Wer hat Angst vorm Zuhören?

Linke Identitätspolitik ist, wieder einmal, das Feindbild der Stunde. Der Vorwurf: Sie hintertreibe den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Doch die Kritik übersieht das Entscheidende.

Von Paula-Irene Villa, Andrea Geier (Text) und Nadine Redlich (Illustration), 17.08.2019

Identität und ihre Politisierung haben offenkundig ein Image­problem. Der Vorwurf, der allerorten laut wird: Identity politics spalte die Gesellschaft (so Christian Schüle), ja, sie höhle die demokratische Gesellschaft geradezu aus (Robert Pfaller). Für Harald Welzer ist sie gar eine Art Zensur des öffentlichen Diskurses, die hauptsächlich darauf abziele, jegliche Verletzung präventiv zu vermeiden. Andere beklagen, dass man mit dem Begriff «Identität» ohnehin nicht richtig arbeiten könne, er sei einfach «Bullshit».

Identity politics – so könnte man die Kritik zusammen­fassen – sei eine Feindin des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Sie verstosse gegen das Postulat der Gleichheit zugunsten von immer neuen Minderheiten. Das sei «tribalistisch» statt modern, meinte neulich Mariam Lau, denn so entstehe eine Öffentlichkeit, in der nicht mehr zählt, was gesagt wird, sondern nur noch, wer etwas sagt.

In solchen Klage- und Warnschriften geht es schnell ums Ganze: um die Fundamente unserer demokratischen, politisch-ethischen Ordnung, um universale Rechte, Demokratie, Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit.

All das – so heisst es häufig unter Berufung auf Mark Lilla oder Francis Fukuyama – sei bedroht durch den Identitäts­fetisch von immer kleineren partikularen Gruppen, die nur auf ihr spezifisches So-Sein pochen würden. Darauf, in ihrer Besonderheit politisch und kulturell anerkannt zu werden. Nicht mehr schwul, sondern LGBTTIQ* (usw.!), nicht mehr Frau, sondern cis-weiblich. Kurz: nicht mehr Mensch, sondern Spezialtypus.

Was die Kritiker sehen – und was nicht

Die Kritik an solchen Formen wäre wenig erstaunlich, wenn sich die Autorinnen an rechten und rechtsextremen Bewegungen abarbeiten würden. Jenen also, die die Identität eines ethnisch definierten Volkes, einer religiösen Prägung oder einer Kultur zur Basis des Politischen machen wollen. Jenen, die Identität unter dem Etikett des Reinheits­gebots als «deutsche Leitkultur» oder «unser christliches Abend­land» servieren. Zum Lieblings­gegner der Feuilletons und von Teilen ihres Publikums wurde aber nicht diese Form einer Identitäts­politik von rechts, sondern paradoxer­weise die von links. Eine Identitäts­politik also, die für genau die Ziele der Moderne kämpft, die die Kritiker zu verteidigen behaupten: Gleichheit und Anerkennung von Vielfalt. Ebendiese Werte seien nun, so heisst es, auch von linker Seite bedroht.

Hat das aufklärerische Projekt also eine falsche Wendung genommen?

Eine Ausgangs­beobachtung der Polemiken trifft durchaus zu: Menschen berufen sich tatsächlich nicht nur auf abstrakte Rechte. Sie berufen sich auch auf eigene Erfahrungen und die Zugehörigkeit zu Gruppen. Dabei werden – auch das stimmt – immer weitere Gruppen und Kategorien hörbar, die politische und rechtliche, auch kulturelle Sichtbarkeit verlangen.

Allerdings ist diese Gruppen- und Identitäts­logik weder neu, noch ist sie vermeidbar. Solange es Herrschaft gibt, die auf gruppen­bildenden Unter­scheidungen beruht, ist es historisch wichtig gewesen und bleibt es wichtig, «wer spricht».

