Die eiserne Faust ist nervös
Seit in Ägypten wieder die Generäle an der Macht sind, herrscht bleierne Stille im Land: Zehntausende sind inhaftiert, NGOs werden gegängelt, die Medien gleichgeschaltet. Doch die massive Repression kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele mit der Politik der Regierung unzufrieden sind. Und dass den Menschen statt Würde nur noch die Wut bleibt.
Von Amir Ali, Monika Bolliger (Text) und Heba Khamis (Bilder), 14.12.2019
Er gibt sich keine Mühe, so zu tun, als hätte er keine Angst. «Ich bekomme SMS, in denen mir damit gedroht wird, dass ich bald verhaftet werde. Viele meiner Freunde sind bereits im Gefängnis. Es ist Furcht einflössend», sagt Khaled Dawoud. Dann schlürft er sein Kaffeetässchen aus und zündet sich noch eine Zigarette an. Es ist ein Nachmittag Ende August, draussen brennt die Sonne aus Kairos wolkenlosem Spätsommerhimmel auf den Nil, der vor dem Einkaufszentrum im Stadtteil Bulaq dahinfliesst. Drinnen, im Café im Erdgeschoss, wo das Tageslicht ausgesperrt bleibt, lässt der Ventilator den Zigarettenrauch tanzen. Khaled Dawoud weiss, dass er jederzeit an der Reihe sein kann. Er spricht schnell, beinahe gehetzt. Als wüsste er, dass seine Zeit abläuft. Als wollte er möglichst viel sagen, solange er noch kann.
Auf den Tag genau einen Monat nach dem Gespräch in der Shoppingmall wird es so weit sein. Wird der Name Khaled Dawoud auf einer Liste mit fast 3000 anderen stehen, die nach der jüngsten Protestwelle in Präventivhaft genommen wurden. Mindestens 60’000 politische Gefangene sitzen in Ägyptens Gefängnissen. Ein Umstand, den Dawoud wie vieles andere auch offen kritisierte, als einer der Letzten im Land.
«So viele tragische Geschichten», sagt Dawoud, «so viele junge Menschen, die man mit Extremisten und Terroristen zusammen in eine überfüllte Zelle sperrt und misshandelt. In was für einem psychischen Zustand kommen die Leute da wohl wieder raus?» Und dann stellt er eine rhetorische Frage an den Präsidenten: «Versuchst du, dir mehr Feinde zu machen?»
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Khaled Dawoud spricht fliessend Englisch, aus neun Jahren Tätigkeit als Nachrichtenkorrespondent in den USA ist ein amerikanischer Akzent hängen geblieben. Als 2011 der Aufstand gegen Präsident Hosni Mubarak losbrach, kehrte er nach Ägypten zurück. «Da war so viel gute Energie, und den Medien ging es wunderbar! Ab dem Tag, an dem Mubarak stürzte, hatten wir sehr viel Freiheit in der Berichterstattung. Die Auflagen schnellten in die Höhe, weil die Leute endlich etwas Richtiges zu lesen hatten», sagt Dawoud, der sich nach der Revolution auch der säkularen Dustour-Partei anschloss, die der Nobelpreisträger Mohammed al-Baradei begründet hatte.
Die Medien wurden glaubwürdig, neue Parteien bildeten sich, NGOs nahmen ihre Arbeit auf, und erstmals in der Geschichte des Landes gab es unabhängige Gewerkschaften: Wenn Dawoud von der Zeit direkt nach Mubaraks Sturz spricht, dann ist für einen Augenblick die Hoffnung von damals spürbar, der Glaube daran, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat im bevölkerungsreichsten arabischen Land möglich sind.
Mit einem Massaker an die Macht
«Niemand aus meiner Generation wird euch sagen, dass sein Leben 2011 nicht grundsätzlich auf den Kopf gestellt wurde», sagt Loay, ein 32-jähriger Menschenrechtsaktivist, den wir einige Tage später in Downtown Kairo treffen. «Plötzlich waren all diese Strassen voll mit Menschen. Es gab viele Hoffnungen und Träume. Wir wollten eine gerechte Verteilung der Ressourcen und eine Reform der Sicherheitsapparate, die auf Respekt gegenüber dem Bürger und auf Rechtsstaatlichkeit basiert», erinnert er sich. «Es waren unvergessliche Momente. Leider ist es uns nicht gelungen, all dies richtig zu nutzen.»
