Frauenstimmen – Folge 3

Wir sind viele! Mehr als eine halbe Million Frauen nahmen schweizweit am Frauenstreik vom 14. Juni 2019 teil. Caroline Minjolle/Lunax

Die grösste Minderheit der Welt

Was heutige Emanzipations­bewegungen vom Kampf um das Schweizer Frauen­stimmrecht lernen können: Fünf Thesen – und ein Vorschlag zum Reizwort «Identitäts­politik». Serie «Frauen­stimmen», Folge 3.

Von Daniel Graf, 13.02.2021

Marie Goegg-Pouchoulin, die erste Schweizer Frauen­rechtlerin, hätte 145 Jahre alt werden müssen.

Als die Schweizer Männer am 7. Februar 1971 dem allgemeinen Stimm- und Wahlrecht für Frauen zustimmten, waren gut 102 Jahre vergangen, seit Goegg-Pouchoulin, Gründerin der «Association internationale des femmes» in Genf, dieses Recht erstmals öffentlich für die Schweiz gefordert hatte. Und 180 Jahre, seit Olympe de Gouges in Frank­reich die «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin» verfasste, weil die Revolutionäre von 1789 in ihrer Erklärung der Bürger­rechte mal eben die Hälfte der Bevölkerung vergessen hatten.

Die jüngere Historie ist besser bekannt: Noch 1959 scheiterte die Einführung des Frauen­wahlrechts überdeutlich am Volks- und am Stände­mehr; lediglich in den West­schweizer Kantonen Neuen­burg, Waadt und Genf gab es eine Mehrheit. Und als Iris von Roten ein Jahr zuvor ihr heute legendäres Buch «Frauen im Lauf­gitter. Offene Worte zur Stellung der Frau» veröffentlichte, war das Anlass für einen Skandal. «Setzer weigerten sich, das Buch zu drucken», schreibt Anne-Sophie Keller in dem Sammel­band «50 Jahre Frauenstimmrecht»: «Frauen­verbände distanzierten sich von der Autorin, Fremde schmierten das Wort ‹Hure› an ihre Hauswand, die Presse demütigte sie.»

Zur Serie «Frauenstimmen»

Seit gerade mal 50 Jahren haben Schweizerinnen politisches Mitsprache­recht. Kein Anlass zum Feiern, sondern für Fragen: Was kann uns der Blick zurück für heute lehren? Wie ist die Lage für die Frauen heute? Zum Auftakt der Serie.

Wenn nun also in neuen Büchern, Dokus und etlichen Artikeln zu 50 Jahren Schweizer Frauen­stimmrecht Bilanz gezogen wird, handeln die geschichts­bewussten Erzählungen immer von beidem: den Pionierinnen eines jahrzehnte-, jahrhunderte­langen Kampfs um politische Gleichheit. Aber auch vom massiven Wider­stand dagegen (der über­wiegend, aber nicht allein von Männern kam). Nur beide Perspektiven zusammen zeigen, dass politische Rechte nicht einfach gegeben sind, sondern mühsam erkämpft und dann verteidigt werden müssen.

Diese Erfahrung teilt die Frauen­bewegung mit anderen emanzipatorischen Kämpfen, etwa der amerikanischen Bürgerrechts­bewegung oder der Lesben- und Schwulen­bewegung: All jene, denen gleiche Rechte verwehrt werden, bekommen sie offenbar erst, wenn sie mit langem Atem dafür einstehen, sich solidarisch zusammentun – und über die eigene Gruppe hinaus Verbündete finden.

Diese Einsicht verbindet auch heute feministische Strömungen mit Emanzipations­bewegungen, wie sie in den letzten Jahren oft unter dem Schlagwort «linke Identitäts­politik» summiert werden: ein debatten­umtoster Sammel­begriff für Bestrebungen vom Anti­rassismus bis zur Gender­gerechtigkeit. Und ein Begriff, hinter dem in erster Linie die Idee steht, die Rechte und Anliegen von gesell­schaftlichen Minderheiten zu stärken.

Nur: Frauen sind eben keine Minderheit. Und genau das zeigt an, dass es bei all dem nicht in erster Linie um Statistik geht – sondern um Macht­verteilung und Repräsentation. In dieser Hinsicht sind Frauen nach wie vor die grösste Minderheit der Welt.

Was also folgt aus dieser strukturellen Ähnlichkeit der emanzipatorischen Kämpfe? Welche Lehren lassen sich aus einer Bilanz zu 50 Jahren Frauen­stimmrecht ziehen, für den Feminismus und darüber hinaus?

