Bis die Blasen platzen: Mehr Teilhabe führt nicht zu mehr Harmonie, sondern zu mehr Konflikten.

Wer oder was wird «gecancelt»?

Die aufgeheizte Debatte zur «Cancel-Culture» braucht Differenzierung und Deeskalation von allen Seiten. Und dennoch: Der Verlust von Privilegien ist nicht nur ein unangenehmer Nebeneffekt, er ist Kern emanzipativer Politik.

Von Franziska Schutzbach (Text) und AHAOK (Illustration), 14.08.2020

Derzeit wird wieder ausgiebig über politische Korrektheit diskutiert, das aktuelle Stich­wort lautet Cancel-Culture. Verschiedene Autorinnen beklagen Meinungs­verbote und Intoleranz, gerade auch von links. Selbst einfluss­reiche Intellektuelle, die des Konservatismus eher unverdächtig sind, schätzen die Lage offenbar als so problematisch ein, dass sie vergangenen Monat im «Harper’s Magazine» einen öffentlichen Brief publizierten, um sich gegen totalitäre Tendenzen und eine Pranger-Kultur im Netz auszusprechen.

Darin verzichten die 153 Unter­zeichnenden auf polemische und pauschalisierende Schlag­wörter wie «Rede­verbote», «Political Correctness» oder «Zensur». Inhaltlich sorgen sie sich aber gleichwohl um das Verschwinden einer Diskussions­kultur, in der verschiedene Meinungen und Perspektiven akzeptiert und respektiert werden; einer Gesprächs­kultur, in der auch Experimente und Fehler möglich sind.

Yascha Mounk, renommierter Politik­wissenschaftler und ein dezidierter Kritiker rechts­populistischer Tendenzen, die ihm zufolge die liberale Demokratie gefährden, sieht die öffentliche Debatte mittler­weile auch durch progressive Kräfte bedroht und hat deshalb ein Magazin gegründet («Persuasion») mit dem Ziel, die offene Gesellschaft zu bewahren und offene Debatten ohne Troll­kultur zu fördern.

Die Frage also stellt sich: Was ist dran an der Besorgnis?

In der Tat ist das Diskussions­klima in den Social Media kein Sonntags­spaziergang. Es wird kräftig ausgeteilt, und zwar von allen Seiten. Deshalb ist es dringlich zu fragen, wie wir eigentlich miteinander kommunizieren und umgehen wollen, welche Regeln und Über­einkünfte es im öffentlichen Raum, auch im digitalen, geben muss.

Hate-Speech oder Beschimpfungen sind widerwärtig und falsch. Egal, von wem sie kommen, und egal, gegen wen sie gerichtet sind. Dass etwa die «Harry Potter»-Autorin J. K. Rowling sexualisiert angegriffen wurde, ist inakzeptabel. Auch wenn man ihre Äusserungen für trans­feindlich hält – wofür sich plausible Gründe anführen lassen –, gibt das noch niemandem das Recht, selbst Grenzen zu überschreiten.

Zur Autorin

Franziska Schutzbach ist Geschlechter­forscherin und Soziologin, freie Autorin und Speakerin. Seit vielen Jahren ist sie auch als politische Aktivistin tätig. Forschungs- und Themen­schwerpunkte sind: Geschlechter­verhältnisse, reproduktive Gesundheit und Biopolitik, rechts­populistische Kommunikations­strategien, Antifeminismus und Maskulismus. Zuletzt erschien von ihr «Politiken der Generativität. Reproduktive Gesundheit, Bevölkerung und Geschlecht». Sie ist ausserdem Mitherausgeberin des Bandes «I Will Be Different Every Time. Schwarze Frauen in Biel. Femmes noires à Bienne. Black Women in Biel».

Aber über das Thema Hate-Speech hinaus gefragt: Haben wir ein allgemeines Intoleranz­problem seitens der sogenannt progressiven Kräfte?

