Der zweite Frühling
Der zweite Frühling
Algerien und der Sudan, jetzt auch der Irak und der Libanon: In der arabischen Welt finden historische Aufstände statt. Die Hoffnung ist zurück, berührende Momente der Solidarität spielen sich ab, gesellschaftliche Grenzen werden überwunden. Doch wie lange wird das halten? Was haben die Menschen aus den Revolutionen von 2011 gelernt? Eine Reise vom Libanon in den Irak, in den Sudan und nach Ägypten – der Prolog.
Von Monika Bolliger, 29.11.2019
«Hast du auch Schals?», fragt die junge Frau vom Rücksitz des Motorrads in aufgekratzter Stimmung den Verkäufer und streckt ihre Hand nach der libanesischen Flagge aus, die sie soeben erworben hat. Schals dienen als Schutz gegen Tränengas, und der Verkäufer macht gerade das Geschäft seines Lebens. Die Flaggen in seinem Laden, der an einer Hauptstrasse Richtung Stadtzentrum liegt, sind ein Verkaufsschlager. Der Menschenstrom ins Zentrum reisst nicht ab.
Sie kommen an jenem Freitag Mitte Oktober aus allen Stadtteilen, zu Fuss und auf Motorrädern. Autos haben keine Chance, die Strassen sind mit brennenden Autoreifen und Mülltonnen blockiert. Fremde lachen einander komplizenhaft zu, es liegt eine Heiterkeit in der Luft, ein Gefühl der Hoffnung, ohne dass man wüsste, worauf genau.
«Das Volk will den Fall des Regimes!»
In der Nacht zuvor haben Randalierer Spuren hinterlassen: Die Fensterfront einer Bankfiliale ist zerschlagen, wie auch die Scheiben von Reklametafeln, die für Konsumgüter werben, die sich niemand mehr leisten kann. Das sonst so ausgestorbene Stadtzentrum erwacht zu neuem Leben. Die Menschen erobern die Stadt zurück und füllen Downtown Beirut, wo es kaum öffentlichen Raum gibt, dafür teure Geschäfte. Im Bürgerkrieg war das Niemandsland: Hier verlief einst die Trennlinie zwischen Ost- und Westbeirut, zwischen den vorwiegend christlichen und den muslimischen Vierteln. Später verwandelten Investoren die zerschossenen Ruinen des historischen Souks in eine sterile Einkaufsstrasse mit teuren Modelabels.
Jetzt versammeln sich auf dem Märtyrerplatz im Herzen der libanesischen Hauptstadt Abertausende Menschen aus verschiedensten Stadtteilen und gesellschaftlichen Schichten. Sie singen Lieder, skandieren «Revolution, Revolution!» oder einen eingängigen Reim, mit dem sie die Mutter von Aussenminister Gebran Bassil beschimpfen.
Und auch jener Schlachtruf des Arabischen Frühlings ist zu hören, den 2011 Demonstranten von Tunesien über Ägypten bis Syrien und in den Jemen im Chor wiederholten: «Das Volk will den Fall des Regimes!»
«الشعب يريد إسقاط النظام!»
Die Geburt der Gemeinschaft
Der Libanon ist das vierte arabische Land, das dieses Jahr einen Volksaufstand erlebt. Im Sudan und in Algerien haben Massenproteste bereits zum Sturz des Staatsoberhauptes und zur Einleitung eines Übergangsprozesses geführt. In Ägypten flackerte der Geist des Widerstands gegen Autokratie und Korruption im Herbst kurz auf, trotz heftiger Repression. Im Irak gehen die Menschen seit Anfang Oktober auf die Strasse. Und nun also im Libanon.
Nicht nur in Beirut, auch in anderen libanesischen Städten flammen die Proteste auf – Tripoli, Nabatiya, Tyrus, Sidon. An einem Sonntag im Oktober sind laut Schätzungen über eine Million Menschen auf der Strasse, ein Viertel der gesamten Bevölkerung.
Zum Motto der Proteste wird der Slogan «Kullon yani kullon!».
«كلن يعني كلن!»
«Mit allen sind alle gemeint!»
Die Demonstrationen richten sich gegen die ganze politische Elite. Viele Libanesen haben begriffen: An der Korruption, der fehlenden Infrastruktur, der astronomischen Staatsverschuldung, der Wirtschaftsmisere, der hohen Arbeitslosigkeit und an den explodierenden Lebenshaltungskosten sind alle mitschuldig – alle Parteien, alle Religionsgruppen und alle Schichten.