Fünf mögliche Schluss­folgerungen – ohne Anspruch auf Voll­ständigkeit. Im Gegenteil: Wenn wir es ernst meinen mit dem Lernen aus der Geschichte, fangen die Fragen erst an.

1. Es geht nicht nur um politische Rechte

Eines der Bücher, die aus Anlass von 50 Jahren Frauenstimmrecht erschienen sind, trägt eine zentrale Pointe schon im Unter­titel: «50 Jahre Schweizer Frauen­geschichte 1971–2021». Deutlicher lässt sich kaum signalisieren, dass der Kampf um Gleich­behandlung nicht mit dem Erlangen gleicher Bürger­rechte endet. Das Buch im Ganzen ist eine Bestands­aufnahme all dessen, wofür in den vergangenen Jahr­zehnten weiter gekämpft werden musste – und was noch heute im Argen liegt: von Gender-Pay-Gap und Unter­repräsentation bis zu Fragen sexualisierter Gewalt und der unbezahlten Care-Arbeit, die noch immer zum weitaus grössten Teil von Frauen übernommen wird.

Oder wie Fatima Moumouni in einem weiteren Sammelband schreibt: «Was hat die Generation vor mir erreicht mit dem Frauen­stimmrecht? Viel. Was gibt es noch zu tun? Viel.»

Auch hier gibt es Parallelen zur linken Identitäts­politik, der manchmal vorgeworfen wird, sie sei in Wahrheit gar nicht politisch, weil sie sich nicht um das Erstreiten von Rechten, sondern «bloss» um Alltags­phänomene und zwischen­menschliche Befindlichkeiten kümmere. Tatsächlich ist politische Gleichheit die Grund­lage von allem. Aber der Kampf gegen Diskriminierung geht weit über formal­rechtliche Gleich­stellung hinaus. Dass «doch längst alle gleich­berechtigt» seien, ist deshalb in all diesen Fällen ein Trug­schluss, der durch hartnäckige Wieder­holung nicht plausibler wird.

2. Erfolge können inspirieren

Wie jede Errungenschaft ist auch der Durch­bruch beim Frauen­stimmrecht ein Erfolg, der über sich selbst hinaus­weist. Dass die Wider­stände, so gross und anhaltend sie waren, überwunden werden konnten, kann auch Inspiration für andere Gruppen in ihren emanzipatorischen Anliegen sein. Deshalb ist es so wichtig, die Geschichten derer wieder zu erzählen, die ihn ermöglicht haben.

Wenn zum Jahrestag nicht allein zu Erbauungs­zwecken «starke Frauen» porträtiert, sondern Geschichten von politischen Errungenschaften erzählt werden, geht davon eine so simple wie unverzicht­bare Botschaft aus: Veränderung ist möglich – aber sie kommt nicht von alleine.

3. Solidarisches Denken drängt sich auf

So wie die Errungen­schaften der Frauen­bewegung Inspiration für andere Emanzipations­bestrebungen sein können, gibt es auch den umgekehrten Weg: Solidarität mit anderen Gleichstellungs­bewegungen. Dafür ist kein komplizierter Gedanken­gang nötig. Es ist vielmehr ausgesprochen nahe­liegend, beim Jubel über die Gleichstellungs­erfolge auf dem einen Gebiet auch zu fragen, wie es um andere Felder bestellt ist. Zumal sich die Hindernisse ähneln.

Das Frauen­stimmrecht war auch vor 1971 kein neuer, bahn­brechender Gedanke, den man erst einmal intellektuell hätte durch­dringen müssen und dessen Grundidee nicht verstanden worden wäre. Vielmehr ist dieses Recht zuvor ganz bewusst verweigert worden – auch mit noch so hanebüchenen Begründungen. Erstritten wurde es also nicht durch die blosse Existenz der besseren Argumente. Sondern durch deren Überführen in politischen Druck und mithilfe Unzähliger, die das Anliegen nicht wegen der Aussicht auf den ganz persönlichen Vorteil, sondern aus Überzeugung unterstützten.

Auf die Gegenwart übertragen: Wer mit Sympathie auf die Heldinnen des Frauen­stimmrechts blickt, kann sich auch fragen, wer die Judith Stamms und Elisabeth Kopps von heute sind: im Feminismus – oder zum Beispiel bei Black Lives Matter. Die Aktivistinnen selbst haben längst begonnen Allianzen zu schmieden, über vermeintliche identitäts­politische Gruppen­grenzen hinweg.

