«Widerspruch ist patriotisch»: Der Tod der Bundes­richterin Ruth Bader Ginsburg mischt den US-Wahl­kampf auf. Spencer Platt/Getty Images

«Was ist Vermögenden wichtiger: Geld oder Macht? Die Antwort ist: Macht»

Wo stehen die USA, vor der Wahl und nach dem Tod der obersten Richterin Ruth Bader Ginsburg? Welche Reformen braucht das Land? Harvard-Professorin Danielle Allen über Gleichheit und Gerechtigkeit in einer diversen Gesellschaft.

Ein Interview von Daniel Graf, 26.09.2020

Frau Allen, was bedeutet der Tod von Ruth Bader Ginsburg für die USA und für die anstehende Wahl?
Er bedeutet ganz offenkundig noch eine Heraus­forderung mehr inmitten einer ohnehin schon extrem schwierigen Situation. Sie war eine heraus­ragende Juristin, und die Lücke, die sie hinterlässt, wird so oder so kaum zu füllen sein. Für das Land jedenfalls ist es dringend an der Zeit, unsere Justiz und die Wahl unserer Richterinnen zu entpolitisieren. Das ist eine schwierige Aufgabe in dieser Ausgangs­lage. Ein entscheidender Schritt nach vorne wäre erreicht, wenn wir von einer lebens­langen Amtszeit zu einer Amtszeit von 18 Jahren übergingen. Und hier könnten die Richter selbst aktiv werden: Sie könnten freiwillig einer Amtszeit­begrenzung auf 18 Jahre zustimmen.

Warum gerade 18 Jahre?
Bei neun Richterinnen und Richtern hätten wir dann die Regel: Alle zwei Jahre wird ein Platz neu vergeben. Jeder Präsident würde pro Legislatur zwei Richter­stühle neu besetzen, käme also in einer vier­jährigen Amtszeit automatisch zwei Mal zum Zug – und wir könnten die Politisierung aus diesem Vorgang heraus­nehmen. Das würde dann auch die Wahlen entlasten. Natürlich wäre dafür ein bemerkens­werter Akt der Freiwilligkeit seitens der Richterinnen nötig. Aber immerhin wurde dieses Land von einem wie George Washington gegründet, der nach zwei Amts­zeiten freiwillig zurücktrat, um einen Präsidenten zu ernennen. Ich denke, es ist ein Zeitpunkt erreicht, an dem wir eine Verfassungs­änderung gut gebrauchen könnten. Wir brauchen jetzt ein paar Verfassungs-Helden! Und am besten sollten die acht verbleibenden Richterinnen und Richter diese Rolle über­nehmen, indem sie selbst ihre Amtszeit begrenzen.

Ich frage Sie auch deshalb nach Ruth Bader Ginsburg, weil Fragen gleicher Rechte in Ihrer beider intellektueller Arbeit zentral sind. Kannten Sie sie persönlich?
Leider hatte ich nie das Glück. Ich kenne allerdings viele Menschen, die eng mit ihr zusammen­gearbeitet haben. Deshalb habe ich in den letzten Tagen viele Schilderungen von Freunden über sie gehört. Sie hat eine klaffende Lücke in den Herzen der Menschen hinter­lassen. Und natürlich auch eine klaffende Lücke in unserem Justizsystem.

«Wir brauchen jetzt ein paar Verfassungs-Helden!»: Politik­wissenschaftlerin Danielle Allen.Graeme Robertson/eyevine/laif

Nach der Präsidentschafts­wahl 2000, als die Entscheidung Bush gegen Gore vor dem höchsten Gericht landete, stimmte Bader Ginsburg in einem berühmten Dissens gegen die Mehrheits­meinung im Supreme Court, ebenso wie drei weitere liberale Richter. Mit einem Ergebnis von 5:4 aber entschied das Gericht dann de facto die Wahl, Bush wurde Präsident. Glauben Sie, die Wahl wird auch dieses Mal vor Gericht entschieden?
Nein, letztlich glaube ich das nicht. Es wird einen schwierigen Wahl­ausgang geben, und vermutlich wird es Wochen dauern, bis wir das Ergebnis kennen, auch wegen der Brief­wahl. Aber ich bezweifle, dass es am Ende auf eine hart umkämpfte Entscheidung in einem einzelnen Bundes­staat hinausläuft. Der Ausgang ist offen, aber ich gehe davon aus, dass das Pendel klar in die eine oder andere Richtung ausschlagen wird.

