Die grösste Minderheit der Welt
Was heutige Emanzipationsbewegungen vom Kampf um das Schweizer Frauenstimmrecht lernen können: Fünf Thesen – und ein Vorschlag zum Reizwort «Identitätspolitik». Serie «Frauenstimmen», Folge 3.
Von Daniel Graf, 13.02.2021
Marie Goegg-Pouchoulin, die erste Schweizer Frauenrechtlerin, hätte 145 Jahre alt werden müssen.
Als die Schweizer Männer am 7. Februar 1971 dem allgemeinen Stimm- und Wahlrecht für Frauen zustimmten, waren gut 102 Jahre vergangen, seit Goegg-Pouchoulin, Gründerin der «Association internationale des femmes» in Genf, dieses Recht erstmals öffentlich für die Schweiz gefordert hatte. Und 180 Jahre, seit Olympe de Gouges in Frankreich die «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin» verfasste, weil die Revolutionäre von 1789 in ihrer Erklärung der Bürgerrechte mal eben die Hälfte der Bevölkerung vergessen hatten.
Die jüngere Historie ist besser bekannt: Noch 1959 scheiterte die Einführung des Frauenwahlrechts überdeutlich am Volks- und am Ständemehr; lediglich in den Westschweizer Kantonen Neuenburg, Waadt und Genf gab es eine Mehrheit. Und als Iris von Roten ein Jahr zuvor ihr heute legendäres Buch «Frauen im Laufgitter. Offene Worte zur Stellung der Frau» veröffentlichte, war das Anlass für einen Skandal. «Setzer weigerten sich, das Buch zu drucken», schreibt Anne-Sophie Keller in dem Sammelband «50 Jahre Frauenstimmrecht»: «Frauenverbände distanzierten sich von der Autorin, Fremde schmierten das Wort ‹Hure› an ihre Hauswand, die Presse demütigte sie.»
Seit gerade mal 50 Jahren haben Schweizerinnen politisches Mitspracherecht. Kein Anlass zum Feiern, sondern für Fragen: Was kann uns der Blick zurück für heute lehren? Wie ist die Lage für die Frauen heute? Zum Auftakt der Serie.
Wenn nun also in neuen Büchern, Dokus und etlichen Artikeln zu 50 Jahren Schweizer Frauenstimmrecht Bilanz gezogen wird, handeln die geschichtsbewussten Erzählungen immer von beidem: den Pionierinnen eines jahrzehnte-, jahrhundertelangen Kampfs um politische Gleichheit. Aber auch vom massiven Widerstand dagegen (der überwiegend, aber nicht allein von Männern kam). Nur beide Perspektiven zusammen zeigen, dass politische Rechte nicht einfach gegeben sind, sondern mühsam erkämpft und dann verteidigt werden müssen.
Diese Erfahrung teilt die Frauenbewegung mit anderen emanzipatorischen Kämpfen, etwa der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder der Lesben- und Schwulenbewegung: All jene, denen gleiche Rechte verwehrt werden, bekommen sie offenbar erst, wenn sie mit langem Atem dafür einstehen, sich solidarisch zusammentun – und über die eigene Gruppe hinaus Verbündete finden.
Diese Einsicht verbindet auch heute feministische Strömungen mit Emanzipationsbewegungen, wie sie in den letzten Jahren oft unter dem Schlagwort «linke Identitätspolitik» summiert werden: ein debattenumtoster Sammelbegriff für Bestrebungen vom Antirassismus bis zur Gendergerechtigkeit. Und ein Begriff, hinter dem in erster Linie die Idee steht, die Rechte und Anliegen von gesellschaftlichen Minderheiten zu stärken.
Nur: Frauen sind eben keine Minderheit. Und genau das zeigt an, dass es bei all dem nicht in erster Linie um Statistik geht – sondern um Machtverteilung und Repräsentation. In dieser Hinsicht sind Frauen nach wie vor die grösste Minderheit der Welt.
Was also folgt aus dieser strukturellen Ähnlichkeit der emanzipatorischen Kämpfe? Welche Lehren lassen sich aus einer Bilanz zu 50 Jahren Frauenstimmrecht ziehen, für den Feminismus und darüber hinaus?
