Die Rabenmutter
In diesen Zeiten Kinder bekommen? Und Kunst machen? Oder schadet das der Umwelt? In ihrer zweiten Kolumne widmet sich Camille Henrot ethischen Zwickmühlen unserer Zeit.
Von Camille Henrot (Kunst und Text), Antje Stahl (Redaktion), Theresa Hein (Übersetzung) und Rafael Heygster (Bilder), 24.04.2021
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In den vergangenen Wochen war ich damit beschäftigt, die Ausstellung «Mother Tongue» (Muttersprache) in der Kestner-Gesellschaft in Hannover aufzubauen. Es ist eines der ersten Male, dass ich Arbeiten aus einer Reihe von neuen Zeichnungen und Gemälden zum Thema Mutterschaft zeige, die die Titel «Wet Job», «System of Attachment» und «Soon» tragen. Die Kuratorin Julika Bosch und ich haben uns dazu entschieden, im Zentrum der Ausstellung die Skulptur «3, 2, 1» zu platzieren.
Ich habe sie vergangenes Jahr in der Kunstgiesserei St. Gallen anfertigen lassen, die mich dankenswerterweise im Sommer zu einer Künstlerresidenz einlud. Mauro, Iddu und ich waren gerade aus New York zurückgekommen, da mein Visum auslief und die Stadt wie so viele andere auch von der Pandemie in einen ziemlich harten Lockdown gezwungen wurde. Wir reisten nach Zürich, wo Mauro und seine Familie sich dann um Iddu kümmerten, während ich mit einer wundervollen Crew in St. Gallen arbeiten durfte.
Es versteht sich vielleicht von selbst, aber die Trennung vom Kind zieht für die sogenannte working mom ja konfliktreiche Gefühle nach sich – einerseits ist sie erleichtert, Zeit für ihre Arbeit zu finden, andererseits fühlt sie sich schuldig, sich nicht um ihr Kind zu kümmern. Beim Thema Mutterschaft kollidieren Verantwortungsgefühle für öffentliches und privates Leben, und dieser Konflikt kann nicht getrennt werden von der Angst, die ganze Welt zu verlieren – ganz besonders, wenn diese unterzugehen und zerstört zu werden droht. Ausgehend von den Berechnungen der Wissenschaftlerinnen Seth Wynes und Kimberly Nicholas, würde sich der globale CO2-Ausstoss ja tatsächlich nicht nur dann drastisch verringern, wenn wir auf Fleisch, Transatlantikflüge oder ein Auto verzichten würden, sondern auch, wenn wir weniger Kinder bekämen.
Der Artikel, der das mathematische Modell präsentiert, das eine Antwort auf die Frage der globalen Erderwärmung geben könnte (und den ich oben paraphrasiere), trägt den Titel: «Ist es okay, ein Kind zu bekommen?» Die Autorin Meehan Crist fordert darin sehr zu Recht, die individuelle Verantwortung für unseren ökologischen Fussabdruck an die Politik und die Wirtschaft zurückzuweisen. Sie führt zudem vor Augen, dass es mächtige wirtschaftliche Interessen sind, genauer die Ölindustrie, die sorgfältig das Narrativ aufbauten, dass «wir uns höchstpersönlich für die Klimakrise verantwortlich fühlen».
Offenbar gibt die Firma BP seit 2005 jedes Jahr 100 Millionen Dollar für eine Medienkampagne in den Vereinigten Staaten aus, um Online-Rechner und sogar Lerneinheiten für Kinder zu bewerben, mit denen wir unsere individuelle Energieverschwendung berechnen sollen (und nicht die ihre).
Hinzu kommt, dass BP als Sponsor in Museen auftritt. Meehan Crist selber sollte einen Vortrag in einem «BP Lecture Theatre» des British Museum halten, wie sie in ihrem Artikel schreibt. Während nun aber Künstlerinnen und Aktivistinnen solche dubiosen Sponsoren gezielt angreifen, fühlen wir uns alle nach wie vor extrem schuldig, wenn wir an unseren eigenen Beitrag zur Umweltverschmutzung denken – und die Kunstwelt fragt sich ebenfalls seit geraumer Zeit und mit ziemlicher Lautstärke: «Ist es okay, Kunst zu machen?»
Ich habe selbst noch keine befriedigenden Antworten auf diese Fragen gefunden und werde das vermutlich für eine ganze Weile nicht; auch deswegen habe ich versucht, diesen ungelösten Konflikt in der Skulptur «3, 2, 1» zum Ausdruck zu bringen. Bei jeder Kunstproduktion entsteht Abfall, ein Überschuss an Material, weil es ausgeschnitten oder weggeworfen wird. In St. Gallen habe ich es gesammelt und für die Ausstellung in Hannover wie die Vögel zu einem Nest verarbeitet, in dem die Skulptur nun sitzt.
Erst vor kurzem, als wir nach Berlin gezogen sind, habe ich erfahren, dass es im deutschen Sprachraum den Begriff der «Rabenmutter» gibt: Er setzt die Mutter in ein schlechtes Licht, weil sie ihre Brut wie die Raben angeblich viel zu früh verstösst und vernachlässigt. Überraschend war für mich dabei, dass die Rabenmutter nicht mit all den Vorzügen assoziiert wird, die das Tier in der Mythologie seit eh und je aufweist: Der Rabe ist extrem schlau, war der Bote von Götter und Heiligen und diente ihnen in Krisenzeiten als Botschafter und Weissager.
Meine Mutter war auch Künstlerin und arbeitete als Vogelpräparatorin für das Naturkundemuseum und seine Schaukästen. Sie konnte all ihre Stimmen imitieren, präparierte ihre leblosen Körper für ein ewiges Leben nach dem Tod. In unserer Wohnung in Paris gab es ein Zimmer voller ausgestopfter Tierkadaver, überall waren Metalldrähte, Federn und getrocknete Pflanzen verteilt. Eine Schublade war bis oben hin gefüllt mit bunten Glasaugen. Spielen durfte ich dort nicht. Als ich es dann doch einmal tat, fielen die Augen heraus und rollten durch den gesamten Raum.
Das Werk der französischen Künstlerin Camille Henrot wurde unter anderem mit dem Silbernen Löwen auf der 55. Biennale Venedig ausgezeichnet. Die Geburt ihres Sohnes und die Konfrontation mit der neuen, sogenannten Mutterrolle lösten widersprüchliche Gefühle in ihr aus, mit denen sie sich intellektuell und künstlerisch auseinandersetzt. Zurzeit lebt Henrot mit ihrem Lebenspartner, dem Schweizer Komponisten Mauro Hertig, und ihrem Sohn Iddu in Berlin.