Die Mutter der Tränen
Abtreibungen, Fehlgeburten oder suizidale Gedanken im Wochenbett sind keine Ausnahmeerscheinungen – sie sind häufig, und sie werden oft totgeschwiegen.
Von Camille Henrot (Text und Bild), Antje Stahl (Redaktion) und Theresa Hein (Übersetzung), 30.10.2021
Aber die Schwangerschaft ist vor allem ein Drama (…). Sie [die Mutter] empfindet ihren Zustand als Bereicherung und Verstümmelung zugleich. Der Fötus ist ein Teil ihres Körpers, und er ist ein Parasit, der von ihr zehrt. Sie besitzt ihn, und sie wird von ihm besessen. Er verkörpert die ganze Zukunft, und sie fühlt sich, indem sie ihn in sich trägt, wie die grosse weite Welt. Aber dieser Reichtum selbst löscht sie aus, sie hat den Eindruck, nichts mehr zu sein.
Der zweite Vorname meiner Schwester ist Alice. Als Kind erinnerte mich der Name an die surrealen Abenteuer, die Lewis Carroll seine Heldin im Wunderland erleben liess. Aber später erfuhr ich, dass Alice auch der Name einer meiner Verwandten war, die sich das Leben genommen hat, nicht lange nachdem sie ein Kind geboren hatte. Als ich selbst Mutter wurde, erkannte ich, welch enge Verbindung zwischen den zwei Alices – zwischen Carrolls und der aus meiner Familie – besteht: Die junge fiktive Alice wurde vom Kaninchenloch der Mutterschaft verschluckt. Und die Verzweiflung meiner Ahnin Alice erschien in einem neuen Licht.
In einem der ersten Kapitel ihrer Reise ins Wunderland, «Der Tränenpfuhl», wächst Alice zur Riesin heran und stösst sich ihren Kopf an der Decke an. Sie weint, und ihre Tränen überfluten das Zimmer. Kurz darauf schrumpft sie und muss durch die von ihr selbst geschaffene Sintflut schwimmen. Und es ist dieses Ziehen und Zerren an Masseinheiten, das jede Mutter erlebt: Du befindest dich in einem Stadium des physischen und psychischen Wachstums, musst irgendwie versuchen, mit den unmöglichen Idealvorstellungen des Mutterseins zurechtzukommen; und zugleich schaust du zurück auf deine eigene Kindheit, siehst die Ängste und bedrückenden Erfahrungen aus dieser Zeit mit anderen Augen.
Wenn du schwanger bist, konzentriert sich deine ganze gedankliche Kraft auf das Kind in deinem Bauch und die Erwartungen an dich als Mutter. Dabei wird die Tür für unterdrückte Traumata geöffnet und bleibt sperrangelweit offen und unbewacht stehen. Vergangene Erfahrungen von sexuellem Missbrauch, Inzest, Vernachlässigung und Versäumnis können mit voller Wucht zurückkommen. «Während der Schwangerschaft ist die Psyche der Frau durchlässig», schreibt die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Monique Bydlowski. «Vorbewusste und unbewusste Fantasien und Erinnerungen aus der Vergangenheit treten wieder an die Oberfläche. Die schwangere Frau verspürt deshalb eine besondere Nähe zu dem Baby, das sie selbst einmal war.»
Dieser direkte Zugang zu Erinnerungen, die zuvor unterdrückt oder verborgen blieben, eröffnet der Mutter die Möglichkeit, sich mit psychischen Verstrickungen, die ihre mentale Gesundheit und die Bindung zu ihrem Kind beeinträchtigen können, anzufreunden und sie zu lösen. Natürlich kann diese Erfahrung des Nebeneinanders zwischen zu gross (Kind als Mutter) und zu klein (Mutter als Kind) ohne angemessene Unterstützung, etwa durch eine Psychiaterin, zu neuen Krisen führen: zu Depression und sogar zu Suizid.
Einer der banalsten Gründe für Depressionen liegt in der Diskrepanz zwischen der Verherrlichung von Mutterschaft als einer glänzenden zuckerwattierten Zeit allseits einvernehmlicher ekstatischer Familien-Symbiose. Und der tatsächlichen Erfahrung, als Eltern ununterbrochen ungeteilte Aufmerksamkeit aufzubringen und vor unzählige Aufgaben gestellt zu sein. Die kulturell auferlegte und ganz praktische Last des Mutterdaseins besteht darin, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen unermesslicher Entsagung und Ausdauer. Es fühlt sich an, als würde in einem fort die Energie aus einem herausfliessen. Im Fall von postpartaler Depression kann es sein, dass man sich wünscht, den Abfluss runtergespült zu werden – alles von sich zu stossen und einfach zu verschwinden.
Der überpositive Turteltauben-Diskurs über Mutterschaft, den Werbungen so verkaufen und der ein grosses Echo in sozialen Netzwerken hervorruft, verbirgt das wahre Spektrum an Erfahrungen. Sie lassen Suizid zu einer der häufigsten Todesursachen bei Frauen im ersten Jahr nach der Entbindung werden, und zur häufigsten Todesursache in den ersten drei Jahren danach.
Der Tod lauert überall dort, wo Leben ist, vor allem in seinen Anfängen. Zwar ist der Tod allein schon ein grosses Tabu in unserer Gesellschaft, aber er ist es erst recht, wenn er in Verbindung mit Mutterschaft und Kindheit auftritt. Meine Hebamme erzählte mir einmal, welcher Spitaltrakt sich am meisten mit dem Tod beschäftigt: «Es sind die Geburtskliniken, aber sie sind die einzigen Abteilungen ohne psychiatrisches Personal für die Seelsorge.»