Es gibt dazu sehr unterschiedliche Einschätzungen. Eine pauschale Antwort auf die Frage nach der Cancel-Culture scheitert bereits an der Tatsache, dass die Ausgangs­lage je nach Land extrem unterschiedlich ist. Obwohl genau dies ständig gemacht wird: Wir können US-amerikanische Debatten nicht einfach umstandslos auf hiesige Verhältnisse übertragen.

Ferner kann die Frage, welche Anliegen wie legitim sind, in der Regel nicht einfach objektiv definiert werden. Schon deshalb, weil viele Perspektiven in den medialen oder politischen Institutionen unter­repräsentiert oder gar nicht vertreten sind: Sie sind «sozusagen seit ihrer Geburt gecancelt», weil sie keine Stimme haben. Die Debatten, um die es geht, werden eben nicht einfach als Kämpfe unter Gleich­rangigen um das bessere Argument ausgetragen. Sie transportieren selbst gesellschaftliche Schief­lagen mit. Ausserdem kann eine Forderung oder eine Sicht­weise grund­sätzlich legitim und berechtigt sein, andererseits in der Art, wie sie vorgebracht wird, dogmatische Elemente enthalten.

Was die Debatten also dringend brauchen, ist Differenzierung – und die Anerkennung von Komplexität.

Selbstkritik – auch auf der Opferseite

Natürlich kann und soll dabei auch darüber diskutiert werden, inwiefern bei den emanzipatorischen Kämpfen der Gegenwart in konkreten Fällen übers Ziel hinaus­geschossen wird. Selbst­verständlich soll es möglich sein, sowohl die inhaltlichen Forderungen als auch die Formen des Protests zu kritisieren. Es ist wichtig und legitim zu fragen, inwiefern auch progressive Kräfte manchmal dogmatische oder einseitige Sicht­weisen propagieren, in denen manichäische Welt­bilder zirkulieren, die ein Richtig-oder-falsch-Denken nahelegen.

Gerade auch die gesellschaftliche Linke ist gefragt, Einspruch zu erheben, wenn Ambivalenzen und plurale Sicht­weisen zu wenig Raum haben. Das Denken der Differenz, Adornos Forderung, ohne Angst verschieden sein zu können, gilt es immer wieder von neuem zu prüfen. In diesem Sinne sind Statements wie der «Harper’s»-Brief wertvolle Debatten­beiträge – auch für diejenigen, die mit vielen Inhalten nicht einverstanden sind.

Oder anders gesagt: Es braucht die Forderung nach Selbst­kritik und nach einer kontinuierlichen Prüfung der eigenen Axiome nicht nur in Richtung der sogenannten Mächtigen und Privilegierten; es kann auch aus der Sicht von Unter­drückten oder weniger Privilegierten keine fixen und für immer gültigen Positionen oder Perspektiven geben.

Allerdings – und das geht in der aktuellen Debatte allzu oft vergessen – geht das Problem sehr viel tiefer.

Legitimer Boykott oder «Hexenjagd»?

Unverkennbar dient die Behauptung, die emanzipatorischen Kämpfe der Gegenwart hätten allgemein eine antitolerante Tendenz, auch als konservatives oder rechtes Instrument, um bestehende Macht­strukturen zu erhalten und notwendige Gerechtigkeits­diskussionen zu torpedieren. Pauschale Thesen, wonach progressive Kräfte und Minder­heiten die Gesellschaft mit Verboten und Boykotten belegen oder «Hexen­jagden» veranstalten, vertragen sich schlecht mit der Empirie einer vielstimmigen Diskussion.

