Eine Brücke öffnet Gräben
«Es lebe Ägypten» – aber welches? Strassen und Brücken, Hotelanlagen, Residenzen und Paläste: Die Regierung von Ex-General Abdel Fattah al-Sisi baut wie wild. Das Land wird, auch dank der Unterdrückung jeglicher Kritik, zum Paradies für Investoren. Und zur Realität gewordenen Dystopie, in der sich die Reichen abschotten, während der Rest der Bevölkerung um seine Lebensgrundlagen bangt.
Von Amir Ali, Monika Bolliger (Text) und Heba Khamis (Bilder), 13.12.2019
Am Rande der Pyramiden von Gizeh, etwas versteckt hinter einer Mauer, liegt das Quartier Nazlet al-Semman. Hier wohnen jene Ägypterinnen und Ägypter, die Touristen in Pferdekutschen um die Pyramiden fahren, Besucherinnen auf einen Kamelritt mitnehmen oder faustgrosse Sphinxen aus billiger Massenanfertigung feilbieten, die sie in Taschen mit sich tragen.
Die Regierung hat die Mauer im Jahr 2000 gebaut, damit das informelle Viertel nicht weiter mit dem Gelände der Pyramiden zusammenwächst. Läden, die sich einst an bester Lage den Touristen präsentierten, findet man seither nur, wenn man das Gelände der Pyramiden verlässt und um die Mauer herumgeht. Dahinter ruhen sich die Pferde und Kamele aus. Ein Stück weiter treibt ein Junge eine Herde Ziegen durch die Strasse, an der sich dicht verschachtelte mehrstöckige Häuser aneinanderreihen. Am Horizont ragen die Pyramiden in den Himmel.
Ashwa’iyat nennt man diese informellen Armenviertel, abgeleitet vom arabischen Wort für «zufällig» oder «willkürlich». Seit Jahrzehnten wuchern sie in Kairo, weil regulär gebaute Wohnungen für die Mehrheit der Leute unbezahlbar sind. Lange überliessen Ägyptens Regierungen diese Viertel sich selbst. Doch jetzt werden plötzlich Bewohnerinnen umgesiedelt, Häuser geräumt und demoliert. Von dieser Politik scheinen auch die Kamelführer und Kutscher von Nazlet al-Semman betroffen.
Diese Serie entstand aus drei Recherchereisen, zu denen die Republik-Reporter Amir Ali und Monika Bolliger Ende August aufbrachen. Sie reisten vom Libanon nach Ägypten, in den Sudan und in den Irak und sind der Frage nachgegangen: Was haben die Menschen in der arabischen Welt heute für Perspektiven, bald neun Jahre nach dem Arabischen Frühling? Zur Übersicht mit allen Episoden.
Mit Journalisten reden wollen die Bewohner des Quartiers auf keinen Fall. «Dieses Thema ist eine rote Linie», sagt einer. Selbst als anonyme Quelle will er mit Verweis auf mögliche Repressalien nicht zitiert werden, und er ist nicht der Einzige. Ein anderer Bewohner führt nach kurzem Zögern aus: Schon seit Mubaraks Zeiten werde davon geredet, dass dieses Viertel irgendwann geräumt werde. Lange sei nichts geschehen. Jedoch mehrten sich die Zeichen, dass die Regierung jetzt vorwärtsmachen wolle. Das Schwierige sei die Ungewissheit: «Werden wir umgesiedelt? Und wenn ja, wohin? Können wir unseren Lebensunterhalt weiter mit Kamelen und Pferdekutschen verdienen, wenn wir nicht mehr hier wohnen? Oder wird all das sowieso verboten? Die Leute hier wollen nur genug zum Leben verdienen. Aber wir wissen nicht, was sie mit uns vorhaben.»
Ein Boom und viele Ängste
Informelle Siedlungen und vor allem ihre Bewohner stehen den Plänen der Regierung im Weg. Kairos Innenstadt soll zu einem glänzenden Tourismuspark werden, zu einem «offenen Museum», wie sich eine der Regierung nahestehende Gesprächspartnerin ausdrückt.
Überall in Kairo bangen Menschen um ihre Quartiere. Die verschachtelten Häuser und Hütten des sogenannten Maspiro-Dreiecks etwa, die mitten in Kairo hinter dem Gebäude der staatlichen Rundfunkgesellschaft standen, wurden vergangenes Jahr abgerissen, die Bewohner umgesiedelt. Man bot ihnen Wohnungen in einem neuen Viertel am äussersten Rand von Kairo an. Weit weg vom Kern der Stadt – und damit auch weit weg von Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Transportmittel zum Pendeln sind unerschwinglich für jene, die von der Hand in den Mund leben. In Maspiro entstehen derweil moderne Hochhäuser, eine Einkaufsmeile und vornehme Cafés.