4. Die Frauen­bewegung ist grösser als «der Feminismus»

Den Feminismus gibt es nicht – sondern verschiedene feministische Strömungen. Unabhängig davon muss man jedoch nur einmal die Artikel­serien zu «50 Jahre Frauen­stimmrecht» überfliegen oder durch die Bücher zum Thema blättern, um festzustellen: Statements für zentrale Anliegen des Feminismus kommen heute von Menschen mit unter­schiedlichstem politischem Bekenntnis und gehen weit über den Kreis derer hinaus, die sich als Feministinnen (oder als links) bezeichnen.

Als die Parolen noch strikt deutsch formuliert waren: Kundgebung für das Frauenstimmrecht am 2. Februar 1966 auf der Stadthausanlage beim Bürkliplatz in Zürich. Photopress-Archiv/Keystone

Da mag im Einzelfall auch eine Portion Opportunismus im Spiel sein. Und auf manche, die ihr Engagement für Frauen­rechte wesentlich mehr gekostet hat als schöne Worte zum Jubiläum, dürfte ein Engagement im Management-Sprech ähnlich schal wirken wie der Verdacht, es könnte nach den Feierlichkeiten wieder vorbei sein mit der breiten Zustimmung. Trotzdem ist es nicht nur eine historische Pointe, dass mit Elisabeth Kopp die erste Schweizer Bundes­rätin von der FDP kam – und wichtige Weg­bereiterinnen des Frauen­stimmrechts wie Judith Stamm von der CVP.

Wenn deren Geschichten nun zum Jahrestag wiedererzählt werden, kann das auch ein Signal an heutige Bürgerliche sein – und ein Hinweis darauf, dass zentrale Forderungen von Emanzipations­bewegungen, die klassisch als eher links(liberal) gelten, nicht inkompatibel mit einer konservativen Haltung sein müssen. Selbst wenn sich konservative Parteien Veränderungen in diesen Bereichen regelmässig in den Weg gestellt haben (nicht nur in der Schweiz).

5. Nachhaltige Veränderung ist möglich

Der Rückblick auf 1971 zeigt auch: Nicht allein die Durch­setzung grund­legender Rechte war möglich; sondern die Gesellschaft im Ganzen hat sich grundlegend verändert. Unverkennbar ist vieles in der breiten Gesellschaft angekommen, was vor Jahrzehnten noch bitter bekämpft wurde. Dahinter stehen letztlich auch ganz individuelle Lern­prozesse. Jede Wette, dass auch Appenzeller Männern die damalige Rolle ihres Kantons heute grössten­teils peinlich ist. Und sei es nur, weil sie nicht wie von vorgestern dastehen wollen.

Auch daraus lassen sich Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Zum Beispiel, dass das sogenannte Futurzwei-Prinzip – welche Rolle willst du später einmal gespielt haben? – auch mit Blick auf die aktuellen Emanzipations­kämpfe hilfreich sein kann. Wer kompromisslos die Anliegen von Marginalisierten als «Befindlichkeiten» abtut oder als spalterisch geisselt, sollte sich prüfend selber fragen: Wirst du auch noch in fünf, in zehn, in dreissig Jahren zu deiner Ablehnung stehen können?

Reizwort «Identitäts­politik»

Der aktuelle Jahrestag kann auch ein Anlass sein, den Begriff «linke Identitäts­politik» zu überdenken. Dabei lässt sich grund­sätzlich fragen, ob man diese Bezeichnung nicht wieder verabschieden oder zumindest sparsamer einsetzen sollte. Nicht weil sie häufig polemisch verwendet und dann gegen Minderheiten-Anliegen in Stellung gebracht wird. Sondern weil das Wort «Identitäts­politik» tatsächlich einige erhebliche Nachteile hat.

Der vielleicht wichtigste: Das Wort ist anfällig für Miss­verständnisse. Auch weil es das Entscheidende selbst verschleiert. Es geht in der Diskussion – jedenfalls dort, wo sie konstruktiv und ohne sektiererischen Eifer geführt wird – nämlich gerade nicht um die eine feste Identität: nicht auf individueller Ebene und schon gar nicht auf gesell­schaftlicher. Sondern es geht um Identitäten, im Plural: um die Vielzahl der eigenen und fremden Zuschreibungen also, die bei jeder und jedem zusammen­spielen. Und um eine möglichst diskriminierungs­freie pluralistische Gesellschaft, in der die repräsentative Demokratie die reale Vielfalt wider­spiegeln soll.