Fünf mögliche Schlussfolgerungen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil: Wenn wir es ernst meinen mit dem Lernen aus der Geschichte, fangen die Fragen erst an.
1. Es geht nicht nur um politische Rechte
Eines der Bücher, die aus Anlass von 50 Jahren Frauenstimmrecht erschienen sind, trägt eine zentrale Pointe schon im Untertitel: «50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971–2021». Deutlicher lässt sich kaum signalisieren, dass der Kampf um Gleichbehandlung nicht mit dem Erlangen gleicher Bürgerrechte endet. Das Buch im Ganzen ist eine Bestandsaufnahme all dessen, wofür in den vergangenen Jahrzehnten weiter gekämpft werden musste – und was noch heute im Argen liegt: von Gender-Pay-Gap und Unterrepräsentation bis zu Fragen sexualisierter Gewalt und der unbezahlten Care-Arbeit, die noch immer zum weitaus grössten Teil von Frauen übernommen wird.
Oder wie Fatima Moumouni in einem weiteren Sammelband schreibt: «Was hat die Generation vor mir erreicht mit dem Frauenstimmrecht? Viel. Was gibt es noch zu tun? Viel.»
Auch hier gibt es Parallelen zur linken Identitätspolitik, der manchmal vorgeworfen wird, sie sei in Wahrheit gar nicht politisch, weil sie sich nicht um das Erstreiten von Rechten, sondern «bloss» um Alltagsphänomene und zwischenmenschliche Befindlichkeiten kümmere. Tatsächlich ist politische Gleichheit die Grundlage von allem. Aber der Kampf gegen Diskriminierung geht weit über formalrechtliche Gleichstellung hinaus. Dass «doch längst alle gleichberechtigt» seien, ist deshalb in all diesen Fällen ein Trugschluss, der durch hartnäckige Wiederholung nicht plausibler wird.
2. Erfolge können inspirieren
Wie jede Errungenschaft ist auch der Durchbruch beim Frauenstimmrecht ein Erfolg, der über sich selbst hinausweist. Dass die Widerstände, so gross und anhaltend sie waren, überwunden werden konnten, kann auch Inspiration für andere Gruppen in ihren emanzipatorischen Anliegen sein. Deshalb ist es so wichtig, die Geschichten derer wieder zu erzählen, die ihn ermöglicht haben.
Wenn zum Jahrestag nicht allein zu Erbauungszwecken «starke Frauen» porträtiert, sondern Geschichten von politischen Errungenschaften erzählt werden, geht davon eine so simple wie unverzichtbare Botschaft aus: Veränderung ist möglich – aber sie kommt nicht von alleine.
3. Solidarisches Denken drängt sich auf
So wie die Errungenschaften der Frauenbewegung Inspiration für andere Emanzipationsbestrebungen sein können, gibt es auch den umgekehrten Weg: Solidarität mit anderen Gleichstellungsbewegungen. Dafür ist kein komplizierter Gedankengang nötig. Es ist vielmehr ausgesprochen naheliegend, beim Jubel über die Gleichstellungserfolge auf dem einen Gebiet auch zu fragen, wie es um andere Felder bestellt ist. Zumal sich die Hindernisse ähneln.
Das Frauenstimmrecht war auch vor 1971 kein neuer, bahnbrechender Gedanke, den man erst einmal intellektuell hätte durchdringen müssen und dessen Grundidee nicht verstanden worden wäre. Vielmehr ist dieses Recht zuvor ganz bewusst verweigert worden – auch mit noch so hanebüchenen Begründungen. Erstritten wurde es also nicht durch die blosse Existenz der besseren Argumente. Sondern durch deren Überführen in politischen Druck und mithilfe Unzähliger, die das Anliegen nicht wegen der Aussicht auf den ganz persönlichen Vorteil, sondern aus Überzeugung unterstützten.
Auf die Gegenwart übertragen: Wer mit Sympathie auf die Heldinnen des Frauenstimmrechts blickt, kann sich auch fragen, wer die Judith Stamms und Elisabeth Kopps von heute sind: im Feminismus – oder zum Beispiel bei Black Lives Matter. Die Aktivistinnen selbst haben längst begonnen Allianzen zu schmieden, über vermeintliche identitätspolitische Gruppengrenzen hinweg.
