Eine Körperflüssigkeit, die sich schwer einfangen lässt: «A Free Quote» (Detail), 2021. Bronze, Plastik und Polyurethan. Annik Wetter/Courtesy of the artist/Kamel Mennour/König Galerie/Metro Pictures/Commissioned by the Liverpool Biennial

Milkyways

Milch und Schuld

Muttermilch vereint das Heilige und den Ekel, ist Nahrung und Mythos – und nicht zuletzt auch flüssiges Kapital.

Von Camille Henrot (Text und Bild), Antje Stahl (Redaktion) und Theresa Hein (Übersetzung), 23.10.2021

Teilen6 Beiträge6

Ich habe eine Weile gebraucht, um meine vielen Notizen für diese neue Folge meiner Kolumne «Milkyways» zu ordnen – und endlich über milk zu schreiben. Es gibt etwas an dieser Körper­flüssigkeit, das sich unglaublich schwer einfangen lässt, das sogar in alle möglichen Richtungen spritzt. Das Schreiben über Milch fühlt sich so an, als würde ich mit weisser Tinte arbeiten: Sobald ein Gedanke skizziert ist, droht er schon wieder zu verschwinden. Man kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, wo die Milch überhaupt beginnt oder endet. Vielleicht muss ich auch etwas von ihr abtrennen – abschöpfen sozusagen –, um nicht die Orientierung zu verlieren: die Brust? Die Mutter? Das Kind?

Sowohl im deutschen als auch im US-amerikanischen Sprach­raum taucht im Zusammen­hang mit Mutter­milch gerne das Wort «ausdrücken» beziehungs­weise express auf: expressing milk. Gemeint ist damit so etwas wie «die Brust melken», um sie vom Milch­druck zu befreien oder ihre Milch­produktion anzukurbeln. Als ich, eine französische Mutter­sprachlerin, das erste Mal davon hörte, hatte ich gerade ein Kind in New York geboren und glaubte einem jener Euphemismen begegnet zu sein, die ich so gerne entschlüssle oder wortwörtlich nehme: Ich fragte mich, ob die Milch vielleicht tatsächlich imstande war, sich auszudrücken, das heisst: zu sprechen. Und was sie dann wohl zu sagen hätte?

«Splendid Isolation», 2015. Aus der Serie «Interphones», 2015–2017. Courtesy of the artist/kamel mennour/König Galerie/Metro Pictures
«Splendid Isolation» (Detail), 2015. Aus der Serie «Interphones», 2015–2017. Courtesy of the artist/kamel mennour/König Galerie/Metro Pictures

Alle Körperflüssigkeiten – Samen, Blut, Schweiss, Urin – tragen viele hart umkämpfte Bedeutungs­ebenen mit sich. Aber keine von ihnen ist in den Köpfen der Leute so mit der Vorstellung von Unschuld und Reinheit verbunden wie die Mutter­milch. Der Bund zwischen Mutter und Neugeborenem befördert dies sicherlich, und erst recht die Farbe der Milch. Aber so weiss Milch auch sein mag – weiss wie Papier, weiss wie eine Leinwand –, sie hinterlässt Flecken. Und eignet sich auch nicht zur Grundierung als weisser Grundton, auf dem man dann freien Herzens malen könnte. Dafür wurde sie viel zu sehr beschmutzt.

Zu einer Zeit, als Stillen noch als eine Arbeit verstanden wurde, die von so gut wie jeder Frau ausgeführt werden konnte, wurde Mutter­milch zum Kampf­platz für die ungeheuerlichsten Formen von Rassismus und Diskriminierung. Über Jahrhunderte hinweg waren versklavte schwarze Mütter gezwungen, weisse Kinder zu stillen und damit die Gesundheit ihrer eigenen zu gefährden. Im 19. Jahr­hundert wurde eine grosse Anzahl von Neugeborenen in die Obhut von prekären sogenannten «Söldner»-Hebammen gegeben, weil viele Familien so arm waren, dass sie es sich nicht leisten konnten, auf den Lohn der leiblichen Mütter zu verzichten.

