«Da wurde mir klar, dass ich Teil dieser Revolution sein würde»
Iman Adel, Journalistin.
Von Amir Ali (Text) und Heba Khamis (Bilder), 13.12.2019
Aus der Ferne betrachtet war die ägyptische Revolution etwas Grosses. Massen bewegten sich, Strassenzüge versanken im Chaos, historische Figuren stürzten. Doch auch Revolutionen entstehen, weil Menschen kleine Schritte machen. Menschen wie Iman Adel, damals 24 Jahre alt, die sich eines frühen Morgens aus dem Haus ihrer Familie in Beni Suef schlich und den nächsten Bus ins zweieinhalb Stunden entfernte Kairo nahm.
In der ägyptischen Gesellschaft gehört es sich für eine junge Frau nicht, sich ohne die Erlaubnis ihrer Eltern davonzumachen, schon gar nicht in Beni Suef, wo das konservative und ländlich geprägte Oberägypten beginnt. Viele Menschen aus ihrer Stadt, sagt sie, seien selbst noch nie in der Hauptstadt gewesen. Doch Iman Adel wusste, was sie wollte. Und vor allem: wohin.
«Ich hatte die Ereignisse seit Ausbruch der Revolution am Fernseher mitverfolgt, all die Wochen und Monate. Als ich sah, in welche Richtung das ging, wollte ich mitmachen. Ich spürte, dass mich das ganz persönlich etwas anging. Ich musste weinen, weil ich wusste: Wenn ich hier nicht dabei bin, dann werde ich in meinem ganzen Leben nichts mehr machen können. Ich sah die Revolution als Test, für mich und jeden Einzelnen von uns. Es war wie ein Schiff, das fährt und auf das man aufspringen muss.»
Die Alternative sei gewesen, in den Zuständen zu ertrinken, die im Land herrschten und in der Gesellschaft. Doch ihre Mutter habe Angst gehabt, und ihr Vater sei dagegen gewesen. «Er mochte Mubarak, wie viele seiner Generation, eigentlich meine ganze Familie. Sie dachten, er würde das Land schon in Ordnung bringen. Wir Jungen glaubten nicht daran. Und dann sahen wir die Gewalt, mit der die Sicherheitskräfte gegen die Demonstrationen vorgingen.»
Mitten ins Massaker – und in ein neues Leben
Am Tag bevor sich Iman Adel traute, auf das fahrende Schiff aufzuspringen, war es bei einem Protest gegen den Militärrat, der den mittlerweile gestürzten Mubarak abgelöst hatte, zum sogenannten Massaker von Maspiro gekommen. Sicherheitskräfte hatten 24 Menschen getötet, fast alles christliche Kopten.
«Ich kam in Kairo an und wusste gar nicht, wohin ich gehen sollte. Ich landete beim koptischen Spital in der Nähe von Ramsis, da waren die Toten und Verletzten, Opfer von Soldaten, die Demonstranten mit Panzern überfahren hatten. Junge Leute, die Demonstranten wuschen die Leichen ihrer Freunde. Ich sah, wie Wasser mit Blut gemischt unter den Türen hervorlief. Da wurde mir klar, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Dass ich Teil dieser Revolution sein würde, auch wenn es Jahre dauern sollte.»
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Später wohnte die Muslimin Iman dem Begräbnis der Toten in der Kathedrale bei. Und dort verstand Iman auch, dass es bei dieser Revolution nicht einfach um den gestürzten Präsidenten Mubarak oder um die Militärs ging. Im Vorfeld des Massakers hatten die Propagandasender des Regimes von Christen berichtet, die den Staat angreifen wollten. Die Polizei ging danach gezielt gegen Christen vor.