Die Revolutionsbewegung von 2011 ist seither brutal erstickt worden. Schon bald nachdem die Muslimbrüder die ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gewonnen hatten, legten sie immer autoritärere Züge an den Tag, erwiesen sich als inkompetent, machthungrig und ideologisch verblendet. «Sie bereiteten sich darauf vor, einen religiösen Staat aufzubauen», ist Khaled Dawoud überzeugt. Im Hintergrund sabotierten Teile des alten Regimes die neue Regierung: Sie hörten auf, für Sicherheit zu sorgen, blockierten die Treibstoffversorgung, verweigerten der Regierung die Kooperation. Die Leute wurden bald müde vom Chaos und von der wirtschaftlichen Instabilität, insbesondere deshalb, weil die Touristen ausblieben, die vorher eine der wichtigsten Einkommensquellen des Landes waren.
Im Sommer 2013 stürzte die Armee, unterstützt von Massenprotesten, die Regierung der Muslimbrüder. «Es gab niemanden, der damals nicht an den Demonstrationen gegen Mursi dabei war», sagt der Menschenrechtsaktivist Loay über sein Milieu der progressiven, säkular orientierten Aktivistenkreise. Doch die Armee ging mit brutalster Gewalt vor: Bei der Auflösung von zwei Protestlagern in Kairo töteten die Sicherheitskräfte über tausend Anhänger der Muslimbrüder.
«Für mich ist das Massaker der Beginn von Sisis Herrschaft», sagt Loay. Der heutige Präsident Abdel Fattah al-Sisi war damals Armeechef. «Die Gründung der Sisi-Republik begann damals, dieses verrückte, aggressive Verhalten des Staates gegen die Bevölkerung», meint der Menschenrechtler, der nach dem Putsch insgesamt drei Jahre inhaftiert war, wegen der Teilnahme an Protesten.
Die Hoffnung ist besiegt
Schon bald nach dem Putsch, den Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate finanziell und politisch unterstützten, wandte sich das Regime zusehends gegen jegliche unabhängige politische Aktivität. Unter Sisi wurden die Gesetze so verschärft, dass jede Kritik an der Regierung zu einem gefährlichen Unterfangen geworden ist. Wer an unbewilligten Demonstrationen teilnimmt, dem drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis.
Dutzende Blogger und Journalistinnen sind in Haft, Hunderte Internetseiten blockiert. Aktivisten werden mit Ausreiseverboten belegt und die Bankkonten von NGOs blockiert. Tausende junge Leute, die 2011 gegen Langzeitherrscher Mubarak demonstriert haben und später die Armee beim Putsch gegen die Muslimbrüder unterstützten, sitzen heute im Gefängnis.
Seit Sisis Machtübernahme hat sich zudem die Praxis des Verschwindenlassens etabliert, bei der Menschen nach ihrer Festnahme wochenlang ohne Kontakt zu ihrem Umfeld gefangen gehalten werden und die Behörden auch auf Anfrage keine Auskunft zu ihrem Verbleib geben. Über 1500 solcher Fälle wurden in den ersten fünf Jahren Sisi dokumentiert.
Für abweichende Meinungen ist kein Platz mehr. Im April wurden zehn Mitglieder von Khaled Dawouds Dustour-Partei verhaftet – bloss weil sie sich gegen eine Verfassungsänderung engagiert hatten, mit der Präsident Sisi seine Amtszeit verlängert hat.
Dann kam es im Juni erneut zu Verhaftungen, als Dustour-Mitglieder zusammen mit gleichgesinnten Parteien laut über eine Koalition nachdachten, um bei den nächsten Parlamentswahlen von 2020 gemeinsam anzutreten. Sie wollten sich «Koalition der Hoffnung» nennen. Nach den Verhaftungen verkündete ein offizielles Communiqué ohne jede Ironie: «Die Sicherheitskräfte haben den Plan der Hoffnung erfolgreich zerschlagen.»
Die im Land erhältlichen Medien sind derweil alle auf Regierungskurs eingeschwenkt. Mehrere Journalisten, mit denen wir gesprochen haben, berichten von direkten Anweisungen aus dem Sicherheitsapparat, die sie über eine Whatsapp-Gruppe erreichen. «Ein Freund von mir nennt den zuständigen Geheimdienstler den Chefredaktor Ägyptens», witzelt Khaled Dawoud.
