierten Berlin-Bourgeoise-Boheme-Bubble sogar behaupten, dass der Daddy in Elternzeit zum Stadtbild gehört. Der Vater meines Sohnes gehörte jedenfalls für eine lange Weile dazu. «Alle Väter nicken sich wohlwissend und kollegial im Vorbeigehen mit ihren Babys in der Trage zu: Ah, du auch in Daddy-Duty. Ist wohl das Zeichen für: ganz normaler Betrieb», sagte er in dieser Zeit und verglich sie alle gerne mit Busfahrern, die beim Vorbeifahren einander zuwinken. In der Regel kam er nur nach Hause, um mir das Kind zum Stillen zu übergeben. Schweizer Arbeitsverträge verpflichteten mich wie jede andere Mutter oder jeden anderen Vater auch dazu, nach wenigen Monaten wieder an die Arbeit zu gehen. Einige Male gab er dem Winzwesen die Flasche, der Anblick der beiden vermittelte mir tatsächlich so etwas wie, Entschuldigung: Seelenfrieden.
In der Kommentarspalte zur Milkyways-Kolumne, unter die Folge «Pump and Dump», in der es um Milchpumpen ging, die solche Stilleinheiten mit der Flasche ja unter anderem ermöglichen, schrieb ein Republik-Leser: «Wer bin ich denn als Mann noch, wenn die erste Mahlzeit von der Mutter kommt?» Er habe seine Tochter (die schon lange erwachsen sei) mit Stillersatz aufgezogen, weil zu wenig Muttermilch da war. Da spricht auch der Wunsch nach Anerkennung raus.
In der Kunsthalle Mannheim wird ein Plastikgeschirr in Busenform mit Brustwarzen-Löchern gezeigt, das Männer sich anschnallen können, um Säuglinge genau wie Frauen auch im Wiegegriff stillen zu können. Eine Art Design der Emanzipation. Camille Henrot schrieb in ihrer Kolumne über einen Film, in dem der Mann einfach gleich Milch in seinen Brüsten zu produzieren beginnt, als die Mutter ihr Baby nicht mehr ernähren konnte. Das Thema «Mutter» betrifft nicht nur Frauen oder heterosexuelle Paare. Das versteht sich, hoffe ich, von selbst.
Trotzdem brechen Männer, die Babys in Tüchern durch die Strassen tragen, immer noch mit den Sehgewohnheiten. In der Kunsthalle Mannheim hängt eine Reihe von Fotografien, für die Marta Moreiras Väter in Dakar bat, ihre Kinder auf ihren Rücken in bunte Tücher einzubinden. Unter ihnen sind ein Rapper, ein Handwerker, ein Kameramann und ein Finanzberater, die zwischen Häusern, Autos und Passanten stehen. Es ist das stereotypische Bild aus Afrika mit vertauschten Geschlechterrollen, eine revolutionäre Sicht auf unser aller postfeministische Zukunft.
«Mama’s boy» aus Italien
Bereits zu männerdominierten Zeiten lagen hinter lauten frauenfeindlichen Manifesten oft komplexere Lebensverhältnisse verborgen. Das zeigt auch die Kunstgeschichte. In einer anderen fantastischen Ausstellung zum Thema Mutter – «The Great Mother» –, die ich vor Jahren im Palazzo Reale in Mailand gesehen habe, wurden die Futuristen als ziemlich scheinheilig entlarvt. Kurator Massimiliano Gioni stellte Filippo Tommaso Marinetti, dem Verfasser des futuristischen Manifestes von 1909, dessen Kollegen Umberto Boccioni gegenüber. Letzterer verbrachte «Stunden damit, seine Mutter zu porträtieren».
Unzählige Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen sind erhalten, in denen seine Mutter im Bett, mit entblösstem Rücken oder bei der Hausarbeit zu sehen ist. Etwa zur gleichen Zeit experimentierte, nur so nebenbei, Marcel Duchamp mit Geschlechterrollen. Seine Mona Lisa mit Schnurrbart ist das vielleicht berühmteste Beispiel dafür. Genauso wie seine weibliche Alter-Ego-Figur Rrose Sélavy, die Man Ray porträtierte: Auf seinen Bildern ist Duchamp wunderschön geschminkt und wie eine Frau gekleidet.
Vieles spricht dafür, dass die Futuristen geradewegs der «Mama’s boy»-Kultur Italiens entspringen, schreibt Gioni, der selbst aus Italien kommt. Allerdings hütet er sich davor, dieses Nebeneinander von Frauenhass und Mamaliebe einer tiefenpsychologischen Analyse zu unterziehen. Dafür liebe ich ja Camille Henrot: In Folge 9, «Milch und Schuld», deutet sie das Leben, das Frauen spenden, die Milch, die sie ihren Kindern verabreichten, und die Pasta, die sie ihnen kochen, diese ganze von völliger Abhängigkeit geprägte frühe Kinderzeit in ein Geschenk um. Und Geschenke, die man zuhauf bekommt, obwohl man nicht danach gefragt hat und obwohl man sich nicht wirklich dafür revanchieren kann, vermitteln Schuldgefühle. Und Schuldgefühle halten einen klein, machen aggressiv. Gibt es deshalb, so fragt Henrot, Misogynie?
Man mag bei diesem Gedankenspiel mitgehen oder nicht. Es ist aber zweifelsfrei aufregender, sich mit den menschlichen Abgründen zu befassen als mit den sie ausgrenzenden Idealen. Womit ich plötzlich wieder vor meinem Sohn stehe.
Als er mich da an diesem Morgen auf dem Weg zur Kita mit diesem zweckentfremdeten, irre liebevollen «Mama» ansprach, wurde ich gar nicht zur Ikone. Ich fühlte mich unwohl, weil er meine schlechten Angewohnheiten nicht im Blick hatte. Ich weiss, ich kann ihm die vielen, vielen Jahre, die es mich gekostet hat, den Menschen da draussen einigermassen auf die Schliche zu kommen, nicht ersparen. Aber ich würde gerne mein Bestes geben, ihm beizubringen, dass das schlechte Benehmen zu ihnen (und zu mir) gehört. Vielleicht kann ich ihn so vor der einen oder anderen Enttäuschung bewahren? Und ihm auch ein ehrliches Vorbild sein?
Der Ausstellungskatalog der erwähnten Ausstellung «The Great Mother – Women, Maternity, and the Power in Art and Visual Culture, 1900–2015» von Massimiliano Gioni im Palazzo Reale in Mailand ist nach wie vor verfügbar.