Das bedeutet aber auch, in den Blick zu nehmen, dass historisch immer wieder bestimmte Festlegungen und Gruppen­zugehörigkeiten mit Fragen von Macht und Ausschluss verbunden waren – und es bis heute sind.

Ich will es genauer wissen: Mehr zu Identitäts­politik in der Republik

Die Republik hat den zahllosen Polemiken gegen den angeblichen «Tugendterror» über­empfindlicher «Snowflakes» immer wieder andere Sichtweisen entgegen­gehalten; sie hat die Grundidee emanzipatorischer identity politics gegenüber medialen Zerrbildern verteidigt, dabei aber auch für Kritik an dogmatischen Ausprägungen und jakobinischem Furor votiert und vor falschen 1:1-Übertragungen zwischen amerikanischen und zum Beispiel Schweizer Verhältnissen gewarnt.

Um beim Frauen­wahlrecht zu bleiben: Ganz egal, ob eine Schweizerin vor 1971 besonderen Wert auf ihre Identität als Frau gelegt hat oder andere Aspekte ihrer Persönlichkeit in den Vordergrund stellte – wählen und gewählt werden durfte sie nicht. Und um dieses Recht zu bekommen, hatten Frauen also gar keine andere Wahl, als eben auf den Identitäts­marker «Frau» zu verweisen. Das zeigt, wie verquer der Spaltungs­vorwurf sein kann: Die historische Realität war es ja, die längst eine kategorische Unterscheidung zwischen den Geschlechtern etabliert hatte (die es dann zu korrigieren galt).

Das führt allerdings auch auf ein zweites Problem mit dem Wort «Identitäts­politik»: Es ist ein abstrakter Container­begriff für verschiedenste Phänomene, und tatsächlich bleibt häufig unklar, was genau damit gemeint ist. Der Kampf um das Frauen­stimmrecht hingegen war erfolgreich, weil er präzise benannte, worum es ging – ein konkretes Anliegen in einem klar definierten gesell­schaftlichen Kontext.

Vielleicht also folgt aus all dem zweierlei: dass es einerseits zwischen den emanzipatorischen Kämpfen der Gegenwart Ähnlichkeiten gibt, weil sie historisch gewachsene Macht­verhältnisse infrage stellen – ein Gedanke, aus dem sich Solidarität und die Möglichkeit strategischer Allianzen ableiten lassen. Andererseits aber steht die Schwammigkeit des Begriffs «linke Identitäts­politik» den konkreten Anliegen der einzelnen Bewegungen eher im Weg. Nicht zuletzt, weil die Formulierung in manchen Ohren nach blossen Partikular­interessen klingt – obwohl es in Wirklichkeit um Grundlagen der Demokratie geht.

Letzteres lässt sich ebenfalls an der Geschichte des Schweizer Frauen­stimmrechts veranschaulichen.

Weil selbst zwei Jahrzehnte nach Einführung des Frauen­stimmrechts auf Bundes­ebene die Männer in Appenzell den Frauen noch immer die politische Mitbestimmung verwehrten, entschied am Ende bekanntlich das Bundesgericht – und stellte einstimmig klar: «Wer den Frauen das Stimmrecht verweigert, verstösst gegen die Bundes­verfassung.»

Das ist vermutlich die wichtigste Lehre aus dem Kampf um das Frauen­stimmrecht: Am 7. Februar 1971 hatte nicht eine bestimmte Gruppe ihre Interessen durchgesetzt; sondern die (männliche) Stimmbevölkerung hat mehrheitlich die Konsequenz aus dem eigenen demokratischen Bekenntnis und dessen Gleichheits­versprechen gezogen. So gesehen sind emanzipatorische Bewegungen, die den Grund­werten der Demokratie verpflichtet sind, in Wirklichkeit Bewegungen für alle.

Denn Demokratie ist ein laufendes Projekt. Vor 50 Jahren hat man in der Schweiz begonnen, ihren Grund­gedanken ernst zu nehmen.

Frauenstimmen

Folge 1

Die Rhetorik der Gegner

Folge 2

Das Ab­stim­mungs­ver­hal­ten der Frauen

Sie lesen: Folge 3

Die grösste Minderheit der Welt

Folge 4

«Frauen werden dafür bestraft, wenn sie sprechen»

Debatte

Wie gestalten wir Debatten so, dass Frauen mitreden?

Folge 5

Drei Kämp­fe­rin­nen für das Recht

Folge 6

Himmel, Hölle, Appenzell

Folge 7

#MeToo – war da was?