In Nazlet al-Semman haben die Behörden Anfang Jahr ein kleines Hotel zerstört mit dem Verweis, es habe keine Bewilligung für eine kommerzielle Nutzung. Das hat unter Bewohnerinnen Ängste ausgelöst, dass ihre Umsiedlung bevorstehen könnte. Bei Protesten wurden je nach Bericht zwischen 17 und 22 Personen verhaftet. Seither gab es keine weiteren Abrisse, doch die Ungewissheit bleibt. Was hier wirklich geplant ist, kann niemand so recht sagen. Weil es keine offizielle Informationspolitik und keinen Dialog mit den Bewohnern gibt, bleiben den Leuten nur Gerüchte.
Zum Beispiel, dass der ägyptische Tycoon Naguib Sawiris, der Bruder des Investors von Andermatt, hier zusammen mit einer emiratischen Firma einen Hotelkomplex bauen wolle. Ein Bewohner will wissen, dass ein Teil der Häuser einem grossen Parkplatz neben dem neuen Ägyptischen Museum weichen soll, das sich unweit der Pyramiden an der Verbindungsstrasse zur Oase von Fayoum im Bau befindet. Touristinnen könnten sich dann bequem zwischen Fayoum, dem Museum und den Pyramiden bewegen, ohne dabei im Stau zwischen Eselskarren, Tuktuks und hupenden Taxis in den engen Strassen eines Wohnviertels festzustecken.
In ganz Ägypten wird in diesen Tagen gebaut wie wild. Wer beim Landeanflug auf Kairo aus dem Flugzeugfenster blickt, sieht die neuen Städte, die an den Rändern der Hauptstadt aus dem Boden gestampft werden. Ende 2020 plant die Regierung den Umzug in die neue administrative Hauptstadt, die 70 Kilometer ausserhalb des Zentrums von Kairo mitten in der Wüste entsteht. Angeblich will man so der Dichte Kairos entkommen, vielleicht auch der ärmeren Mehrheitsbevölkerung: Günstige Wohnungen sind dort keine geplant, wie Khaled al-Husseyni sagt, Ex-Armeeoffizier und Sprecher der zuständigen Firma.
«Es lebe Ägypten»
Ein anderes Prestigeprojekt der Regierung hat es ins «Guinnessbuch der Rekorde» geschafft: Präsident Sisi hat im Mai in Kairo die breiteste Hängebrücke der Welt eröffnet. Tahya masr, «es lebe Ägypten»: Der Schriftzug flimmert über die erleuchteten Elemente, an denen die zwölfspurige Fahrbahn aufgehängt ist. Wie Pyramiden aus Neonlicht ragen die tragenden Konstruktionen in die Nacht. Tahya masr, das ist der Wahlspruch der Regierung, zu lesen auf Armeejeeps, an Kasernenmauern und auf den omnipräsenten Plakaten, von denen der Präsident seinem Volk zulächelt.
Es lebe Ägypten – aber welches Ägypten? 20 Pfund kostet die Fahrt über die neue Brücke, umgerechnet etwa 1.25 Franken – für die meisten zu viel, nur um von einem Flussufer zum anderen zu gelangen. «Die Brücke ist wunderbar», sagt ein Taxifahrer, der in Rod al-Farag aufgewachsen ist, einem Slum unweit der Brücke. Heute wohnt er auf der anderen Seite des Nils im Quartier Bulaq, in das eine Abfahrt von der Brücke führt. Dort leben vor allem Menschen, die ihr Geld im Tagelohn und in der informellen Wirtschaft verdienen: Chauffeure, Kleinkrämer, Putzfrauen.
«Es gibt nur ein Problem, und das sind die Mautstationen», sagt der Taxifahrer. Die Bewohner hätten es gerne gesehen, wenn sie erst nach der Abfahrt in die Stadtquartiere aufgestellt worden wären, sodass sie die kurze Fahrt über den Fluss kostenlos hätten machen können. Und nur zahlen müsste, wer die Brücke als Teil des grösseren Verkehrsnetzes mit der Ringstrasse um die Hauptstadt und der Verbindung nach Alexandria nutzt. So aber bleibt die Brücke leer – und den meisten nichts anderes übrig, als im Stadtverkehr die alten, chronisch überlasteten Brücken über den Nil zu benutzen.