«Wir» und «ihr»: Ein Blick in die Geschichte

Zur Moderne gehören von Anfang an und bis heute auch Exklusion und Missachtung, Unfreiheit und Ausbeutung, Abhängigkeit und Entmenschlichung. Diese betreffen ganze Gruppen von Menschen, denen man eben genau mit Verweis auf ihre Zuordnung zu bestimmten Gruppen – als Frauen, Versklavte, «Wilde», «Barbaren», Juden, «Behinderte», «Homosexuelle» – die angeblich universalen Rechte verweigert hat. Deshalb schrieb Olympe de Gouges 1791 ihre «Erklärung der Rechte als Frau und Bürgerin» («Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne»). Sie reagierte darauf, dass die Französische Revolution, die sich die Gleichheit auf die Fahne geschrieben hatte, eben nicht allgemeine Menschen- und Bürger­rechte hervor­brachte. Vielmehr erkannte sie diese Rechte einer ganz bestimmten Gruppe zu: den weissen, französischen, bürgerlichen Männern.

Emanzipative gesellschafts­politische Projekte entwickeln sich also aus kritischen Auseinander­setzungen mit dem Status quo. Sie formen sich in der Kritik am Bestehenden.

Dabei ist zweierlei wesentlich. Erstens, dass Emanzipation die Versprechen der Moderne ernst nimmt: Gleichheit, Freiheit, Mündigkeit, Demokratie, Menschen­rechte aller Menschen (also nicht nur von Männern, christlichen oder hetero­sexuellen Menschen). Zweitens werden Forderungen nach Emanzipation deshalb auf der Grundlage kollektiver Erfahrungen – als Gruppe, als Klasse, als Geschlecht – gemacht, weil Personen wegen angeblicher oder tatsächlicher Gruppen­zugehörigkeit Rechte und Chancen vorenthalten werden.

Die Juden, die Frauen, die Arbeiterinnen, die Kinder wurden historisch von den angeblich universalen Rechten, die mit dem Menschsein einher­gehen, ausgeschlossen. Und als solche Gruppen kamen sie, in Anlehnung an Marx, zu sich im Kampf um rechtliche, ökonomische, politische Gleich-Stellung. Dies ist die historische Form einer Moderne, die sich – etwa in der Schweiz und um nur beim Wahlrecht zu bleiben – bis in die 1970er-Jahre hinein immer für universal hielt – und es faktisch nie war.

Die Geschichte der europäischen Juden zeigt dies ebenso eindringlich. Nicht nur, aber auch das 19. Jahrhundert ist in Europa gleicher­massen davon geprägt, jüdische Menschen vom angeblich Allgemeinen der Menschen und Bürger auszuschliessen, wie von den Kämpfen darum, sie auf rechtlicher und politischer Ebene einzuschliessen. Heinrich Heine sah in der «Taufe das Entreebillet zur europäischen Kultur». Das Kernproblem dabei ist übrigens nicht, dass es irgendwie auch jüdischen oder weiblichen oder schwarzen oder homosexuellen Menschen verunmöglicht wurde, als solche an den Versprechungen der Moderne teilzuhaben. Das Kernproblem ist und bleibt, dass sehr wenige «der Mensch» sind, die vielen anderen hingegen zum Juden, zum Schwulen, zur Frau etc. werden.

Georg Simmel, ein Klassiker der Soziologie, beschreibt diese «Versämtlichung» in seinem Essay von 1908: «Der Jude [hatte] seine soziale Position als Jude, nicht als Träger bestimmter sachlicher Inhalte.» Ob Professor, Schuh­macher, Familien­vater oder Autor, er ist und bleibt in der Wahrnehmung der Mehrheits­gesellschaft «der» Jude. Ob Autorin, Schneiderin, Arbeiterin oder Mutter, sie ist und bleibt «die» Frau. Ob Sportler, Astro­physikerin, Politikerin oder Vater, er/sie ist und bleibt «der» Schwarze und so fort.

Die Logik der Vernichtung, die aus der Versämtlichung zur Gruppe, also aus der Entmenschlichung, folgt, findet im Konzentrations­lager ihren zynischen Höhepunkt. Aber Ausschluss und Vernichtung sind kein bizarrer Ausrutscher. Sie sind Teil einer Moderne, die Menschen und «andere» kennt. In Peru wurden in den 1990er-Jahren unter dem offiziösen Deckmantel einer aufgeklärten und modernisierenden Gesundheits­politik Hundert­tausende junge Frauen unter Anwendung roher Gewalt zwangs­sterilisiert, sie waren ganz überwiegend indigen und nicht europäischer Herkunft. In den USA sind sämtliche Indikatoren wie Gesundheit, Sterblichkeit, Einkommen, Bildungs­optionen, Gewalt­erfahrung, Kriminalität nach Hautfarbe strukturell hoch signifikant unterschieden.