Verhaftungen, Massaker, Justizwillkür, Zensur – Ägypten wird mit eiserner Faust regiert. Eine Faust, die bei den geringsten Anzeichen von Widerstand zu zucken beginnt. Und man wird den Eindruck nicht los, dass hier nicht nur Härte im Spiel ist, sondern auch eine gute Portion Nervosität. Als wüssten die Mächtigen genau, wie sehr sie an die Grenzen des Erträglichen gehen.
Ein Windstoss auf Youtube
«Brot, Freiheit und Würde» lautete der Slogan, der zugespitzt zusammenfasst, was die Menschen 2011 auf die Strasse trieb. Die Würde steckt im Brot und in der Freiheit. Würgt man das eine ab, muss wenigstens das andere da sein. Wer um das wirtschaftliche Überleben kämpft und nicht die Freiheit hat, sich gegen die äusseren Bedingungen zu wehren, dem bleibt statt Würde nur die Wut. Eine Wut, die vor sich hinschwelt, bis ein Windstoss sie entfacht.
Im September war dieser Windstoss ein Ägypter namens Mohamed Ali, der in Spanien lebt und früher als Bauunternehmer für die Armee gearbeitet haben will. In mehreren Youtube-Videos beschuldigte er Sisi und seine Entourage. Es geht um den Bau von Villen und Palästen, um Korruption, die Vergabe staatlicher Aufträge und die Verschwendung öffentlicher Gelder im grossen Stil. Weitere Videos von ehemaligen Offizieren aus dem Sicherheitsapparat folgten, und als der Bauunternehmer dazu aufrief, gegen Präsident Sisi auf die Strasse zu gehen, folgten Tausende im ganzen Land seinem Ruf. Und Beobachter rieben sich die Augen und waren verwundert, dass sich im aktuellen politischen Klima überhaupt jemand auf die Strasse traute.
Dass sich der Unmut am Thema Bauen entzündete, ist kein Zufall. Während die Subventionskürzungen und die Inflation immer mehr Menschen im Land das Leben schwer machen, setzt die Regierung auf Prestigebauten: Für eine Riesensumme liess sie einen zweiten Suezkanal bauen, der nur einen Bruchteil des einst versprochenen Gewinns abwirft; Paläste, eine neue administrative Hauptstadt, neue Satellitenstädte und Gated Communitys werden aus dem Boden gestampft. Einzig vom Ausbau des Strassennetzes und von einer verbesserten Stromversorgung profitieren breitere Bevölkerungsteile.
Die jüngsten Proteste wurden schliesslich im Keim erstickt, Tausende wurden verhaftet – unter ihnen auch Khaled Dawoud oder die Menschenrechtsanwältin Mahinur al-Masri, die Demonstranten in Haft verteidigte. Die Tatsache, dass die Proteste überhaupt für kurze Zeit möglich waren – einzelne Demonstrationen wurden über eine Stunde toleriert –, hat auch Spekulationen befeuert, wonach Teile des Sicherheitsapparates gegen Präsident Sisi rebelliert haben könnten. Gerüchte über Konflikte innerhalb des sogenannten deep state Ägyptens, jenes undurchsichtigen Geflechts aus Sicherheits- und Wirtschaftseliten, die im Hintergrund den Ton angeben, sind nichts Neues. Aber hier blickt niemand hinter die Kulissen.
Pasta von den Generälen
Einer Sache sind sich jedoch viele Ägypterinnen sicher, vom Tagelöhner über die Journalistin bis hin zum Geschäftsmann: Die Tentakel der Armee, die immer schon grosse Teile der ägyptischen Wirtschaft kontrollierte, reichen immer weiter. Mit Namen will niemand zu diesem Thema zitiert werden, selbst die mutigsten Regimekritiker winken ab.
«Wenn Sie möchten, dass dies eine offene Unterhaltung wird, dann lassen Sie meinen Namen aus dem Spiel», sagt der ältere Herr im dunklen Anzug, und lächelt freundlich hinter seinem massiven Holzschreibtisch. Der Unternehmer ist in der Nahrungsmittelbranche tätig, Import, Export und Produktion. Gut tausend Menschen arbeiten für ihn. Er empfängt in seinem Büro in einem gehobenen Stadtteil von Kairo, der Raum ist voll mit Mustern der Produkte, die er herstellt und vertreibt.
Als die Sekretärin den Tee gebracht hat, wirft der Chef einen Blick zurück.