Nehmen wir ein Beispiel: Sollen Bücher oder Texte von umstrittenen Autorinnen boykottiert, aus Lehr­plänen oder Uni-Seminaren gestrichen oder aus Kinder­gärten entfernt werden? Was machen wir mit den kolonial­rassistischen Klischees in «Tim und Struppi»-Comics? Mit dem N-Wort in «Pippi Langstrumpf»-Büchern? Wie verfahren mit den Rassen­theorien in Texten von Immanuel Kant? Schaut man sich die konkreten Vorschläge an, wie mit solchen Texten, Passagen, Bildern oder auch mit Denkmälern umgegangen werden soll, wird schnell klar, dass die Konzepte extrem unter­schiedlich sind. Statt einer Über­einkunft darüber, dass es das einzig Richtige wäre, diese zu «verbieten», gibt es stark divergierende Ideen und Forderungen.

Und noch etwas anderes ist von grund­legender Bedeutung: Diejenigen, die mit ihren Deutungs­ansprüchen, Perspektiven und Millionen Followern lange Zeit relativ unwidersprochen blieben, neigen manchmal dazu, heftige Kritik und Kontroversen vorschnell als Ausdruck von Zensur abzutun. Dabei sind Kontroversen gerade ein notwendiger Bestand­teil pluraler Gesellschaften.

Darin liegt eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich, und um diese Ambivalenz besser zu verstehen, braucht es einen kleinen Umweg über die Sozialwissenschaft.

Erst Veränderung erzeugt Konfrontation

Forscherinnen wie Naika Foroutan, Aladin El-Mafaalani und andere sind der Auffassung, dass die zunehmenden Konfrontationen auch auf emanzipatorische Entwicklungen verweisen. Gemäss ihnen sind sie Ausdruck einer Demokratisierung, davon also, dass sich heute mehr und vor allem unterschiedliche Menschen am politischen Diskurs beteiligen.

Die offenen Konflikte – zum Beispiel um Begriffe, Sprache, den Bildungs­kanon, Statuen, Repräsentation und Erinnerungs­kultur, aber auch um Polizei­gewalt und Einbürgerungs­praxen, um strukturellen Rassismus oder um Gewalt gegen Frauen (#MeToo) – sind ein Indikator dafür, dass sich tradierte Macht­strukturen verändern, dass Ungleichheit und Diskriminierung tatsächlich abnehmen.

Foroutan bezieht sich dabei auf das in der Soziologie bekannte Tocqueville-Paradox: Es kommt nicht in dem Moment zu Auseinander­setzungen, in dem die Ungleichheit besonders gravierend ist – in einer Situation unhinterfragter Unter­drückung ist es nämlich schwierig, Ungleichheit anzuprangern, Kritik zu formulieren und Forderungen zu stellen. Es kommt vielmehr dann zu Auseinander­setzungen, wenn mit Reformen begonnen wurde und bereits mehr Partizipation möglich ist. Tatsächlich sind heute Minder­heiten­anliegen bekannt, von denen vor wenigen Jahren kaum jemand wusste. Je mehr Sichtbarkeit und Legitimität diese Anliegen erhalten, desto eher nimmt auch das Bewusstsein dafür zu, wenn sie missachtet werden.

Anders gesagt: In dem Moment, in dem wir mehr Teilhabe und Gleichheit haben, erscheint die Gesellschaft paradoxer­weise erst einmal besonders ungerecht. Umso lauter und wütender fallen entsprechend Empörung, Kritik und die Forderungen nach Veränderung aus.

Die gute Nachricht also lautet: Die vielen Kontroversen der Gegenwart bedeuten nicht, dass alles immer schlechter wird, im Gegenteil. Sie sind auch ein Effekt zahlreicher Fortschritte beim Kampf um eine gerechtere, inklusivere Gesellschaft.

Daneben gibt es aber auch die – je nach Perspektive – schlechte Nachricht: Die Auseinander­setzungen um Gerechtigkeits­fragen werden bis auf weiteres nicht ab-, sondern eher zunehmen.