Von echter und vermeintlicher Gleichheit

Diese Beispiele weisen auf das Struktur­problem hin: Die Moderne hat faktisch immer schon nach dem «Wer» unterschieden, sie tut dies heute noch. Menschen, die aufgrund von Gruppen­zuordnungen von bestimmten Rechten ausgeschlossen werden, können und konnten historisch diese Rechte nur fordern, indem sie diese für ihre Gruppe einforderten.

Deshalb geht es den identity politics von links darum, sichtbar zu machen, wie historisch etablierte Differenzen und Ausschluss­mechanismen auch in der Gegenwart fortwirken. Rechtliche Gleichheit beseitigt ja nicht ungleich verteilte Chancen und Handlungs­möglichkeiten. Es geht um Strukturen der Ungleichheit, und die gibt es in vielen Formen: In Deutschland beträgt beispiels­weise der Anteil der Frauen auf Ebene der Professuren ca. 17 Prozent, bei über 50 Prozent Anteil unter den Studierenden.

Es gibt weiterhin klassen-, geschlechter-, sexualitäts-, herkunfts- und hautfarben­bezogene Wahrnehmungs­muster, die für Individuen als Privilegierung oder Diskriminierung wirksam werden: vom racial profiling über die Benachteiligung bei der Wohnungs­suche bis zu den unterschiedlichen Bewertungen derselben schulischen Arbeit, abhängig vom «vertrauten» oder «fremden» Klang des Namens, oder den Chancen einer Bewerbung, in denen das Bild eine Frau mit oder ohne Kopftuch zeigt – die Liste der strukturellen Ungerechtigkeit und der alltäglichen Diskriminierung ist in der Rassismus­forschung vielfach aufgearbeitet.

Die grossen «Ismen», die hier wirksam werden – Sexismus, Rassismus, Antisemitismus usw. – sind historisch gewordene soziale Deutungen, nicht zwingend individuelle böse Absichten. In jedem Fall aber versehen sie Unterschiede mit Wertungen, die handfeste materielle Konsequenzen haben. Diese Zuschreibungen und Wertungen bedingen, wie Menschen von ihrer Umwelt wahrgenommen werden und wie sie sich – wie wir uns – in der Welt bewegen können. Auch sie formen ganz entscheidend die Lebens­erfahrung und damit die Selbst­wahrnehmung. Das nennen manche «Identität».

Kritik? In Wirklichkeit bloss ein Abwehrreflex

Entscheidend aber ist: Wenn jemand darauf besteht, als ein «Wer» zu sprechen und gehört zu werden, anerkannt zu werden als ein Mensch, der durch die Gruppen­zuordnung bestimmte (Diskriminierungs- oder sonstige) Erfahrungen gemacht hat, sollten wir aufhören, darauf mit pauschaler Abwehr zu reagieren.

Diese Abwehr ist seit einigen Jahren dominant, und sie geht einher mit einem alarmistischen Ton. Wenn Mariam Lau schreibt, es komme «nicht mehr darauf an, was gesagt wird. Sondern wer etwas sagt», suggeriert sie, dies sei eine historische Zäsur, und zwar eine bedrohliche. Ihr Artikel reiht sich ein in die zahlreichen Klagen über Tugend­furor, Selbst­zensur und political correctness. Es sei doch schon so viel erreicht worden! Man möge sich bitte auf die wirklich wichtigen Gegnerinnen konzentrieren und die Gutwilligen nicht durch übertriebene Forderungen verschrecken.

Aber für wen ist es eigentlich kaum auszuhalten, dass marginalisierte Personen und Gruppen sich auch einmal in «geschützten» Räumen austauschen wollen? Vielleicht merken wir ja bloss nicht, dass auch wir uns die meiste Zeit schon in solchen Schutz­zonen bewegen? Wenn wir zum Beispiel von der eigenen Hautfarbe absehen können, weil wir weiss sind; wenn wir hetero sind und deshalb keine Sorge vor Gewalt und Beleidigung beim Händchen­halten in der Öffentlichkeit haben müssen?