Politiker haben ihre Anhängerinnen lange gegeneinander ausgespielt. Christen gegen Muslime, Schiiten gegen Sunniten, Maroniten gegen Drusen. Jetzt machen die Leute das einfach nicht mehr mit. Sunniten in Tripoli skandieren Sprechchöre in Solidarität mit den Schiiten von Nabatiya. In Tyrus zerreissen schiitische Demonstranten Poster des schiitischen Anführers Nabih Berri und rufen «Diebe, Diebe!». Schwarz verschleierte, fromm aussehende Schiitinnen beschimpfen Berris Frau Randa mit einem Reim, der unter die Gürtellinie geht. Beirut schaut auf die zweitgrösste libanesische Stadt Tripoli, die lange den Ruf einer Salafisten-Hochburg hatte, und reibt sich die Augen: Zehntausende haben sich dort mit libanesischen Flaggen versammelt, singen die Nationalhymne und tanzen zu Technobeats.
Von Extremisten keine Spur.
Es ist ein berührender Moment der Einheit und gesellschaftlichen Solidarität im Libanon. Gesellschaftliche Barrieren fallen, die Menschen bewegen sich aus ihren engen Zirkeln von zankenden Parteien, Religionsgruppen und Klassen heraus, kommen zusammen und überwinden unsichtbare Linien, die nach dem Bürgerkrieg nie ganz verschwunden sind.
Das architektonisch aussergewöhnliche eiförmige Kinogebäude direkt am Märtyrerplatz in Beirut, das im Bürgerkrieg beschädigt und danach von den Behörden dem Zerfall überlassen worden war, ist jetzt ein Treffpunkt für politische Diskussionen. Der Platz vor dem egg, wie das Gebäude genannt wird, ist sauberer denn je. Jeden Morgen sammeln Aktivistinnen den Müll ein. Ein Phänomen, das auch bei anderen arabischen Volksaufständen zu beobachten war: Sobald die Leute an die Gemeinschaft glauben, entwickeln sie ein Verantwortungsbewusstsein und nehmen aufeinander Rücksicht.
Doch wie lange wird das halten?
Lehren aus Vergangenem
Wie bei allen Aufständen beginnen auch hier im Libanon die Versuche, die Menschen zu spalten, gegeneinander aufzubringen. Demonstranten mit Schlägertrupps einzuschüchtern, mit Scheinkompromissen zu besänftigen.
Noch lassen sich die Leute nicht austricksen, weder im Libanon, noch im Irak, noch in Algerien oder im Sudan. Es sind vier arabischsprachige Länder, auf die 2011 der Funke des Arabischen Frühlings nicht übergesprungen war. Doch sie erwecken den Eindruck, als hätten sie aus den Erfahrungen von damals gelernt.
Die Provokation von Gewalt, das Schüren religiöser Konflikte oder das blosse Entfernen des Kopfes eines Regimes – all das waren Faktoren, mit denen die Regimes 2011 ihren Machterhalt sicherten.
Die Demonstranten geben sich jetzt nicht mehr mit dem Rücktritt eines Staatsoberhauptes oder Regierungschefs zufrieden, sondern fordern einen Systemwechsel. Es gibt starken Widerstand gegen Spaltungsversuche. Im Irak und im Libanon richten sich die Demonstrationen dezidiert gegen ein politisches System, das Religionsgruppen gegeneinander ausspielt. Im Sudan wehrten sich die Demonstranten trotz brutaler Repression standhaft dagegen, Gewalt anzuwenden. Sudanesische Aktivistinnen erzählten in Gesprächen, dass das Regime während der Proteste im Frühling sogar mit Waffen beladene Fahrzeuge habe offen herumstehen lassen – weil sich die Repression gegen einen gewaltsamen Aufstand besser legitimieren liesse.
Aber niemand hat zu Waffen gegriffen. Selbst nach der blutigen Auflösung des Protestlagers vor dem Hauptquartier der Armee in Khartum am 3. Juni dieses Jahres änderte sich das nicht. Einen Monat später gingen die Sudanesen erneut zu Tausenden auf die Strasse – friedlich und furchtlos.
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Als wir das Flugzeug nach Kairo bestiegen, waren die Umstürze im Sudan und in Algerien ein paar Monate alt. Wir fragten uns: Könnte das ein Zeichen dafür sein, dass es andernorts in der arabischen Welt auch passiert? Kaum ein arabisches Regime, so schien uns, bietet derzeit den Menschen echte Perspektiven. Und fast überall ging und geht es abwärts, wirtschaftlich und politisch.