Backlash-Phasen der Emanzipation

Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Mehr Teilhabe führt nicht zu mehr Harmonie, sondern zu mehr Verteilungs- und Interessen­konflikten. Auch deshalb, weil die mit neuem Selbst­bewusstsein vorgetragenen Kritiken und Forderungen zu Gegen­reaktionen führen. Auf Kritik an Rassismus wird oft mit Rassismus reagiert. Je offensiver Sexismus skandalisiert wird, desto offensiver tritt dieser zutage – wie man an zahl­reichen Beispielen von extremem Frauenhass im Netz sehen kann. Emanzipations­prozesse sind von enormen Spannungen begleitet, und sie finden auch nicht linear statt. Nicht selten gehen sie einher mit Backlashs und heftigen Gegenreaktionen.

Daraus folgt zweierlei. Das Erstarken der Rechten in Europa und anderswo und die damit einher­gehenden realen Gefahren, dass Errungenschaften wie das Recht auf Abtreibung oder anderes wieder rückgängig gemacht werden, sollten nicht verharmlost werden.

Gleichzeitig sollten diese Tendenzen aber auch nicht dazu verleiten, Fortschritte zu übersehen und Durch­brüche kleinzureden. Auf progressiver Seite wird manchmal eine Art Katastrophismus gepflegt, ein Pessimismus, der keinerlei emanzipatorischen Fortschritt zu honorieren bereit ist, solange nicht der ganz grosse Umschwung eintritt. So aber macht man die bereits erzielten Erfolge unnötig klein.

Ich habe das, durchaus auch selbstkritisch, in meinem Buch über Rechtspopulismus beschrieben: Ausschliesslich um die noch existierenden Missstände zu kreisen wie Motten um das Licht – also etwa dem Erstarken der Rechten mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung zu verleihen, als es verdient –, birgt die Gefahr, sie dadurch noch grösser zu machen. Vor allem kann Unter­gangs­stimmung die eigene Handlungs­fähigkeit und auch Stärke unterminieren. Sich aus der marginalisierten Perspektive einseitig auf einen Stand­punkt der Ohnmacht, der Diskriminierung oder der Unter­drückung zu berufen, hiesse am Ende, genau die Position zu reproduzieren und zu akzeptieren, die einem von den herrschenden Verhältnissen zugewiesen wird: eine Position der Marginalität. (Mehr dazu in meinem Text «Wider die bequeme Weltuntergangslust».)

Doch auch hier gilt wiederum: Würde es allein darum gehen, dass emanzipatorische Bewegungen durch Kritik und Selbst­reflexion die Fallen vermieden, in die andere sie nur zu gerne treten sähen, wäre die Sache vergleichs­weise einfach.

Die «heimlich Mächtigen»

Der zentrale Punkt ist vielmehr: Die Anliegen von marginalisierten Menschen wurden zu allen historischen Zeiten für überzogen oder extrem gehalten. Schweizerinnen etwa wurden bei ihrem Kampf ums Stimm­recht jahrzehnte­lang beschuldigt, die Gesellschaft zu gefährden und zu spalten. Heute wirken ihre damaligen Forderungen wie das Normalste der Welt. Wenn jene, die als weniger wert gelten, mitreden wollen, wird das zunächst nicht als gerechter Ausgleich, sondern als Frechheit, als Umkehrung der Verhältnisse, als anmassend und übertrieben empfunden – oder eben als «Terror der Minderheiten». Wissenschaftliche Studien scheinen das zu stützen: So wird etwa der tatsächliche Frauen­anteil in einer Gruppe von vielen Männern überschätzt, und wenn Frauen gleicher­massen mitreden, wird das schnell als Dominanz wahrgenommen.

In gesellschaftlichen Debatten gibt es ein ähnliches Muster: Wenn Kritik ausgerechnet von jenen formuliert wird, die in der gesellschaftlichen Hierarchie eher unten stehen (Frauen, Migrantinnen, People of Color usw.), wird das von manchen, die sich – oft unbewusst – als die Überlegenen betrachten, als eine Schmach erlebt. Manche Menschen bewältigen diese Erschütterung, wie etwa die Ressentiment- und die Autoritarismus-Forschung zeigen, indem sie die Schwachen zu Über­mächtigen emporstilisieren.