Das Oberhaupt der koptischen Kirche, sagt Iman, habe dann in seiner Predigt beim Begräbnis von Vergebung gesprochen und davon, dass der Mensch nicht auf der Erde sei, um sich in die Politik einzumischen. Iman Adels Stimme beginnt zu zittern, als sie davon spricht. «Der Patriarch war ein Vertreter desselben Systems wie die Politiker, wie die Militärs. Die Revolution dehnte sich langsam aus, richtete sich gegen all die Autoritäten, die diese mörderische Logik vertraten. Die Kirche, die muslimischen Führer, die korrupten Businessleute.»
Nach der Zeremonie, es war immer noch ihr erster Tag in Kairo, stand sie wieder verloren da. Sie wusste nur, dass sie nicht zurück nach Hause wollte. Also ging sie mit Leuten mit, die sie am Abend auf dem Tahrir-Platz kennenlernte.
«Es herrschte damals eine sehr offene Atmosphäre, man unterstützte sich, es gab eine enorme Solidarität zwischen den Menschen. Die Leute luden Fremde zu sich nach Hause ein, und so kam ich bei einer jungen Frau unter. Ich fand eine Familie vor, wie ich sie noch nie gesehen hatte: Eine Tochter trug Kopftuch, die andere nicht. Eine rauchte Zigaretten, die andere rauchte Wasserpfeife. Und der Vater und die Mutter akzeptierten jede von ihnen, wie sie waren. Es war das erste Mal, dass ich so ein Lebensmodell sah. Bei uns im Süden glauben die Leute, dass alle gleich sein müssen. Dass jemand ausschert, ist nicht vorgesehen.»
Als sie noch in Beni Suef lebte, trug Iman Adel den Khimar, ein Kopftuch, das weit über die Schultern fällt und bis zur Hüfte reicht. Schon vor der Revolution habe sie begonnen, den Schleier immer etwas kürzer zu tragen, Zentimeter um Zentimeter. Und schon für diese kleinen Schritte habe man sie kritisiert, habe sie sich rechtfertigen müssen. Und doch legte sie das Kopftuch nicht sofort ab, sondern erst ein Jahr nachdem sie das strenge Milieu ihrer Heimat hinter sich gelassen hatte.
«Es war damals in Beni Suef ein wichtiger Kampf, aber jetzt, während der Revolution, war anderes wichtiger. Wir hatten keine Ahnung von Politik, wir waren es überhaupt nicht gewohnt, unsere Teilhabe einzufordern. Das mussten wir uns erst einmal aneignen. Und auch das war nicht alles. Ich wollte unabhängig sein, auf eigenen Füssen stehen. Freiheit heisst für mich, dass niemand für mich Entscheidungen trifft.»
Also musste sie erst einmal Arbeit finden. In Beni Suef hatte sie als Lehrerin gearbeitet, jetzt wollte sie etwas anderes machen. Sie begann als Redaktorin bei einem Onlineradio, und nach der Arbeit ging sie jeweils demonstrieren. In ihrem ersten Job verdiente sie pro Monat 500 Pfund, umgerechnet waren das damals etwa 80 Franken. Allein für die Miete gingen 300 Pfund drauf.
Vom schwarzen Schaf zum Vorbild
Dann war da noch ihre Familie, die sie in Beni Suef zurückgelassen hatte.
«Es war für sie ein Affront, dass ich einfach so weggegangen bin. Anfangs wollten sie es nicht akzeptieren. Sie hatten natürlich auch Angst, es verschwanden in diesen Tagen ja Leute spurlos. Ich rief sie an und sagte ihnen, dass ich mich entschieden hätte und nicht zurückkehren würde. Zuerst drohten sie mir. In dem Umfeld, wo ich herkomme, ging es um die Ehre der Familie. Irgendwann fand ich heraus, dass sie sogar mit einem Jihadisten Kontakt hatten, der einen Auftragskiller auf mich hätte ansetzen sollen. Einmal ging ich zurück, um sie zu besuchen. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich nicht abgehauen bin, sondern einfach meinen Weg gehen will. Schliesslich war es mein Vater, der den Rest der Familie warnte: ‹Keiner rührt meine Tochter an.› Langsam beruhigten sich alle, meine Mutter und meine Schwester kamen mich sogar einmal in Kairo besuchen.»