Wer hat Grund, sich von der Forderung angegriffen zu fühlen, über die eigene soziale Position samt deren Deutungs- und Handlungs­mächtigkeit nachzudenken? Für wen ist das zu viel, und wer darf das entscheiden?

Weshalb Streit gut ist – und sich das Zuhören lohnt

Die grosse abwehrende Geste produziert mehrere Probleme: Indem sie Identitäts­politik als Rückschritt hinter schon erreichte Errungenschaften der Gleichheit und als Hemmnis auf dem Weg ihrer Vollendung diffamiert, verkennt oder ignoriert sie die Spannung zwischen dem Programm der Moderne und ihrer Praxis. Die Kritik verfälscht identitäts­politische Anliegen und missdeutet ihre Funktion.

Die historische Lehre aber ist klar: Universalismus kann man nicht einfach deklarieren, ohne sich mit der Frage zu befassen, wer davon ein- und wer ausgeschlossen ist. Solange Menschen rassistisch diskriminiert werden, weil sie schwarz sind, muss die sozial zugewiesene Bedeutung von Hautfarbe ein Thema sein. Wenn sich jemand dagegen­wendet mit dem Argument, er sei bereits «colour-blind», mag das aufklärerisch gemeint sein. Aber es ist eben doch eine privilegierte Position, die sich (ungewollt) zur Komplizin von Rassismus macht: Worüber wir nicht sprechen, das gibt es nicht.

Hier reiht sich ein anderes angeblich aufklärerisches Argument ein: Identitäts­politische Forderungen werden als fundamentalistische Positionen bezeichnet, die weder Kritik noch Debatte zuliessen und machtvoll ihre Positionen durchzusetzen wüssten. Man selbst ergreife also nur das Wort, weil man diesem Fundamentalismus entgegen­treten wolle.

Das ist beim Identity-politics-Bashing das zentrale Problem: Es immunisiert sich im Namen der richtigen Werte gegen einen Aushandlungs­prozess, in dem auch die eigene Position zum Gegenstand des Streits werden kann, ja muss, wenn wir gemeinsam demokratisch voran­kommen wollen. Es geht um einen Austausch über die Frage, wer aus wessen Sicht «ihr» und wer «wir» ist – statt einfach zu behaupten, dass in einem gemeinschaftlichen Wir sowieso alle eingeschlossen seien.

Deshalb lohnt sich das Zuhören. Hinter so manchen Anekdoten von «übertriebenen» Formen der Identitäts­politik stecken genuin moderne, zur Demokratie gehörende Kämpfe um Partizipation, um die Teilnahme am politischen, kulturellen, ökonomischen Leben. Es sind Kämpfe darum, ebenfalls zu denjenigen zu gehören, die an Universalismus, Menschen­rechten, Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität teilhaben. Statt sich mit den eigenen Befindlichkeiten zu befassen und mit pauschaler Kritik den Kräften zuzuarbeiten, die Emanzipations- und Gleichheits­forderungen bekämpfen, sollten alle, die guten Willens sind, daran arbeiten, wie wir gemeinsam diese Ziele erreichen können.

Auf dem Weg dahin muss die Spannung zwischen dem Projekt des Universalen und einer Praxis des Partikularen ausgehalten werden. Daraus folgen paradoxe Emanzipations­formen, nämlich solche, die zunächst Differenz betonen müssen, um sie langfristig zu relativieren. Daraus folgt aber auch eine (selbst-)kritische Befragung der Gruppen­logik insgesamt, auch in ihren emanzipatorischen Absichten.

Wer diese Komplexität nicht sehen will, hat womöglich mehr nervige identity politics verdient, als ihm oder ihr lieb ist.

Zu den Autorinnen

Paula-Irene Villa ist Professorin für Allgemeine Soziologie und Gender Studies an der LMU München. Sie forscht und lehrt zu Biopolitik, soziologischer Theorie, Care, Popkultur und Gender in politischen Konstellationen. Sie ist unter anderem seit 2013 im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

Andrea Geier ist Professorin für Neuere deutsche Literatur­wissenschaft und Geschlechterforschung an der Universität Trier. Sie ist im Vorstand des Centrums für Postcolonial und Gender Studies (CePoG) und arbeitet im Bereich kultur- und literatur­wissenschaftliche Geschlechter- und Interkulturalitäts­forschung mit einem Schwerpunkt in der Gegenwart.