Anlässlich der Buch­präsentation von «Ein Apartment auf dem Uranus» erzählte der Philosoph und Autor Paul B. Preciado von einem Pamphlet aus dem Jahr 1752. In diesem drängt der Wissenschaftler Carl von Linné Frauen dazu, ihre eigenen Kinder zu stillen, um «contamination of races and classes» zu verhindern. Es wurde der Begriff vom «weissen Blut» geprägt, um die Milch einer «sexuell aktiven Frau» zu beschreiben und sie für den etwaigen Kindstod verantwortlich zu machen. Und eine Studie, welche die Historikerin Agnès Fine in den Pyrenäen durchführte, meinte zu beweisen, dass über die Mutter­milch starke Emotionen ausgetauscht würden. Ein Glaube, der sich bis weit in die 1980er-Jahre hielt und sich in der Bezeichnung lait trouble manifestiert.

Heute tauchen solche Mythen in der Regel nicht mehr in offiziellen Ratgebern zum Stillen auf. Allerdings gibt es nach wie vor Organisationen, die Mutter­milch zum Heiligen Gral der Baby­nahrung erklären. Ich denke hier an Organisationen wie La Leche Liga und die Gebote, die sie so aufstellen: «Ich bin die Milch deiner Brüste. Du sollst keine andere Art der Baby­nahrung neben mir zu Hause haben.»

Muttermilch schützt Kinder so wie Impfungen vor Krankheiten, das versichert nicht zuletzt die Welt­gesundheits­organisation WHO. Aber stellen Sie sich den Druck und die Angst vor, denen all jene Eltern ausgesetzt sind, die in diesen pandemischen Zeiten ihr Baby nicht stillen können oder wollen.

«Bodies Leaks – Au feu!», 2021. Acryl und Wasser­farbe auf Leinwand. Courtesy of the artist/König Galerie

Auf einer Website, die als Markt­platz für Frauen dient, die Mutter­milch kaufen, verkaufen oder spenden wollen, wird gefragt: «Haben Sie zu viel Milch und wollen Ihr flüssiges Gold verkaufen?» Und: «Wollen Sie sich etwas Geld dazu­verdienen und dabei auch noch Ihren Kühl­schrank aufräumen?» Solche Sprach­bilder sind einigermassen originell, die dahinter­liegenden Werte eher nicht: dass Mutter­milch, metaphorisch gesprochen, so viel wiegt wie Gold und dass Frauen am Grad der Sauberkeit ihrer Küche gemessen werden.

Stillen ist und bleibt Teil eines nie enden wollenden Kreislaufs aus Produktivität und Performance, der die dramatischen Auswirkungen ausblendet, die er auf Leib und Seele hat. Nie werde ich die Überdosis an Scham vergessen, der ich in den USA ausgesetzt war, als ich nicht genügend Milch produzieren konnte, ganz zu schweigen von den Brust- und Brust­warzen-Entzündungen, mit denen ich mich herum­schlagen musste. Quantität und Über­produktion werden per se Werte zugesprochen auf Kosten der Gesundheit der Frau.

Stillen hat meine Wahrnehmung von Milch verändert. Wenn sie überall hinkleckert, bleiben auf der Kleidung Flecken, die man nur schwer wieder rausbekommt. Milch ist klebrig. Und einmal vergass ich, einen oder zwei Milli­liter auf dem Tisch in meinem Studio – nach ein paar Tagen war der Gestank so unerträglich, dass ich mich fast übergeben hätte. Manche Menschen empfinden die Haut von Milch als den widerlichsten Bestand­teil eines Nahrungs­mittels überhaupt. All das zeigt doch, wie nah das Heilige und der Ekel wirklich beieinander­liegen.

