«Keine Revolution war je perfekt»
Marileez Doss Suter, Hotelbesitzerin.
Von Monika Bolliger (Text) und Heba Khamis (Bilder), 13.12.2019
«Ihr stellt besser präzise Fragen, sonst fange ich an, von meiner illustren Vergangenheit zu erzählen, und ihr seid bis morgen hier!», kokettiert Marileez Doss Suter, nachdem sie sich zu uns an den Ecktisch im Speisesaal des Windsor gesetzt hat, des Hotels in Kairo, in dem sie sozusagen aufgewachsen ist. Die schwarzen Haare hat sie zu einem eleganten Dutt hochgesteckt. Zusammen mit der weissen Hornbrille erinnert ihre Erscheinung an Umm Kulthum, die legendärste ägyptische Sängerin aller Zeiten, die in den Sechzigerjahren weit über Ägypten hinaus die Massen einer ganzen Region begeisterte.
Früher war das Windsor Hotel ein britischer Offiziersklub. Der Vater von Marileez Doss Suter hat es in den Sechzigerjahren einem Schweizer abgekauft. An die damaligen Besitzer, ein Ehepaar Frey, erinnern alte Schweizer Fahnen und Poster, die für Ferien in der Schweiz werben. Doss hat selber einen Schweizer geheiratet und so gewissermassen die Verbindung mit der Schweiz aufrechterhalten. Ihr Mann, Werner Suter, starb 2017 überraschend an einem Herzinfarkt.
Am Tisch des Königs?
Marileez wehrt sich gegen die Vorstellung, dass früher alles besser gewesen sei. Und doch: Wer ihr zuhört, sieht vor dem inneren Auge ein anderes, glamouröses Ägypten aufleben. Sie erzählt aus der Perspektive einer Vertreterin der Oberschicht, die nichts Schlechtes an der Existenz von Klassen sieht, aber zugleich die Reichen in der Verantwortung sieht, die Armen zu unterstützen – eine, so scheint es heute, geradezu altmodische Sichtweise. Wir sitzen an «Farouks Tisch», benannt nach dem letzten König von Ägypten, der 1952 von der Revolution der Freien Offiziere gestürzt wurde. Sass König Farouk früher jeweils hier?
«Es ist eine Legende, aber es könnte durchaus sein», schmunzelt Doss Suter. «Dieser Stadtteil hier war die schickste Gegend, nicht nur für Ägypter, sondern für ganz Europa. Alles, was Rang und Namen hatte, kam im Winter hierher. Die Leute legten Wert auf schöne Kleidung. Diese Gegend hier, die man heute Stadtmitte (wust al-balad) nennt – und die mehr oder weniger eine Müllhalde ist –, hiess früher ‹Kursaal›. Als Schweizer kennen Sie dieses Wort. Hier nebenan gab es ein berühmtes Café, das Parisiana hiess, und da gab es Musiker mit Violinen. Jetzt hat die Regierung das Lokal von uns gemietet. Wir können nichts tun. Sie zahlen die Miete, die sie wollen, was natürlich eine lächerliche Summe ist. Die Gesellschaft für Telegramme ist jetzt dort. Ich meine: Wer verschickt heute noch Telegramme?»
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
«Ich war zu jung, um sagen zu können, dass ich diese Zeit vermisse. Wenn ich alte Fotos anschaue, dann sage ich, die Leute waren damals sehr elegant! Ich wurde 1951 in Kairo geboren. Ich ging zur englischen Schule in Heliopolis. Obwohl wir Christen sind, glaubten meine Eltern nicht an Nonnenschulen. Sie waren der Ansicht, dass man Religion zu Hause lebt. Dann studierte ich an der Amerikanischen Universität Politikwissenschaft.»
Der Vater von Marileez, William Doss, besass früher Baumwollfabriken in Oberägypten. Sie wurden 1962 unter Gamal Abdel Nasser verstaatlicht. «Die Angestellten waren nicht sehr glücklich, denn mein Vater war ein guter Patron. Er unterstützte sie immer, und sie durften ihre Kinder gratis auf eine Privatschule schicken, die meine Grossmutter aufgebaut hatte», erzählt sie. «Meine Grosseltern waren wohlhabend, aber sie waren auch integre Leute. Sie brachten ihren Kindern und Enkeln bei, dass Wohlstand mit Verantwortung einhergeht. Man muss etwas zurückgeben an sein Land und an jene, die weniger Glück hatten.»
Nach der Verstaatlichung hatte ihr Vater plötzlich nichts mehr zu tun, und natürlich war auch die Haupteinnahmequelle der Familie weg. Seine Frau ermutigte ihn zum Kauf des Hotels. «Der Besitzer, Herr Frey, sagte zu meinem Vater: ‹Ich hatte nie einen Sohn. Mein Sohn ist das Windsor. Ich glaube, Sie werden sich gut um meinen Sohn kümmern›», erinnert sich Marileez.