Die Kluft öffnet sich weiter
Die Regierung feiert unterdessen den Aufschwung: Dank Reformen und einem 12-Milliarden-Dollar-Darlehen des Internationalen Währungsfonds sowie zunehmendem Vertrauen von Investoren ist die Wirtschaft im letzten Jahr um 5,6 Prozent gewachsen, das massive Budgetdefizit geht zurück. Die Wirtschaft, so heisst es, habe sich vom Chaos der Revolution von 2011 erholt. «Damals hatte man keine Ahnung, wohin es geht», sagt die Vertreterin eines europäischen Weltkonzerns, der in Ägypten aktiv ist. Heute sei die Vision klar: «Entwicklung und Fortschritt auf allen Ebenen.»
Gleichzeitig leben laut offiziellen Zahlen 33 Prozent der Ägypterinnen und Ägypter an der Armutsgrenze, 5 Prozent mehr als 2015. Im internationalen Vergleich ist die Armutsgrenze mit nur 45 Dollar pro Monat tief angesetzt – zu tief, sagen Expertinnen. Die Weltbank schätzt, dass 60 Prozent aller Ägypter von Armut betroffen oder bedroht sind.
Die Tahya-Masr-Brücke, die gut 10 Milliarden Franken gekostet haben soll, bringt den meisten Menschen in Kairo nicht viel. Dafür verkürzt sie den Weg nach Alexandria bedeutend. Und damit auch die Reise an die Nordküste am Mittelmeer, westlich von Alexandria. Es ist die Côte d’Azur Ägyptens, wo jeden Sommer Zehntausende aus der Oberschicht hinpilgern, um die heissen Monate zu verbringen. Brücken werden gerne als Symbol der Verbindung herangezogen – die Tahya-Masr-Brücke hingegen steht für die Kluft, die sich zwischen Ägyptens Gesellschaftsschichten immer weiter auftut.
An der Schnellstrasse, die von Alexandria Richtung Westen führt, an die Nordküste, treffen Welten aufeinander: Rechts versteckt sich das Mittelmeer, zugebaut mit Hotelbunkern und Apartmentanlagen, links dehnt sich die staubige Weite bis zum Horizont. Ab und zu kreuzt ein Eselskarren die Fahrbahn, Männer in weiten weissen Gallabiyas rennen mit ihren Söhnen an der Hand auf die andere Seite, während sich SUV und Limousinen mit 160 km/h durch den Verkehr aus überladenen Lastern, Minibussen und PW drücken. Und über Dutzende Kilometer säumen riesige Plakate die Strasse, auf denen die schöne neue Wohnwelt visualisiert wird. Fouka Bay, City Edge oder The Gate New Alamein heissen die Projekte, es bauen die grossen Immobilienfirmen des Landes: Leute wie die Sawiris-Familie mit ihrem Orascom-Imperium oder die Hassan Allam Holding, deren Gründer und Namensgeber schon unter König Farouk im Auftrag des Staates baute.
Eine Küste im Rohbau
Die Küste westlich von Alexandria wurde in den 80er-Jahren im grossen Stil für den Tourismus erschlossen. Am türkisblauen Wasser von al-Alamein, wo die Alliierten im Zweiten Weltkrieg entscheidende Schlachten gegen die Deutschen und die Italiener gewannen, entstanden Resorts und Hotelanlagen für die ägyptische Oberschicht. Die Marina von Alamein war einst ein Rückzugsort für die Reichen, der place to be. Heute ist sie eine etwas heruntergekommene Ansammlung von kleinen Villen und ein paar Hotels.
Noch immer gibt es hier Häuser, denen der Reichtum ihrer Besitzer anzusehen ist, und sei es nur wegen der glänzend neuen Porsche Cayenne und Land Rover vor den hohen schmiedeeisernen Toren, zwischen denen bewaffnete Wachleute mit Walkie-Talkies herumsitzen. «Das Problem in Marina ist, dass es mittlerweile für jeden zugänglich ist», sagt ein junger Immobilienmakler, der in seinem Büro auf Interessenten wartet. «Wenn jemand sein Haus verkauft, kann nicht kontrolliert werden, wer Zugang zur Siedlung bekommt.» In den Anlagen, die jetzt neu entstehen, werde wieder streng ausgewählt. Und Geld sei nicht das einzige Kriterium. «Man will sicherstellen, dass die Leute zusammenpassen. Man will unter sich bleiben.»