Lassen Sie uns auf die Wahlen noch einmal zurück­kommen, wenn wir über Ihr Konzept von «politischer Gleichheit» gesprochen haben. Öffentliche Debatten über Gleichheit drehen sich normaler­weise um wirtschaftliche Ungleichheit oder um Gleichheits­fragen zu race, class und gender. Warum stellen Sie die «politische Gleichheit» ins Zentrum Ihrer Arbeit?
Aus zwei Gründen: einem intrinsischen und einem instrumentellen. Der intrinsische ist, dass menschliches Wohl­ergehen in meinen Augen massgeblich von gleich­berechtigter politischer Teilhabe abhängt. Wir alle brauchen nicht nur die Freiheit, das eigene Leben, zum Beispiel im Privaten, selbst­ständig zu gestalten. Sondern auch empowerment in dem Sinne, dass wir in die kollektiven Entscheidungs­findungen einbezogen sein wollen – um nicht immer nur der Herrschaft anderer unterworfen zu sein. Das ist der intrinsische Grund.

Und der instrumentelle?
Der instrumentelle Grund lautet: Politische Gleichheit ist die Voraussetzung, egalitäre Ergebnisse in allen anderen Bereichen zu erzielen, etwa im wirtschaftlichen und im sozialen Bereich. Im Grunde geht es doch um diesen Kerngedanken! Wie wichtig politische Gleichheit ist, kann man übrigens erkennen, wenn man sich klarmacht: Die Wohl­habendsten dazu zu bringen, Geld abzugeben, etwa in Form von Wohlfahrt oder Philanthropie, ist viel einfacher, als sie zu einem Macht­verzicht zu bewegen. Das sagt doch im Grunde alles. Was ist den Vermögenden wichtiger: Geld oder Macht? Die Antwort ist: Macht. Deshalb stelle ich die politische Gleichheit in den Mittelpunkt all meiner Arbeit.

Zur Person

Danielle Allen (*1971) ist Politik­wissenschaftlerin und Altphilologin. In Harvard lehrt sie als University Professor Politische Theorie und steht dem Edmond J. Safra Center for Ethics als Direktorin vor. Ihr Forschungs­schwerpunkt liegt auf der Frage politischer Gleichheit von der Antike bis heute. Für ihr Werk erhielt sie etliche Auszeichnungen, zuletzt den mit 500’000 Dollar dotierten John-W.-Kluge-Preis für herausragende Arbeiten in den Geistes- und Sozial­wissenschaften. 2017 hielt sie auf Einladung von Axel Honneth die Frankfurter Adorno-Vorlesungen, aus denen ihr neuestes Buch mit dem Titel «Politische Gleichheit» hervorging.

Die lange Ideen­geschichte der Gerechtigkeit hat in den westlichen Demokratien eine ihrer einfluss­reichsten Ausformulierungen in der «Theorie der Gerechtigkeit» von John Rawls gefunden. Nun sagen Sie: Ausgerechnet beim wichtigsten Punkt lag Rawls falsch. Inwiefern?
Eine der Herausforderungen, wenn man über Rawls schreibt, liegt darin, dass es zwar seine erklärte, aber letztlich nicht ganz eingelöste Absicht war, zwei Arten von Grund­freiheiten gleich grosse Bedeutung beizumessen: den «negativen Freiheiten», zum Beispiel der Meinungs- und der Gewissens­freiheit, und den «positiven Freiheiten».

Ein von Isaiah Berlin geprägtes Begriffspaar.
Genau. Isaiah Berlin konkretisierte damit eine Unter­scheidung, die dem Liberalismus des 19. Jahr­hunderts entstammt: einerseits Freiheit «von» der Einmischung anderer (deshalb «negative» Freiheiten; Anm. d. Red.), andererseits Freiheit «zu» etwas, Freiheit zu politischer Mitbestimmung beispiels­weise. Rawls also wollte beide Freiheits­konzepte wieder zusammen­führen und sie als gleich ursprünglich und wichtig behandeln. Bei genauer Betrachtung verfehlt er allerdings seine Absicht im Lauf seiner Argumentation.