Iman richtete sich in ihrem neuen Leben in Kairo ein. Sie begann für eine Zeitung zu arbeiten. Und sie bemerkte, wie sich die Dinge auch in ihrer Heimatstadt zu verändern begannen.
«Die Leute in Beni Suef waren zwar noch immer etwas befremdet darüber, dass eine junge, unverheiratete Frau einfach ihre Familie verlässt und allein lebt. Gleichzeitig waren sie neugierig. Jedes Mal, wenn ich nach Beni Suef fuhr, musste ich all meine Artikel mitbringen. Meine Eltern, die Nachbarn und Freunde wollten sehen, was ich arbeite. Viele Mädchen begannen das Kopftuch abzulegen, was in Beni Suef eine sehr schwierige Sache ist. Einmal bekam ich eine Diskussion meines Onkels mit seiner Tochter mit. Sie fragte ihn: ‹Wenn ich das Kopftuch ablege, wirst du mir dann das Leben schwer machen?› Er meinte: ‹Wenn du dafür dein Leben so in die Hand nimmst wie deine Cousine, dann habe ich damit kein Problem.› Deshalb würde ich sagen, dass die Revolution politisch vielleicht gescheitert ist, gesellschaftlich aber war sie erfolgreich. Es haben sich Dinge geändert, und das lässt sich nicht mehr zurückdrehen.»
Viele junge Frauen, sagt Iman Adel, hätten sich während der Revolution von ihren Familien emanzipiert und aus dem engen gesellschaftlichen Korsett befreit. In einer Facebook-Gruppe seien Tausende von ihnen organisiert, unterstützten sich gegenseitig mit Geld, Kontakten und Tipps. Ein neues Bewusstsein ist entstanden, ein Bewusstsein dafür, dass es in Ordnung ist, eigene Wünsche und Ansprüche zu haben und diese auch zu verfolgen. Für Iman Adel ging das sogar so weit, dass sie sich von ihrem Verlobten trennte.
«In den Gesprächen mit ihm merkte ich, dass er nicht entschlossen und zielstrebig genug war, um sein eigenes Leben zu führen. Ich löste die Verlobung auf, was meiner Familie natürlich nicht gefiel. Als ich Samer kennenlernte, meinen jetzigen Mann, wiesen sie ihn dreimal ab. Wir verlobten uns trotzdem. Und am Ende heirateten wir – mit dem Segen der Familie.»
Imans Mann Samer stammt aus Syrien, von wo er wegen des Krieges nach Ägypten geflohen ist. Natürlich sei seine Geschichte auch schwierig, sagt er. Aber Iman habe es schwieriger, die Hürden und Widerstände für sie seien grösser – weil sie eine Frau sei. Mittlerweile leben die beiden in ihrer eigenen kleinen Wohnung in Gizeh. Auch hier ist Iman Adel die Unabhängigkeit wichtig: Keine Vermieterin könne sie unter Druck setzen, ihr mit dem Rausschmiss drohen und ohne Grund die Miete erhöhen. Vor kurzem feierte das Paar den ersten Geburtstag seines Sohnes, und gerade hat er seinen ersten Tag in der Kita hinter sich. Iman wird bald wieder anfangen zu arbeiten.
«Als meine Mutter sah, was ich alles gemacht habe, sagte sie zu mir: ‹Dass du damals gegangen bist, war die beste Entscheidung deines Lebens.›»
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali, der ebenfalls fliessend Arabisch spricht, war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.
Heba Khamis, geboren 1988, dokumentiert in ihren Langzeitprojekten vorwiegend heikle gesellschaftliche Themen, die mit dem Körper zu tun haben. In ihren jüngsten Arbeiten widmet sie sich etwa heterosexuellen Flüchtlingen in Deutschland, die auf den Schwulenstrich gehen. Khamis wurde für ihre Arbeit mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit einem World Press Photo Award.