Kurz darauf erfuhr ich von einem Psychoanalytiker: Er schätzt, dass eine Frau im Durchschnitt vier Schwangerschaften erlebt und zwei Kinder bekommt: eine Abtreibung, eine Fehlgeburt und zwei lebend geborene Kinder. Für mich sind diese geschätzten Zahlen sehr aufschlussreich. Sie bestärken, wie wichtig es ist, Denkerinnen und Künstler zu haben, die helfen können, mit dem Tod als Teil des Lebens umzugehen und ihn zu akzeptieren. Die helfen können, Räume dafür zu schaffen, Verlust in der Mutterschaft besser zu begleiten.
All dies hatte ich bei der Arbeit an der Skulptur «Iron Deficiency» im Hinterkopf. Sie besteht aus einem Bügeleisen und einem Körper, der unter einem Laken versteckt ist. Wie ein Geist mit spitzen, leeren Brüsten, ein Leichnam, eine Leiche im Keller. Für mich verkörpert diese Figur, die unter einem üppigen Leichentuch verschwindet, mit den Falten des Todes, die ordentlich weggebügelt und geglättet wurden, Mutterschaft: die Androhung des Todes unter dem Deckmantel einer banalen häuslichen Aufgabe.
Das «Eisen» im Titel bezieht sich auf das archetypische Werkzeug der Hausarbeit: das Bügeleisen, das auch zur Skulptur gehört. Ich assoziiere es aber auch mit der kapitalistischen Eisen- und Stahlindustrie, dem «eisernen Willen», der Stärke und Durchhaltevermögen attestiert. Und mit dem mit aller Wahrscheinlichkeit auftretenden Eisenmangel im Körper nach der Geburt. Alice Neels Gemälde «Degenerate Madonna» war mir ein grosses Vorbild, ganz zu schweigen von der Müdigkeit, Schwäche, dem Zerfall und der Erschöpfung, die eine Geburt und die Pflege eines Kindes mit sich bringen. Der Dampf, der aus dem Bügeleisen kommt, erinnert an die schwindende Kraft der Mutter, während der Zeigefinger mit den Vorschriften droht, mit denen sich alle Mütter herumschlagen müssen: Du musst verzichten, du musst durchhalten, du musst weitermachen.
Die heutige Gesellschaft scheint nicht nur von Müttern, sondern von uns allen mechanische Effizienz zu verlangen. Dass dieses Regime jedoch so vehement jede Form von Zwischentönen und Zerbrechlichkeit ablehnt und sich weigert, den Tod im Leben zuzulassen, ist ganz besonders für Mütter frustrierend. Jede einzelne Person, die über die Strasse läuft, hat eine Schwangerschaft, eine Geburt und eine Kindheit überlebt. Wir gewöhnen uns daran, aber jeder Tag, an dem wir unser eigenes Leben erhalten und für das Leben der anderen um uns herum sorgen, ist ein Sieg, der gefeiert werden muss. Oft frage ich mich, ob wir jemals ein öffentliches Denkmal für Mütter sehen werden, die bei der Geburt gestorben sind, für Hospiz-Mitarbeiterinnen oder andere, die sich am Ende unserer Tage um uns kümmern.
Ich denke eher nicht, jedenfalls nicht, solange wir nicht aufhören, die dunklen Seiten des Lebens und der Mutterschaft zu verstecken. Die intensive Erfahrung einer Wochenbettdepression gehört zur Mutterschaft, schwere Fälle dürfen nicht als unglückliches Einzelschicksal isoliert werden. Und suizidale Gedanken sind auch keine irrationale Ausnahmeerscheinung. Sie entwickeln sich oft aus dem verständlichen Bedürfnis heraus, die Last der Verantwortung für das zerbrechliche Leben eines anderen abzugeben – ein Leben, für das man eine grössere Sorge tragen muss als für das eigene. Die gängige Aufforderung, doch «für die anderen zu überleben», verschärft das Problem in diesen Fällen eigentlich nur.
Wir sollten uns daher endlich erlauben, zu weinen und einen Weg zu finden, der durch die Sehnsucht nach dem Tod führt – lernen, durch unsere Tränen zu schwimmen, den Tod zu zähmen und vielleicht sogar zu pflegen wie eine wilde Strassenkatze, die sich auf unserem Schoss von uns streicheln lässt. Wir sollten den Schmerz und die Angst hegen, versuchen, ihre Lieder zu hören. Es sind Lieder, die Autorinnen wie Toni Morrison, Marguerite Duras, Adrienne Rich, Annie Ernaux, Doris Lessing, Leïla Slimani, Rachel Cusk, Elena Ferrante und Hélène Cixous in der Literatur verfasst und gesungen haben. In der bildenden Kunst beginnen wir das, wovon diese Lieder handeln, gerade erst zu feiern und formen.
Das Werk der französischen Künstlerin Camille Henrot wurde unter anderem mit dem Silbernen Löwen auf der 55. Biennale von Venedig ausgezeichnet. Die Geburt ihres Sohnes und die Konfrontation mit der neuen, sogenannten Mutterrolle lösten widersprüchliche Gefühle in ihr aus, mit denen sie sich intellektuell und künstlerisch auseinandersetzt. Zurzeit lebt Henrot mit ihrem Lebenspartner, dem Schweizer Komponisten Mauro Hertig, und ihrem Sohn Iddu in Berlin.