Warum?
An Schlüsselstellen, wo beide Arten von Grund­freiheiten miteinander in Konflikt geraten, gibt er den negativen Freiheiten den Vorzug, nicht den politischen Mitbestimmungs­rechten. Und meine Herangehens­weise war nun: Lasst uns wirklich ernst machen mit dem Versuch, beide Arten von Grund­freiheiten gleich zu gewichten. Was heisst es, wenn wir das wirklich zu Ende denken? Und dann landet man etwa bei ökonomischen Fragen nicht mehr zuerst bei der Umverteilung, sondern bei Fragen der Machtverteilung.

Sie entwickeln dieses Argument nicht auf rein theoretischer Ebene, sondern mit Blick auf konkrete, reale Gesellschaften. Eine weitere Kritik an Rawls lautet dann: Seiner Vorstellung liegt das Modell einer weitest­gehend homogenen Gesellschaft zugrunde – aber unter Bedingungen grosser gesellschaftlicher Diversität ist seine Theorie nicht mehr adäquat. Wieso nicht?
Das führt zurück auf das Thema power sharing und wie schwierig das ist. Macht­fragen sind in jedem politischen Kontext kompliziert, selbst ein homogenes Land kann zwei politische Parteien haben, die sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Trotzdem denke ich, politischer Dissens und Konflikt ist in einer heterogenen Gesellschaft sichtbarer. Die kollektiven Entscheidungen bedeuten, dass den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sichtbar Beschränkungen auferlegt werden. Unter diesen Bedingungen der Heterogenität ist es umso wichtiger, Mechanismen und Praktiken von geteilter Macht zu finden. Und zu Entscheidungen zu kommen, in die all die unter­schiedlichen Perspektiven eingegangen sind.

Sie haben einen Begriff für diese Fragen geprägt, der auch gewisser­massen als Lackmus­test fungiert: «Differenz ohne Herrschaft». Rein vom Namen her erinnert das selbst noch ein wenig an die negativen Freiheiten, im Sinne von «Freiheit von Herrschaft». Was aber meint «Differenz ohne Herrschaft»?
Stellen wir das Konzept «Freiheit von Einmischung» dem Konzept «Differenz ohne Herrschaft» gegenüber. Mit «Freiheit von Einmischung» ist in der Regel gemeint: Der Staat soll den Einzelnen einfach in Ruhe lassen. Das Ideal aus dieser Perspektive wären gewisser­massen null Gesetze in einem bestimmten Bereich. «Differenz ohne Herrschaft» geht genau in die andere Richtung. Sie begreift das Recht als Schutz­instrument. Die Frage bei einem Gesetz ist doch, ob es auf legitimen Gründen fusst. Kam es auf legitimem Weg zustande? Erlegt es uns Verpflichtungen auf, die weder willkürlich sind noch unvereinbar mit dem Schutz der bestehenden Rechte und dem empowerment der Menschen? Wenn all das erfüllt ist, würde man bei den sozialen Unter­schieden, bis zu einem gewissen Grad auch den hierarchischen Strukturen, die in einer Gesellschaft bestehen, nicht von Herrschaft sprechen.

Es geht also darum, Differenz zu bejahen, aber sie von Herrschaft zu entkoppeln?
So ist es. Der zentrale Gedanke dabei ist: Freiheit generiert immer Unter­schiede. Darum geht es doch: Wenn wir frei sind und unser eigenes Leben gestalten, dann werden sich am Ende nicht alle für dieselben Dinge entscheiden. Die Diversität unserer Entscheidungen und Vorlieben bringt automatisch auch Diversität in den sozialen Mustern mit sich. Ziel ist es dann, zu gewährleisten, dass die Unter­schiede in den Mustern sich nicht mit Herrschafts­strukturen verbinden.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel geben?
Wenn man sich den Straf­vollzug in den USA anschaut, stösst man auf zwei verschiedene Disparitäten: Männer sind gegenüber Frauen über­repräsentiert. Aber auch People of Color sind im Verhältnis zu weissen Amerikanern überrepräsentiert. Jedes dieser Beispiele verlangt nach einer Diagnose: Ist der jeweilige Unter­schied ein Effekt von Herrschafts­strukturen? Im Falle des Unterschieds zwischen den Geschlechtern ist das nicht der Fall: Herrschafts­strukturen sind nicht die Ursache für die Über­repräsentation von Männern. Bei People of Color aber sind Herrschafts­strukturen die Ursache. Es gibt eine ganze Reihe von Mustern systematischer Ungleich­behandlung, die das zeigen. In einem solchen Fall braucht es dann politische Massnahmen, um jenen Herrschafts­praktiken entgegenzuwirken.