Dass so bald darauf auch im Irak und im Libanon – und für kurze Zeit selbst in Ägypten – Proteste beginnen würden, konnte niemand voraussehen.
Wir rechneten damit, in eine Wüste des politischen Stillstands zu reisen. Und landeten mitten in einem Sandsturm, in dem sich die Ereignisse überstürzten.
Wohin geht die Reise?
«Der Sudan und Algerien machen mir Hoffnung», sagte uns der ägyptische Journalist und Oppositionelle Khaled Dawoud Ende August in Kairo, der ersten Destination unserer Reise. In Ägypten unterdrückt das wieder erstarkte Militärregime acht Jahre nach der Revolution von 2011 jegliche abweichende Meinung mit eiserner Faust.
Einen Monat später sollte Dawoud, einer der letzten offenen Kritiker des Regimes im Land, auch Opfer dieser Repression werden. Er sprach damals von der Gefahr, verhaftet zu werden. «Ich bekomme SMS, in denen mir damit gedroht wird. Viele meiner Freunde sind bereits im Gefängnis. Es ist Furcht einflössend», sagte er uns. Diese Gefahr ist jetzt für ihn, wie für viele andere Dissidenten, Realität geworden.
Im Sudan, unserer zweiten Destination, hatte im April ein Volksaufstand den langjährigen Autokraten Omar al-Bashir gestürzt und ein Abkommen zur Machtteilung zwischen Militärs und Zivilisten für eine Übergangsregierung erreicht. Hier herrschte Aufbruchstimmung. «Wir wollten unser Leben lang auswandern. Jetzt wollen wir hierbleiben und uns engagieren»: Das war der Grundtenor in vielen Gesprächen mit jungen Sudanesinnen und Sudanesen.
Zugleich waren aber auch viele enttäuscht über den Kompromiss mit den Militärs, die jetzt die Macht in einer Übergangsregierung mit Zivilisten teilen.
Der Sudan steht vor vielen schwierigen Herausforderungen. Wie bringt man die Militärs dazu, die Macht abzugeben, wenn ihnen danach die Verurteilung wegen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen droht? Wie bringt man die Militärs dazu, echte Wirtschaftsreformen zuzulassen, wenn sie einen Grossteil der Wirtschaft kontrollieren und davon profitieren?
Im Irak, in unserer dritten Destination, hatten die Leute nach dem Ende mehrerer Zyklen von Kriegen endlich etwas zu atmen begonnen.
Doch die selbst im regionalen Vergleich gewaltige Korruption liess ihnen nicht sehr viel Luft dafür: Es fehlt an grundlegendsten staatlichen Dienstleistungen und vor allem an Arbeitsplätzen in einem Land, das dank seiner Ölvorkommen eigentlich reich wäre.
Hier begannen die Proteste, als wir vor Ort waren.
Und sie sind seither trotz brutalster Repression nur grösser geworden.
Es sind hier vor allem Angehörige der schiitischen Mehrheit, die sich gegen ein schiitisch dominiertes Establishment erheben. Auch gefährliche geopolitische Verstrickungen – der Iran betrachtet den Irak als wichtiges Einflussgebiet – schüchtern die Demonstranten nicht ein. Die Volksbewegung hat eine Breite, einen Patriotismus und ein bürgerliches Engagement erreicht, wie es der Irak seit Jahrzehnten nicht gesehen hat.
Der Moment des Bankrotts
Und dann begann es im Libanon. Wer dachte, die gescheiterten Aufstände des Arabischen Frühlings würden die Leute künftig davon abhalten, Brot, Würde und Gerechtigkeit einzufordern, wird gerade eines Besseren belehrt.
Weder die Bürgerkriege in Syrien, im Jemen und in Libyen noch die grausame Repression des ägyptischen Militärregimes scheinen als abschreckende Beispiele zu funktionieren. «Es gab nichts mehr zu verlieren für uns» – das war ein Satz, den wir im Sudan wie im Irak oft hörten.
Es ist dieser Moment, wo ein politisches System bankrott ist: wenn es den Leuten keine Perspektiven mehr bietet, wenn sich in der Bevölkerung die Sicht durchsetzt, dass man nichts mehr zu verlieren hat – gepaart mit der Hoffnung, dass man gemeinsam für etwas Besseres kämpfen kann.