«Und doch ist der Körper in extremis – der Körper, der sich selbst akut als Körper erlebt – eine menschliche Realität, von der Mütter gar nicht anders können, als sie zu betreten, obwohl sie wieder einmal dazu gezwungen werden, einen Deckel darauf­zusetzen, alles süss und nett aussehen zu lassen», schreibt Jacqueline Rose in «Mothers: An Essay on Love and Cruelty». «Sie können, sie müssen lieben, festhalten, mit ihren Babys kuscheln, aber unter der Bedingung, dass sie nichts – kein Blut, keine Innereien, kein Elend und keine Lust – verschütten. Ihre Aufgabe ist es, so etwas Intensivem Einhalt zu gebieten, den Abfluss zu reinigen, im Dienste aller.»

Senga Nengudi: «Rubber Maid», 2011. Nylon, Gummi und Sand. Senga Nengudi/Collection of Amy Gold and Brett Gorvy/Courtesy Lévy Gorvy, New York, London, Paris, Hong Kong/Thomas Erben Gallery, New York
Loie Hollowell: «Engorgement», 2021. Pastellfarben und Graphit auf Papier. Loie Hollowell/Courtesy Pace Gallery

Die Frage ist: Müssen wir, um Frauen für das Stillen zu entschädigen, in die imperialistische Logik des Kapitalismus eintreten, in der alles seinen Preis hat? Ist Milch flüssiges Kapital?

Das protestantische Kapitalismus­modell ist viel mehr darauf ausgelegt, Ressourcen zu verbrauchen, um Gewinn und Profit zu erzielen, als auf Ausgleich. Das System kalkuliert nicht ein, was es Frauen schuldet, was es der «natürlichen» Welt schuldet. Manchmal frage ich mich, ob Misogynie vielleicht erfunden wurde, damit sich die Gesellschaft nicht mit der stetig wachsenden Schuld gegenüber jeder einzelnen Frau beschäftigen muss, ob sie vielleicht erfunden wurde, um das zu entwerten, was geschenkt wird. Wer erträgt denn die Vorstellung, unendlich viele Geschenke zu bekommen und sich nicht dafür revanchieren zu dürfen geschweige denn zu bezahlen? Mütter werden nicht nur nicht fürs Stillen bezahlt, sie büssen auch noch ihr Einkommen während dieser Zeit ein. Vielleicht wird uns dieses goldene Preis­schild, das am Stillen und an der Mutter­milch hängt, aufrütteln und dazu bringen, darüber nachzudenken, warum Care-Arbeit nicht angemessen wertgeschätzt wird? So langsam komme ich aus der Schreibpuste …

«Learning to Lose», 2019. Bronze. Courtesy of the artist/Kamel Mennour/König Galerie/Metro Pictures

«Learning to Lose», aus der Serie «Systems of Attachment», besteht aus zwei hängenden Brüsten. Die eine ist angeschwollen durch einen Milchstau (der auftritt, wenn die Milch­kanäle in der Brust­warze blockiert sind), die andere leer gesaugt und schlaff. Die Brüste fallen nach unten wie Senkblei an einer Schnur, ein altes Werkzeug, mit dem man die Senk­rechte in einem Raum bestimmte. Man könnte auch an eine Waage denken, ein allegorisches Symbol aus der römischen Mythologie für Gerechtigkeit, das die Göttin Justitia bei sich trägt. Die eine Brust erfüllt die Nachfrage, während die andere auszugleichen versucht und sich dabei zugrunde richtet. Durch Angebot und Nachfrage wird kaum ein Gleich­gewicht hergestellt – die Ressourcen werden, kaum sind sie erschöpft, wieder aufgefüllt, eine Masse wiegt ungleich schwerer als die andere. Schliesslich bleibt beiden ihr wahrer Wert versagt.

Zur Künstlerin

Tereza Mundilová

Das Werk der französischen Künstlerin Camille Henrot wurde unter anderem mit dem Silbernen Löwen auf der 55. Biennale von Venedig ausgezeichnet. Die Geburt ihres Sohnes und die Konfrontation mit der neuen, sogenannten Mutter­rolle lösten wider­sprüchliche Gefühle in ihr aus, mit denen sie sich intellektuell und künstlerisch auseinander­setzt. Zurzeit lebt Henrot mit ihrem Lebens­partner, dem Schweizer Komponisten Mauro Hertig, und ihrem Sohn Iddu in Berlin.