Zentral ist dieser Widerspruch etwa im Anti­semitismus: Das, was man als ohnmächtig und minder­wertig betrachtet, wird gleichzeitig als das heimlich Mächtige imaginiert. Ähnliche Mechanismen beobachten wir heute im Anti­feminismus oder im Anti-Political-Correctness-Diskurs: Frauen oder Minderheiten werden lächerlich gemacht und abgewertet. Gleichzeitig unterstellt man ausgerechnet ihnen eine totalitäre Übermacht und redet von einer «Gender­diktatur» und von «Sprachpolizei».

Die vermeintlich hinterlistige Stärke der Schwachen ist also ein verschwörungs­ähnliches Narrativ, das die schwierige Erfahrung von gesellschaftlichem Wandel und Verunsicherung erträglich machen soll.

Der Männlichkeits­forscher Robert Claus hat das Phänomen am Beispiel der antifeministischen Männer­rechts­bewegung wie folgt beschrieben: Die Verunsicherung, die viele Männer aufgrund des Wandels der Geschlechter­verhältnisse erfahren, ist ein Gefühl der Schwäche, das in vorherrschenden Männlichkeits­idealen, also in der Idee von Stärke und Überlegenheit, eigentlich keinen Platz hat. Diese Verunsicherung ist für manche Männer nur dann legitim und erträglich, wenn sie sich einem schier übermächtigen Gegner gegenüber­gestellt sehen («Gender­diktatur») – schwach darf man nur angesichts eines scheinbar unbesiegbaren Gegenübers sein.

All das bedeutet nicht, dass es nicht auch reale Situationen gibt, in denen Männer Unrecht erfahren, etwa im Zuge eines Sorgerechts­streits oder falscher Anklagen in Bezug auf sexualisierte Gewalt. All das gibt es. Nur: Von einer Macht­übernahme der Frauen, einer Umkehrung der Verhältnisse oder von Totalitarismus im eigentlichen Wortsinn sind wir, wenn wir berücksichtigen, wer tatsächlich an den Hebeln der Macht sitzt, weit entfernt.

Das ist die eine Seite.

Andererseits hat die Behauptung, «politisch Korrekte» wollten unsere Freiheit einschränken, auch einen wahren Kern.

Ein Verlust ist ein Verlust

In seinem bemerkens­werten Aufsatz «‹Political Correctness› als Kern der Politik. Mit Nietzsche gegen die neue Rechte» (2020) entwickelt der Politik­wissenschaftler Karsten Schubert folgendes Argument: Es geht bei Gerechtigkeits­prozessen tatsächlich um einen Kampf um Privilegien – und Emanzipation bringt für manche auch Privilegien­verluste und Einschränkungen mit sich. Diese Einsicht, so Schubert, sollte nicht beschönigt werden. Gemeint sind mit den Privilegien­verlusten und Einschränkungen aber nicht Fälle von Unrechts­behandlung, wie sie einzelne Männer im Zuge von Sorgerechts­konflikten erfahren. Gemeint ist, dass bei der Umsetzung von Gleich­stellung fortbestehend informelle Privilegien und Freiheiten, die die Freiheit anderer einschränken und strukturelle Diskriminierung verursachen, aufgegeben werden müssen.

Wenn mehr Frauen in Chef­positionen oder Parlamente kommen sollen, dann heisst das, dass weniger Männer solche Positionen innehaben können. Wenn Menschen, die vorher unbescholten «M***kopf» sagten oder Frauen im Club an den Hintern fassten, das nun nicht mehr unbescholten tun können, wird ihnen tatsächlich etwas weggenommen: nämlich die Möglichkeit, allein zu bestimmen, welche Begriffe adäquat sind und welche nicht, welches Verhalten angemessen ist und welches nicht.