Die arabischen Regimes sind bankrott. Zwar ist es ihnen – mit Ausnahme Tunesiens, wo der demokratische Übergangsprozess leise fortschreitet – weitgehend gelungen, die Aufstände von 2011 zu ersticken oder sie in Bürgerkriegen aufzureiben, oft mit Hilfe aus dem Ausland. Aber Syrien ist heute zerrissen, der Staat schwach und von Warlords und Milizen unterwandert. Syriens Präsident Bashar al-Assad hat sich durch brutale Repression sowie mit russischer und iranischer Unterstützung gegen den Aufstand behauptet, welcher von geopolitischen Rivalen Unterstützung erhalten hatte.
In Ägypten ist die Armee stärker denn je, nachdem sie die erste demokratisch gewählte Regierung der Muslimbrüder in einem anfangs populären Putsch von der Macht entfernt hat. Jetzt verschwinden selbst moderateste Kritiker der Regierung im Gefängnis. Auch hier hat das Militärregime kräftige Unterstützung aus Saudiarabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten bekommen. Und Europa drückt beide Augen zu, solange keine Menschen von Ägypten aus das Mittelmeer überqueren. Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi ist unfähig zu echten Reformen, weil er ständig die Armee zufriedenstellen muss, die sich immer mehr Teile der Wirtschaft einverleibt.
Das sind die Modelle, welche die Regierungen der Region und ihre Verbündeten den Menschen zu bieten haben: von Milizen und Warlords unterwanderte, zerfallende Staaten oder Polizeistaaten mit unersättlichen Sicherheitsapparaten – oder eine Kombination davon.
Ein neuer Glaube
Ein Gespräch in Beirut wenige Tage vor Beginn der libanesischen Proteste hatte beinahe prophetischen Charakter.
In einem heruntergekommenen Büroblock im südlichen Beiruter Vorort Haret Hreik hat die Redaktion von Ali al-Amins Zeitschrift «Janoubia» ihren Sitz. Über eine Seitentreppe, bei deren Aufgang man sich leicht bücken muss, gelangt man in den ersten Stock, wo sich die Büros der Redaktion befinden – drei kleine, bescheiden eingerichtete Räume.
Das Viertel Haret Hreik gilt als Hochburg der Hizbollah, der schiitischen Partei und Miliz, die sich einst aus dem bewaffneten Widerstand gegen Israel formierte, mit dem Iran verbündet ist und in Syrien auf der Seite von Präsident Assad kämpft. Heute ist die Hizbollah die stärkste Partei des Libanon. Ali al-Amin, ein Kritiker der «Partei Gottes», hat sich hier mit seiner Redaktion gewissermassen in der Höhle des Löwen eingerichtet.
Seine Haltung hat ihn unlängst zum Opfer einer Diffamierungskampagne gemacht. Das schüchtert ihn nicht ein. Dass sein Vater ein angesehener schiitischer Religionsgelehrter war, gibt ihm Rückhalt, wie er selber sagt.
«Die jetzige Situation ist nicht nachhaltig», sagt Ali al-Amin. Der Journalist ist ein Gegner des konfessionellen Proporzsystems, das im Libanon die politische Macht nach Quoten für Religionsgruppen aufteilt: Parteien vertreten verschiedene Religionsgruppen statt politische Programme. Somit kann es sein, dass ein konservativer christlicher Abgeordneter eine progressive, feministische Christin vertritt, nur weil er Christ ist.
Das System beflügelt die Korruption, weil sich die Parteien einfach den Kuchen aufteilen, statt sich einen politischen Wettbewerb zu liefern. Es zementiert auch die Gräben zwischen den Religionsgruppen. Die Parteien suchen Unterstützung bei ausländischen Verbündeten, im Falle der Schiiten ist das aktuell der Iran, bei den Sunniten Saudiarabien, Katar oder die Türkei.
All das ist nicht gut für den nationalen Zusammenhalt und paralysiert die Politik. Amin beklagt weiter, dass die Dominanz der Hizbollah die Meinungsvielfalt innerhalb der schiitischen Gemeinde des Libanon ersticke. Die «Partei Gottes» fordere von den Schiiten, als geeinter Block aufzutreten und schüchtere Abweichler ein, alles im Namen des Widerstandes gegen Israel.
«Im Arabischen Frühling sahen wir eine Chance, aus unserem Gefängnis auszubrechen, aber leider geschah das Gegenteil», sagt Ali al-Amin.