Rassismus, Entfremdung und das Vorenthalten politischer Rechte: Der amerikanische Strafvollzug ist ein Beispiel für die Herrschafts­strukturen. Tony Avelar/The Christian Science Monitor/Getty Images

Was sind die Ursachen, die in diesem Fall der Dominanz zugrunde liegen? Heisst die Antwort Rassismus?
Das ist ein Teil der Antwort. Das amerikanische Straf­vollzugs­system folgt einem Prinzip der Entfremdung: Der Zweck von Sanktionen ist es, die Menschen ausserhalb des Gemein­wesens zu stellen. In Europa, in den Niederlanden etwa, ist das sehr anders. Man folgt einem Prinzip der sozialen Einbindung. Sinn und Zweck der Sanktionen ist es, aufs Neue tragfähige soziale Bindungen zu errichten: für das Opfer, für die Gemeinschaft im Ganzen, für den Täter. In den USA verbindet sich der Rassismus parasitär mit diesem Prinzip der Entfremdung. Die lang­jährigen Mechanismen und Verhaltens­weisen des Rassismus haben ebenfalls mit Entfremdung zu tun: Man verbannt jemanden aus der Gemeinschaft. Und so kommen beide Dinge zusammen. Den Straf­vollzug zu reformieren, ist deshalb auch ein Teil des Kampfes gegen Rassismus. Aber auch unabhängig davon geht es darum, das Entfremdungs-Prinzip durch ein Resozialisierungs-Prinzip zu ersetzen.

Um noch einmal auf das Konzept «Differenz ohne Herrschaft» zurück­zukommen. Muss man das als eine regulative Idee verstehen: ein Tool, um Bestehendes zu überprüfen, und eine Richt­schnur für künftige Entscheidungen?
Genau darum geht es. Es soll ein Diagnose­instrument sein, aber auch ein Rahmen, in dem politische Massnahmen entwickelt werden. Wenn wir auf problematische Muster von Unter- oder Über­repräsentation stossen, dann sollte die unmittelbare Antwort nicht lauten: «Führt Quoten ein!», um zum Beispiel ein ungleiches Geschlechter­verhältnis im Parlament auszugleichen. Stattdessen sollten wir die zugrunde liegenden Muster und Herrschafts­strukturen genau analysieren, die zu dieser Ungleichheit geführt haben – und dann politische Massnahmen ergreifen, um der Entstehung dieser Dominanz entgegen­zuwirken. Mein durchaus umstrittenes Argument lautet hier: Quoten können ein Pflaster auf einer Verletzung sein, aber sie verändern die Ursachen der Verletzung nicht. Und mich interessiert die Veränderung der Ausgangs­bedingungen, weil wir schon von Beginn an egalitäre Bedingungen brauchen.

Nach einem ähnlichen Muster argumentieren Sie bei der Steuer­politik. Wenn ich richtig sehe, sind Sie nicht gegen Umverteilung, aber gegen eine Politik, die diesen Aspekt zum Ausgangs­punkt ihrer Überlegungen macht?
So ist es, ja. Das Ziel lautet, die Aufmerksamkeit auf die Strukturen und Produktions­prozesse zu lenken und über Macht­verteilung in der Wirtschaft nachzudenken. Es geht also um Arbeit­nehmer­rechte, um Mitbestimmung bei der Entscheidungs­findung in Unter­nehmen, um die Art der Unter­nehmens­führung, um die Frage: Wie schafft man gute Jobs? Eben nicht irgend­welche, sondern gute! Und das sind solche, die Mitbestimmung und empowerment beinhalten. Wenn man diese Punkte bedacht hat, dann stehen natürlich auch noch Umverteilungs­fragen an, damit sicher­gestellt ist, dass angemessen in Bildung, öffentliche Wohlfahrt und soziale Dienste investiert wird.