Wer bisher nicht reflektieren musste, was er sagte oder wie sie sich verhielt, erlebt das verständlicher­weise als Einschränkung. Weil es eben auch eine ist! Die Herstellung von Gerechtigkeit, Inklusion und Teilhabe ist nicht einfach ein formaler Verwaltungs­akt, über den sich alle freuen und von dem alle gleicher­massen profitieren. Quoten zum Beispiel bevorzugen und fördern bestimmte Menschen. Natürlich bedeutet das eine (temporäre) Schlechter­stellung derjenigen, die nicht in die Quote fallen. Das ist aber nicht antiliberal, sondern – wie auch juristisch festgestellt wurde – angesichts der vorherrschenden und historischen Unter­repräsentation bestimmter Menschen menschenrechts- und verfassungs­konform. Quoten dienen der tatsächlichen Durch­setzung von Anti­diskriminierung und Gleichheit. Sie sind verhältnis­mässig, sofern sie auf der nachweislich strukturellen Benachteiligung einer bestimmten Gruppe in bestimmten Bereichen beruhen.

Frauen und Minder­heiten beanspruchen Mitsprache und Gleich­berechtigung. Und sie wollen nicht nur ein Stück des Kuchens, sie wollen mitbestimmen über die Rezeptur des Kuchens, sprich: Die Regeln des Zusammen­lebens und die Verteilung von Macht, Einfluss und Ressourcen sollen gleich­berechtigt ausgehandelt werden. Wenn aber mehr Menschen am Tisch sitzen und über das Rezept reden, müssen diejenigen, die zuvor aufgrund von diskriminierenden Strukturen allein da waren, Platz machen, sich einschränken, Redezeit und Ressourcen abgeben. Das ist zwar schmerzhaft, ist aber angesichts der nachweislichen Ungleichheits­verhältnisse keine anmassende oder «autoritäre» Forderung; die Herstellung tatsächlicher – nicht bloss formaler – Gleichheit ist ein Kernauftrag demokratischer Verfassungen.

Oder zugespitzt formuliert: Der Verlust von bestimmten Privilegien ist kein unangenehmer Neben­effekt, sondern ein Kern emanzipativer Politik (Schubert). Man sollte das nicht verharmlosen oder beschönigen. Es reicht deshalb auch nicht, Political Correctness als konservativen Kampf­begriff, als reine Erfindung oder Konstruktion abzutun. Bei dem, was gerne als Political Correctness delegitimiert wird, handelt es sich oft um reale und legitime politische Gleich­stellungs­ziele. Diese müssen also auch als solche verteidigt werden.

All das entlässt progressive Kräfte oder diejenigen, die Marginalisierung und Gewalt erfahren, aber nicht aus der Verantwortung, selbst bestimmte Regeln in diesem Kampf um Gerechtigkeit einzuhalten und für die Einhaltung dieser Regeln zu sorgen. Es entlässt sie nicht aus der Verantwortung, selbstkritisch immer wieder neu die Wahl der eigenen Mittel zu reflektieren.

PS: Während ich diesen Text schreibe, hat der «Welt»-Kolumnist Don Alphonso die Politik­wissenschaftlerin und Rechts­extremismus-Expertin Natascha Strobl in mehreren Texten mittels Verzerrungen und auch Falschmeldungen an den Pranger gestellt. Was folgt, sind unzählige Gewalt­drohungen gegen Strobl aus rechten und rechts­extremen Kreisen. Ihre Kinder werden angegangen, ihr verstorbener Vater verspottet. Das war dem Chef­redaktor der «Welt»-Gruppe, Ulf Poschardt, keinen Hinweis wert. Die Kritik an Don Alphonso hingegen geisselte er als «Cancel-Culture».