«Trotzdem bin ich überzeugt, dass die Realität, in der wir leben, die Ausnahme ist und nicht die Regel. Die Geschichte kann erst nach einer längeren Zeitspanne beurteilt werden. Was als Chaos erscheint, wird am Ende auf einen Weg führen. Momentan ist das stärkste Element der repressiven Regimes die Angst, aber niemand kann das Rad zehn Jahre zurückdrehen. Gesellschaften streben nach Stabilität, nach guten Lösungen und Wegen, um ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Daran glaube ich.»
Wenige Tage nach dem Gespräch beginnen im Libanon die Demonstrationen.
Die Hizbollah versucht prompt, die Protestierenden mit Schlägertrupps einzuschüchtern, und suggeriert, die Demonstrationen würden von ausländischen Akteuren instrumentalisiert. Aus Teheran klingt es ähnlich: Irans oberster Anführer Ayatollah Ali Khamenei behauptete, Israel und die USA würden die Proteste im Irak und im Libanon anheizen.
Teheran sieht sich in beiden Ländern mit einem Volksaufstand gegen Regierungen konfrontiert, in denen seine Bündnispartner die stärkste Kraft sind. Für die Iraner ist das bedrohlich, stützen sie sich doch auf ein regionales Netzwerk von Verbündeten, vor allem schiitische Milizen, mit denen sie ihre Gegner in Schach halten können, ohne eine militärische Konfrontation im eigenen Land zu provozieren. Und jetzt gibt es auch im Iran selbst Proteste.
Niemand kann sagen, in welche Richtung sich die Dinge von hier aus entwickeln.
Eines ist klar: Einfach wird es nirgendwo. Aber sollten die Proteste scheitern und aufgerieben werden, wird trotzdem etwas hängen bleiben, es wird eine Generation verändern, so, wie es auch im Arabischen Frühling von 2011 geschehen ist.
In der arabischen Welt sind historische Umwälzungen im Gang, die nicht rückgängig gemacht werden können, auch wenn niemand weiss, wie sich all das langfristig auswirken wird.
In dieser Ungewissheit liegt sowohl eine tiefe Tragik als auch ein Funken Hoffnung. Nichts kann den Horror eines Bürgerkrieges aufwiegen. Jede vergewaltigte Aktivistin ist eine zu viel. Die Hunderte erschossenen Demonstranten im Irak und im Sudan werden durch nichts wieder zum Leben erweckt.
Und doch: Dass es Hoffnung gibt, zeigen die Menschen gerade dadurch, dass sie unter Lebensgefahr für eine bessere Zukunft auf die Strasse gehen, sich organisieren, sich solidarisieren, Initiativen entwickeln und sich trotz allen Drohkulissen weigern aufzugeben.
Für einen Moment
Die folgende Reise in sechs Episoden nach Ägypten, in den Sudan und den Irak zeigen Momentaufnahmen, kleine Fenster auf vielschichtige Länder, die sich rasant bewegen, die trotz aller Unterschiede wegen der gemeinsamen Sprache als Teil der «arabischen Welt» gelten.
Lassen sich somit die Protestbewegungen in Algerien, im Sudan, im Irak und im Libanon in diesem Jahr als zweiter Arabischer Frühling verstehen?
Oder haben die Aufstände in jedem Land ihren eigenen Kontext?
Vermutlich ist an beiden Sichtweisen etwas dran. Jedes Land hat seine eigene Geschichte, doch überall leiden die Bevölkerungen unter mafiösen Regierungen, schlechter Grundversorgung, wirtschaftlichem Niedergang und dem Fehlen eines Rechtsstaates, der die Menschenwürde respektiert. Wobei dieses Phänomen des Protestes gegen eine prekäre Wirtschaftslage und korrupte Eliten zunehmend global wird: siehe Südamerika. Im arabischen Raum findet man in der Sprache, in der Geschichte oder in den politischen Verstrickungen gemeinsame Referenzen.
Während der Proteste in Beirut sandten sich libanesische und sudanesische Feministinnen gegenseitig Solidaritätsbotschaften via Transparente, von denen sie Fotos auf sozialen Netzwerken veröffentlichten.
Libanesische Demonstranten griffen syrische Revolutionslieder auf, Bagdad sang für Beirut, Beirut sang für Bagdad.
Die Grenzen sind nicht wirklich verschwunden. Aber für einen Moment scheint es, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.