4. Die Frauenbewegung ist grösser als «der Feminismus»
Den Feminismus gibt es nicht – sondern verschiedene feministische Strömungen. Unabhängig davon muss man jedoch nur einmal die Artikelserien zu «50 Jahre Frauenstimmrecht» überfliegen oder durch die Bücher zum Thema blättern, um festzustellen: Statements für zentrale Anliegen des Feminismus kommen heute von Menschen mit unterschiedlichstem politischem Bekenntnis und gehen weit über den Kreis derer hinaus, die sich als Feministinnen (oder als links) bezeichnen.
Da mag im Einzelfall auch eine Portion Opportunismus im Spiel sein. Und auf manche, die ihr Engagement für Frauenrechte wesentlich mehr gekostet hat als schöne Worte zum Jubiläum, dürfte ein Engagement im Management-Sprech ähnlich schal wirken wie der Verdacht, es könnte nach den Feierlichkeiten wieder vorbei sein mit der breiten Zustimmung. Trotzdem ist es nicht nur eine historische Pointe, dass mit Elisabeth Kopp die erste Schweizer Bundesrätin von der FDP kam – und wichtige Wegbereiterinnen des Frauenstimmrechts wie Judith Stamm von der CVP.
Wenn deren Geschichten nun zum Jahrestag wiedererzählt werden, kann das auch ein Signal an heutige Bürgerliche sein – und ein Hinweis darauf, dass zentrale Forderungen von Emanzipationsbewegungen, die klassisch als eher links(liberal) gelten, nicht inkompatibel mit einer konservativen Haltung sein müssen. Selbst wenn sich konservative Parteien Veränderungen in diesen Bereichen regelmässig in den Weg gestellt haben (nicht nur in der Schweiz).
5. Nachhaltige Veränderung ist möglich
Der Rückblick auf 1971 zeigt auch: Nicht allein die Durchsetzung grundlegender Rechte war möglich; sondern die Gesellschaft im Ganzen hat sich grundlegend verändert. Unverkennbar ist vieles in der breiten Gesellschaft angekommen, was vor Jahrzehnten noch bitter bekämpft wurde. Dahinter stehen letztlich auch ganz individuelle Lernprozesse. Jede Wette, dass auch Appenzeller Männern die damalige Rolle ihres Kantons heute grösstenteils peinlich ist. Und sei es nur, weil sie nicht wie von vorgestern dastehen wollen.
Auch daraus lassen sich Schlüsse für die Gegenwart ziehen. Zum Beispiel, dass das sogenannte Futurzwei-Prinzip – welche Rolle willst du später einmal gespielt haben? – auch mit Blick auf die aktuellen Emanzipationskämpfe hilfreich sein kann. Wer kompromisslos die Anliegen von Marginalisierten als «Befindlichkeiten» abtut oder als spalterisch geisselt, sollte sich prüfend selber fragen: Wirst du auch noch in fünf, in zehn, in dreissig Jahren zu deiner Ablehnung stehen können?
Reizwort «Identitätspolitik»
Der aktuelle Jahrestag kann auch ein Anlass sein, den Begriff «linke Identitätspolitik» zu überdenken. Dabei lässt sich grundsätzlich fragen, ob man diese Bezeichnung nicht wieder verabschieden oder zumindest sparsamer einsetzen sollte. Nicht weil sie häufig polemisch verwendet und dann gegen Minderheiten-Anliegen in Stellung gebracht wird. Sondern weil das Wort «Identitätspolitik» tatsächlich einige erhebliche Nachteile hat.
Der vielleicht wichtigste: Das Wort ist anfällig für Missverständnisse. Auch weil es das Entscheidende selbst verschleiert. Es geht in der Diskussion – jedenfalls dort, wo sie konstruktiv und ohne sektiererischen Eifer geführt wird – nämlich gerade nicht um die eine feste Identität: nicht auf individueller Ebene und schon gar nicht auf gesellschaftlicher. Sondern es geht um Identitäten, im Plural: um die Vielzahl der eigenen und fremden Zuschreibungen also, die bei jeder und jedem zusammenspielen. Und um eine möglichst diskriminierungsfreie pluralistische Gesellschaft, in der die repräsentative Demokratie die reale Vielfalt widerspiegeln soll.
