Über die Schöpfungskraft und die Mythen
Wenn es zum Thema Geburt kommt, kennt die Kunstgeschichte weder Fehl- noch Totgeburten und auch keine Körperflüssigkeiten. In der ersten Kolumne hinterfragt Camille Henrot die Schöpfungsmythen von Kunst und Leben.
Von Camille Henrot (Idee und Kunst), Antje Stahl (Text) und Theresa Hein (Übersetzung), 17.04.2021
Deutsch English
Tod und Geburt scheinen ebenso banal, unausweichlich – und doch bestimmend für die menschliche Existenz zu sein. Während der Tod allerdings immer und immer wieder zur Inspirationsquelle für Literatur und Philosophie, Film und bildende Künste wurde, sind die Darstellungen von Geburten doch recht beschränkt auf die Geburten von Gottheiten und mythischen Figuren.
Da ist zum Beispiel Venus, die nackt und schön auf einer Muschel an der Meeresoberfläche auftaucht; Athene, die dem Kopf(schmerz) des Zeus entspringt; Eva, geformt aus der Rippe Adams – und natürlich die Jungfrau Maria mit dem Gotteskind. Nur verdanken sie alle ihr Leben irgendwie keiner weiblichen, sondern einer männlichen beziehungsweise göttlichen Fruchtbarkeit. Sexualität und Leiden werden ausgeblendet. Es gibt weder Fehl- noch Totgeburten und auch keine Frauen, die bei der Geburt sterben: Alles ist wasserdicht und frei von Körperflüssigkeiten. Die weiblichen Erfahrungen von Fortpflanzung und Geburt waren einer eingehenden künstlerischen Betrachtung ganz offensichtlich nicht wert.
Ein paar Monate nachdem ich selbst ein Kind zur Welt gebracht hatte, entschloss ich mich, an einer Serie von Bildern zu arbeiten, die ich diesem grundlegenden Kapitel unser aller Leben widmen wollte. Dafür habe ich eine App benutzt, die den Namen Procreate trägt. Sie wurde, wie es auf der Apple-Website heisst, für «professionelle Kreative und angehende Künstlerinnen» entwickelt und bietet eine Vielfalt an digitalen Pinseln. Diese kommen in meinen Gemälden zum Einsatz, helfen mir beispielsweise, unterschiedliche Ebenen zu entwerfen und auszuschneiden – mit der App lassen sich quasi per Hand Pinselstriche setzen (die analogen nachgebaut sind). Während ich mich also mithilfe dieser App dem Thema Mutterschaft widmete, fiel mir auf, dass ihr Name Procreate eine recht amüsante Analogie zwischen der Produktion von Kunst und der Produktion von Kindern herstellt. Procreation ist auf Englisch ja gleichbedeutend mit dem Begriff Fortpflanzung oder Zeugung.
Sowohl die künstlerische als auch die menschliche Schöpfungskraft werden bis heute gerne als quasi mythische Phänomene betrachtet, die sich in der geheimen Sphäre von Ateliers, Schlafzimmern und Krankenhäusern ereignen. In der westlichen Kultur bleiben der künstlerische Genius und die Jungfrau Maria zwei einsame Figurationen. Es sind Archetypen, die allerdings immer noch stark beeinflussen, wie wir künstlerisches, sexuelles und häusliches Leben wahrnehmen. Früher war Schöpfung ein gottgegebenes Geschenk, denen vorbehalten, die zu den wenigen Auserwählten der Kirche, der Burgherren und der Eliten gehörten. Nur das männliche Genie war fähig, Meisterwerke wie die berühmten Venus- und Mariendarstellungen zum Leben zu erwecken – das machte die Kunstgeschichte blind für die Erfahrungen von Frauen. Im Rahmen dieser Kunsttradition und ganz allgemein in unserer paternalistischen Gesellschaft wurde Zeugung für Frauen deshalb stets mit Selbstaufgabe verknüpft – entweder sie opfern ihr Leben einem Kind oder, wenn es ihnen überhaupt erlaubt war, ihrer künstlerischen Berufung.
Interessant ist, dass diese ganze Moral und der Schöpfungsmythos, welche die Kirche bis heute predigt, Risse bekommen, sobald die Technologie auf den Plan tritt: künstliche Befruchtung, das Einfrieren von Eizellen, Samen- und Eizellenbanken, vielleicht sogar bald Uterusmaschinen. Das alles entmystifiziert die Schöpfungsgeschichte, in etwa so, wie digitales Handwerkszeug, das von Künstlern auf der ganzen Welt genutzt wird, die Produktion von Kunst entzaubert.
Bei Apple hat daran wahrscheinlich niemand gedacht, als die App auf den Namen Procreate getauft wurde. Der Titel ist ein Akronym aus den Worten professional und create und verfolgt eindeutig das Ziel, die Kunst von Amateuren herunterzuspielen; gleichzeitig wird in der Werbung behauptet, wir könnten gänzlich auf jedes professionelle Setting verzichten und fortan «auf der Couch, im Zug, am Strand» oder während wir «in der Schlange stehen und auf unseren Kaffee warten» arbeiten. Procreation sei ein «Atelier zum Mitnehmen».
Diese unbeschwerte Seite muss für die Produktion von Kindern nun leider erst noch erfunden werden: Während Sex «auf der Couch» vermutlich so oft praktiziert wurde, wie es Sterne über uns am Himmel und im Universum gibt, muss die Vorstellung, sich besamen zu lassen, wenn wir «in der Schlange stehen und auf unseren Kaffee warten», Science-Fiction bleiben. Sexualität stellte in der Vergangenheit für Männer einen eher beiläufigen Akt dar – was also, wenn künstliche Befruchtung so einfach zu haben wäre wie eine Zeichnung mit einem Apple-Pinsel am Strand?
Das Werk der französischen Künstlerin Camille Henrot wurde unter anderem mit dem Silbernen Löwen auf der 55. Biennale Venedig ausgezeichnet. Die Geburt ihres Sohnes und die Konfrontation mit der neuen sogenannten Mutterrolle lösten widersprüchliche Gefühle in ihr aus, mit denen sie sich intellektuell und künstlerisch auseinandersetzt. Zurzeit lebt Henrot mit ihrem Lebenspartner, dem Schweizer Komponisten Mauro Hertig, und ihrem Sohn Iddu in Berlin.