«Differenz ohne Herrschaft» ist eine faszinierende Idee, die alle meine Sympathien auf ihrer Seite hat. Trotzdem habe ich mich beim Lesen Ihres Buches die ganze Zeit gefragt: Wie kompatibel ist das mit der Welt, die wir haben, samt dem gegenwärtigen Populismus und den Auswirkungen des Spät­kapitalismus? Trump und viele seiner Unter­stützer würden vermutlich sagen: Nun, in der Politik geht es eben nicht um Gerechtigkeit, sondern um die Durchsetzung von Eigen­interessen, und sei es nach dem Prinzip «The winner takes it all». Was halten Sie dagegen?
Die Frage, was überhaupt möglich ist, ist eine politische, in der Tat. Für mich ist die Schlüssel­frage zunächst: Können wir etwas zur Entstehung einer politischen Kultur beitragen, deren führende Vertreterinnen bereit sind, solche neuen Wege zu gehen? Dann ist die zweite Frage: Wie kann man diese politischen Kräfte mit den passenden Instrumenten ausstatten, um gegen die Art von ausschluss- und herrschafts­orientierter Politik anzukämpfen, für die eine Figur wie Präsident Trump steht? Und da gibt es etliche Ansatz­punkte. Zu den derzeitigen Aufgaben gehört ganz sicher, einer sehr unzufriedenen politischen Mitte in diesem Land wieder ein Angebot zu machen: Menschen, die sich bisher mit keiner der Parteien identifizieren. Für inspirierende Politiker liegt hier eine mächtige Ressource. Aber sie müssen eine Vision anbieten und die Aufmerksamkeit derer neu ausrichten, die zuletzt Trump unterstützt haben. Letzteres halte ich für den schwierigeren Teil. Aber ein echtes Engagement für einen Wieder­aufbau der Wirtschaft etwa im sogenannten Rust Belt, ein Versuch, direkter mit den dortigen Gemeinden zusammen an einer sozial inklusiven Vision zu arbeiten, das scheint mir ein möglicher Weg nach vorne.

Wir haben in den letzten Jahren eine enorme wirtschaftliche Ungleichheit erlebt, sowohl innerhalb der Gesellschaften wie auch zwischen den Ländern weltweit. Die Corona-Krise hat ohnehin schon bestehende Unter­schiede noch einmal dramatisch verschärft. Wie ist «Differenz ohne Herrschaft» überhaupt denkbar innerhalb des aktuellen kapitalistischen Rahmens?
In den letzten Jahrzehnten herrschte ein neoliberales, techno­kratisches Paradigma, mit dem man uns auf die Frage geeicht hat: Wie können wir die Lösung für dieses Problem privatisieren? Es kommt also nicht aus dem Nichts: Dieses Paradigma hat sich über 30 Jahre lang angebahnt, und jetzt ist es schon 30 Jahre am Wirken. Aber ich bin der vollen Überzeugung, dass gerade etwas Neues entsteht. Es werden kollektiv enorme intellektuelle Anstrengungen unter­nommen, zahlreiche Netzwerke arbeiten an neuen Visionen für die politische Ökonomie. All diese Menschen denken auch darüber nach, wie sich die Erkenntnisse in konkrete Handlungs­empfehlungen für Entscheidungs­trägerinnen und für ganz normale Bürger übersetzen lassen.

Um auf den Anfang unseres Gesprächs zurück­zukommen: Wir haben über politische Gleichheit und Gerechtigkeits­fragen innerhalb der Gesellschaft diskutiert. Was aber ist mit dem US-Wahl­system selbst? Ist es ein gerechtes System?
Ich hatte das Glück, Co-Vorsitzende einer Kommission der American Academy of Arts and Sciences zu sein. Im Juni veröffentlichten wir einen Bericht mit dem Titel «Our Common Purpose. Reinventing American Democracy for the 21st Century». Darin plädieren wir für eine grund­legende Neugestaltung des Wahl­systems. Wir schlagen eine Wahl­pflicht wie in Australien vor, sprechen uns für automatische Wähler­registrierung aus, plädieren dafür, den Wahltag zu einem nationalen Feiertag zu machen und vieles mehr.

Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof: Am 12. Dezember 2000 entschied das Gericht die US-Präsidentschaftswahl – zugunsten des Republikaners George W. Bush und gegen den Demokraten Al Gore. David Hume Kennerly/Getty Images

Automatische Wähler­registrierung deshalb, weil in der Geschichte der US-Wahlen immer auch verschiedene Tricks angewandt wurden, schwarze Wählerinnen und Wähler von der Registrierung abzuhalten?
Ganz genau. Die automatische Wähler­registrierung und die allgemeine Wahl­pflicht sind eine Möglichkeit, dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Ein Wahl­volk zu sein, bedeutet Wahl­recht für alle, was sonst? Darüber sollte gar nicht erst diskutiert werden müssen. Die Devise müsste vielmehr lauten: selbstverständlich! Und jetzt lassen Sie unsere Energie wieder auf politische Fragen richten, faire Auseinander­setzungen darüber, was dieses Land in Zukunft anpacken sollte. Und es mag vielleicht utopisch klingen, aber die Wahrheit ist: Es gibt eine breite Zustimmung, eine beträchtliche Reform­energie im Land. Diese Dinge liegen also keineswegs ausserhalb des Möglichen.

Wir haben über Ruth Bader Ginsburg und ihren Dissens nach der Präsidentschafts­wahl 2000 gesprochen. Nach ihrem Tod nominiert nun Donald Trump seine Nachfolge­kandidatin, und wie die Dinge derzeit stehen, werden die Republikaner noch in diesem Jahr, wahrscheinlich sogar noch vor dem Wahltag, für ihre Amts­einsetzung sorgen. Exakt die gleiche Institution, der Supreme Court, könnte aber bei der Entscheidung der Präsidentschafts­wahlen noch eine Rolle spielen, wie das schon 2000 der Fall war. Funktioniert Checks and Balances noch?
Wir befinden uns definitiv an einem heiklen Punkt. Es gibt zahlreiche Schwach­stellen in unserem System der Checks and Balances, die Korrekturen nötig haben. Ich glaube also in der Tat, dass wir mit Problemen kämpfen. Es sind allerdings ernsthafte Bemühungen im Gange, die Republikaner dazu zu bewegen, nicht noch vor der Wahl über eine potenzielle Kandidatin abzustimmen. Da ist sicher das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wir werden sehen, ob die Gespräche Erfolg haben. Und wie gesagt, der Supreme Court selbst hat es in der Hand, die eigenen Amts­zeiten zu begrenzen. Auch das würde helfen.

Auch über das Wahlmänner­system wird viel diskutiert, weil es relativ gesehen die Stimmen in kleinen, ländlichen Staaten wie Wyoming höher gewichtet. Rein theoretisch könnte man sagen: Das ist nicht unbedingt ein Problem, sondern eben Föderalismus. Empirisch wissen wir aber, dass das zur Privilegierung weisser Wähler­stimmen aus den ländlichen Gebieten führt, weil Angehörige der Minderheiten über­proportional in den bevölkerungs­reichen Staaten leben. Fällt das auch in den Bereich politischer Ungleichheit in Ihrem Sinn des Wortes?
Das ist eine Form ungleicher Repräsentation, ja. Und die Lösung dafür lautet: die Mitgliederzahl im Repräsentantenhaus erhöhen. Das wäre ein Kompromiss zwischen denen, die das Wahlmänner­system abschaffen, und jenen, die es behalten wollen. So könnte man die Unverhältnismässigkeit zwischen den ländlichen und den bevölkerungs­reichsten Staaten wieder in eine angemessene Balance bringen.

Welcher Zeitrahmen schwebt Ihnen für all diese Veränderungen vor?
O Gott! Also in diesem Bericht haben wir uns selbst 2026 als Ziel­marke gesetzt: Bis dahin soll es signifikante Fortschritte bei allen unserer 31 Empfehlungen geben. Das wäre dann zum 250. Jahres­tag der Vereinigten Staaten.

Klingt ziemlich ehrgeizig!
Es arbeiten aber auch sehr viele Menschen am Erreichen dieser Ziele. Deshalb setze ich weiterhin darauf, dass es uns gelingen wird, in Sachen Transformation zu liefern.

Zum Weiterlesen

Danielle Allen: «Politische Gleichheit». Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2017. Aus dem amerikanischen Englisch von Christine Pries. Suhrkamp, Berlin 2020. 240 Seiten, ca. 38 Franken.

Danielle Allen: «Cuz. An American Tragedy». W. W. Norton & Company, 2017. 256 Seiten, ca. 31 Franken.

John Rawls: «Eine Theorie der Gerechtigkeit». Aus dem amerikanischen Englisch von Hermann Vetter. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979 (orig. 1971). 688 Seiten, ca. 35 Franken.

Isaiah Berlin: «Freiheit. Vier Versuche». Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1995 (orig. 1969). 336 Seiten, ca. 29 Franken.