Das bedeutet aber auch, in den Blick zu nehmen, dass historisch immer wieder bestimmte Festlegungen und Gruppenzugehörigkeiten mit Fragen von Macht und Ausschluss verbunden waren – und es bis heute sind.
Ich will es genauer wissen: Mehr zu Identitätspolitik in der Republik
Die Republik hat den zahllosen Polemiken gegen den angeblichen «Tugendterror» überempfindlicher «Snowflakes» immer wieder andere Sichtweisen entgegengehalten; sie hat die Grundidee emanzipatorischer identity politics gegenüber medialen Zerrbildern verteidigt, dabei aber auch für Kritik an dogmatischen Ausprägungen und jakobinischem Furor votiert und vor falschen 1:1-Übertragungen zwischen amerikanischen und zum Beispiel Schweizer Verhältnissen gewarnt.
Um beim Frauenwahlrecht zu bleiben: Ganz egal, ob eine Schweizerin vor 1971 besonderen Wert auf ihre Identität als Frau gelegt hat oder andere Aspekte ihrer Persönlichkeit in den Vordergrund stellte – wählen und gewählt werden durfte sie nicht. Und um dieses Recht zu bekommen, hatten Frauen also gar keine andere Wahl, als eben auf den Identitätsmarker «Frau» zu verweisen. Das zeigt, wie verquer der Spaltungsvorwurf sein kann: Die historische Realität war es ja, die längst eine kategorische Unterscheidung zwischen den Geschlechtern etabliert hatte (die es dann zu korrigieren galt).
Das führt allerdings auch auf ein zweites Problem mit dem Wort «Identitätspolitik»: Es ist ein abstrakter Containerbegriff für verschiedenste Phänomene, und tatsächlich bleibt häufig unklar, was genau damit gemeint ist. Der Kampf um das Frauenstimmrecht hingegen war erfolgreich, weil er präzise benannte, worum es ging – ein konkretes Anliegen in einem klar definierten gesellschaftlichen Kontext.
Vielleicht also folgt aus all dem zweierlei: dass es einerseits zwischen den emanzipatorischen Kämpfen der Gegenwart Ähnlichkeiten gibt, weil sie historisch gewachsene Machtverhältnisse infrage stellen – ein Gedanke, aus dem sich Solidarität und die Möglichkeit strategischer Allianzen ableiten lassen. Andererseits aber steht die Schwammigkeit des Begriffs «linke Identitätspolitik» den konkreten Anliegen der einzelnen Bewegungen eher im Weg. Nicht zuletzt, weil die Formulierung in manchen Ohren nach blossen Partikularinteressen klingt – obwohl es in Wirklichkeit um Grundlagen der Demokratie geht.
Letzteres lässt sich ebenfalls an der Geschichte des Schweizer Frauenstimmrechts veranschaulichen.
Weil selbst zwei Jahrzehnte nach Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene die Männer in Appenzell den Frauen noch immer die politische Mitbestimmung verwehrten, entschied am Ende bekanntlich das Bundesgericht – und stellte einstimmig klar: «Wer den Frauen das Stimmrecht verweigert, verstösst gegen die Bundesverfassung.»
Das ist vermutlich die wichtigste Lehre aus dem Kampf um das Frauenstimmrecht: Am 7. Februar 1971 hatte nicht eine bestimmte Gruppe ihre Interessen durchgesetzt; sondern die (männliche) Stimmbevölkerung hat mehrheitlich die Konsequenz aus dem eigenen demokratischen Bekenntnis und dessen Gleichheitsversprechen gezogen. So gesehen sind emanzipatorische Bewegungen, die den Grundwerten der Demokratie verpflichtet sind, in Wirklichkeit Bewegungen für alle.
Denn Demokratie ist ein laufendes Projekt. Vor 50 Jahren hat man in der Schweiz begonnen, ihren Grundgedanken ernst zu nehmen.