Seit das Militär 1952 an die Macht gekommen sei, habe das ägyptische Pfund laufend an Wert verloren. Und auch wenn er es sich hier mit Ursache und Wirkung etwas einfach macht, ist klar, was er sagen will: Die Regierung glaube nicht an die Zivilgesellschaft. «Sie sind überzeugt, dass die Armee möglichst viel im Land kontrollieren soll. Die Attitüde hat sich in all den Jahren nicht verändert.» Seine Aufgabe sei es, Jobs zu schaffen. Und das Militär solle das Land schützen. Doch von dieser Rollenteilung sei nichts mehr übrig. «Wenn ich Hühnerfleisch importiere, zahle ich Zoll. Die Armee nicht. Meine Waren werden tage- und wochenlang am Zoll zurückgehalten, ihre nicht. Es gibt keinen fairen Wettbewerb», sagt er.
Mit einem direkten Draht in die Schaltzentrale der Macht betätigt sich das Militär in immer mehr Bereichen: So ist die Armee in vielen Fällen die Hauptauftragnehmerin und manchmal auch Teilhaberin bei Megaprojekten, etwa bei der neuen Hauptstadt; sie baut Strassen, besitzt Hotels, betreibt Landwirtschaftsbetriebe und die grösste Fischfarm im Nahen Osten. Ihre neun Pastafabriken produzieren jährlich 150 Tonnen Teigwaren. Letztes Jahr baute das Militär die grösste Zementfabrik des Landes, obwohl der Sektor bereits an einem Rückgang der Nachfrage leidet. Seit neustem ist die Armee im Filmproduktionsbusiness. Und sie verkauft billiges Fleisch, das sie aus dem Sudan importiert. Betriebe des Militärs sind befreit von Mehrwert-, Immobilien- und Importsteuern. Ihre Arbeitskräfte sind Soldaten und deshalb billiger als Lohnarbeiter.
Kein Raum für Kritik
Sein Hauptproblem als Unternehmer sei die Inflation, sagt der Geschäftsmann. Sie schleife die Kaufkraft der Ägypter. Was wiederum die Detailhändler trifft, die seine Abnehmer sind: «Manchmal warten wir monatelang darauf, dass unsere Abnehmer die Rechnungen zahlen», stöhnt er. Eigentlich, sagt der Patron, würde er sein Unternehmen gerne wachsen sehen. Stattdessen müsse er sich überlegen, wie er schrumpfen könne, ohne zu viel Schaden anzurichten. «Hat Ägypten Potenzial? Ohne Zweifel. Kann es Ägypten besser gehen? Ohne Zweifel. Haben die Leute ein besseres Leben verdient? Ganz klar», schliesst der Unternehmer seine Ausführungen ab.
Als Bürger bedauert er es, all diese Dinge nicht offen sagen zu können. Doch es gebe keinen Raum für Kritik, auch wenn die Absicht gut sei. «Kritik muss nicht heissen, dass ich gegen sie bin, aber das verstehen sie nicht.»
Der Journalist Khaled Dawoud war einer der letzten, die sich trauten, Präsident Sisi offen zu kritisieren. Wegen der Zensur im Inland tat er dies zuletzt über internationale Medien, trat bei der Deutschen Welle auf oder bei der BBC. Auch dort gab es Druck. Vor Interviewterminen, sagt Dawoud, hätten Geheimdienstler im Studio angerufen und damit gedroht, die Büros zu schliessen, falls er auf Sendung gehe.
Am 27. September hätte Dawoud per Telefon an einer Diskussionssendung des Senders France 24 teilnehmen sollen. Thema: «Proteste in Ägypten: Die Medien zwischen Verharmlosung und Alarmismus». Dawoud ging nicht ans Telefon, er war bereits seit zwei Tagen in Polizeigewahrsam. Was das für ihn heisst, weiss er nur zu gut. Über drei seiner Parteikollegen, die zum Zeitpunkt des Interviews bereits in Haft waren, sagte er: «Wir kämpfen nicht dafür, sie freizukriegen. Wir kämpfen dafür, ihnen einen Ventilator in die Zelle bringen zu dürfen, einen kleinen Kocher, ein paar Kleider.»
Diese Reportage wurde aus dem Rechercheetat der Project R Genossenschaft realisiert.
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.
Heba Khamis, geboren 1988, dokumentiert in ihren Langzeitprojekten vorwiegend heikle gesellschaftliche Themen, die mit dem Körper zu tun haben. In ihren jüngsten Arbeiten widmet sie sich etwa heterosexuellen Flüchtlingen in Deutschland, die auf den Schwulenstrich gehen. Khamis wurde für ihre Arbeit mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit einem World Press Photo Award.