Vorsicht vor den Schweizern
Noch im selben Monat kam ihr künftiger Mann ins Windsor. «Es war Schicksal», ist sie überzeugt. Werner Suter arbeitete damals für die Swissair. Ihr älterer Bruder war im selben Alter, und sie freundeten sich an. «Werner war sehr extrovertiert, nicht wie andere Schweizer. Damals waren die Schweizer sogar noch reservierter als heute! Viele Jahre später las ich sein Tagebuch und fand heraus, dass er schon da ein Auge auf mich geworfen hatte. Dann begannen wir uns anzufreunden.»
Ihr Vater versuchte die Heirat zunächst zu verhindern: «Er konfiszierte heimlich die Briefe, die Werner mir schrieb. Zu mir sagte er: ‹Das Leben in der Schweiz ist hart, die Frauen dort machen die Sachen, welche bei uns Angestellte übernehmen, und du weisst doch kaum, wo bei uns die Küche ist!› Heute hört sich das lustig an.»
Aber Marileez blieb hartnäckig. «Schliesslich sagte ich, wenn ich Werner nicht heirate, dann werde ich für den Rest meines Lebens sehr unglücklich sein. Am Ende gab er nach.» Die beiden heirateten 1972 und zogen nach Japan. Werner Suter arbeitete in Tokio für Kuoni. 1975 zogen sie nach Chicago, als ihr Mann dort eine Stelle fand. Später machte er sich selbstständig. Das Paar lebte zwischen den USA und Ägypten. Jetzt ist Marileez mehrheitlich in Kairo und kümmert sich um ihren Vater, der sage und schreibe 105 Jahre alt ist. Ihre beiden Kinder sind in den USA.
Die «Golf-isierung»
War Ägypten früher schöner? «Die Welt ändert sich ständig, und so auch Ägypten. Was mich hier stört, sind zwei Sachen. Erstens: Wir waren einst kolonisiert, aber jetzt habe ich das Gefühl, dass wir «golf-isiert» sind. Das Kopftuch in der heutigen Form gab es früher nicht. Es verbreitete sich wie ein Feuer. Selbst in der koptischen Kirche sagen sie heute, die Frauen müssten ihr Haar mit einem Schal bedecken. Es ist wie ein Wettbewerb darum, wer religiöser aussieht. Religion ist ein Teil von uns Ägyptern, es begann schon mit den Pharaonen, aber da ging es um die Furcht vor Gott. Heute identifizieren sich die Leute stärker mit Symbolen und Ritualen. Ich glaube, dass das vom Einfluss aus den Golfstaaten kommt.»
Das Zweite, was sich verändert habe: «Wir sind sehr oberflächlich geworden. Wir haben Magazine, die berichten, wer wen auf welcher Party getroffen hat und welches Kleid jemand trug. Früher zeigte man seinen Reichtum nicht. Heute wollen alle prahlen. Diese Nordküste, es ist der Wahnsinn. Die Natur ist wunderschön, aber die Leute geniessen nicht die Natur, sondern sie denken ständig, wer wo eingeladen ist und wer wen mit einer Einladung übertroffen hat. Ich sehe darin einen Wertezerfall. Ich habe ein sehr kleines Auto, weil mir das reicht. Aber die Angestellten sagen, Madame, das ist nicht Ihrem Wert entsprechend. Und ich frage, was heisst das, mein Wert? Wir stammen doch alle von Adam und Eva ab.»
Als im Januar 2011 die Revolution losging, waren Marileez und ihr Mann in ihrem Strandhäuschen am Roten Meer. «Wir hatten keine Ahnung. Eine Freundin rief an und fragte: ‹Habt ihr es nicht im Fernsehen gesehen?› Sie sagte, in ihrem Viertel würden Panzer durch die Strassen fahren und es brenne überall. Es war etwas Furcht einflössend, aber ich war auch hoffnungsvoll.» Sie habe schon lange das Gefühl gehabt, dass es den Leuten nicht gut gehe, dass die Infrastruktur auseinanderfalle. Nichts habe man instand gehalten, die Bürokratie sei unerträglich geworden, alle hätten sich beklagt.
Und wo steht Ägypten nach dem Sturz Mubaraks? «Keine Revolution war je perfekt. Ich glaube es ist ein andauernder Prozess. Das Pendel schwingt hin und her, und irgendwann wird es ruhig in der Mitte. Im Moment ist die Landesführung sehr auf Sicherheit bedacht, und das ist gut mit all diesen gefährlichen Kräften wie etwa den Muslimbrüdern. Aber es ist eine Gratwanderung. Ich glaube, eine so starke Einschränkung der Pressefreiheit ist nicht gut. Natürlich denken nicht alle wie ich. Ich hatte eine Unterhaltung mit Freunden am Strand darüber, und sie waren alle gegen mich. Aber ich finde, es muss etwas Raum für Kritik geben, es braucht einen Dialog und verschiedene Meinungen. Ich denke, es wird kommen.»
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.
Heba Khamis, geboren 1988, dokumentiert in ihren Langzeitprojekten vorwiegend heikle gesellschaftliche Themen, die mit dem Körper zu tun haben. In ihren jüngsten Arbeiten widmet sie sich etwa heterosexuellen Flüchtlingen in Deutschland, die auf den Schwulenstrich gehen. Khamis wurde für ihre Arbeit mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit einem World Press Photo Award.