Deshalb baut man jetzt al-Alamein al-Gadida, das neue al-Alamein. Gleich westlich von der Marina geht es los, Dutzende von Hochhäusern, Hotelanlagen, Ferienresorts und Gated Communitys werden hochgezogen, eine Küste im Rohbau. Neben der deutschen Gedenkstätte für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs lässt Abdel Fattah al-Sisi ein Gebäude für das Kabinett errichten. Und noch einen Präsidentenpalast, dessen Kuppel an das Weisse Haus erinnert – und das, obwohl es in ganz Ägypten bereits 90 Residenzen für das Staatsoberhaupt gibt. Auch an der Nordküste sind die Investoren des Baubooms neben dem Staat die grossen Immobilienfirmen des Landes und ihre Partner aus den Golfstaaten.
«Viele Units sind bereits verkauft», sagt der Immobilienmakler. Zu haben seien eigentlich nur noch Villen und Apartments im obersten Segment, alles andere sei weg. «Alexandria ist genauso überfüllt wie Kairo, deshalb zieht es die Leute jetzt raus aus der Stadt.» Auch wenn, wie der Makler einräumt, noch niemand weiss, welche Firmen sich in den neuen Küstenstädten ansiedeln werden. Wieso kaufen die Leute teure Wohnungen, über 100 Kilometer von der Stadt entfernt, in der sie leben – ohne zu wissen, ob und wo sie dort arbeiten werden? «Es gibt eine Mentalität hier in Ägypten, dass man sein Geld lieber in eine Immobilie investiert als auf der Bank liegen lässt», erklärt der Makler, während er seinen Wagen in die Einfahrt von Hacienda Bay steuert, einem der neuen Vorzeigeprojekte an der Nordküste.
Der Sicherheitsmann hebt die Barriere, und vorbei am gepanzerten Jeep einer Polizeieinheit geht es direkt ins Herz der Anlage, einer Art Mall mit Cafés, Supermärkten und Nachtclubs. Die Seafront-Villen für rund 2 Millionen Dollar sind zwar noch nicht gebaut, laut dem Makler aber bereits ausverkauft. Zu haben sind noch vereinzelte Chalets zu 350’000 Dollar.
Staatlich geförderte Spekulation
Nachhaltiges Bauen, das die gesellschaftlichen Realitäten berücksichtige, das gebe es in Ägypten nicht, sagt Yahia Shawkat, Experte für architektonische Umwelt bei der Plattform «10 Tooba». «Mir fällt jedenfalls kein Beispiel ein», sagt er am Telefon aus Berlin, wo er seit einigen Monaten lebt. Die Politik sei stark zentralisiert, die Regionen hätten kaum Kompetenzen. «Und der Verkauf von Land ist oft ihre einzige Einnahmequelle», so Shawkat.
«Es gibt einen Interessenkonflikt beim Wohnungsministerium», hält Shawkat fest. Das Ministerium sollte den Wohnungsmarkt regulieren, stattdessen sei es ein «Irregulator» – im Interesse des grössten Entwicklers im Land, des Staats. «Es gibt eine aktive Politik gegen zahlbare Wohnungen – weil die Regierung selber ein Investor ist.»
In Kairo verspricht ein neues Projekt zwar auch eine Million Wohnungen für das untere Einkommenssegment. In Wahrheit aber seien die Mieten dort preislich eher auf dem Niveau der Mittelschicht, sagt eine Aktivistin, die sich seit Jahren für bezahlbaren Wohnraum engagiert. Aus Angst vor staatlicher Repression möchte sie ungenannt bleiben. «Unterdessen gibt es jedes Jahr 900’000 neue Heiraten – und nur etwa die Hälfte der Paare kann sich eine Wohnung leisten», sagt sie. Das Paradoxe an der Situation: In Ägypten stünden etwa 12 Millionen Wohneinheiten leer. Das ist viel, auch in einem Land mit bald 100 Millionen Einwohnern. «Etwa drei Viertel dieser 12 Millionen Wohneinheiten sind nie bewohnt worden», sagt die Aktivistin. Sie dienten einzig der Spekulation.
Und hier sind Regierung und Armee wie in anderen lukrativen Branchen aktiv involviert. Eine dem Wohnungsministerium unterstellte New Urban Communities Authority, kurz NUCA, ist Teilhaberin diverser Immobilienprojekte, etwa bei der Neuen Hauptstadt – in 50:50-Partnerschaft mit der Armee – oder beim Maspiro-Dreieck. Der Staat profitiert auch mit dem Verkauf des Landes, Ministerien fungieren als Bauherren, und Firmen des Ministeriums für militärische Produktion führen die Projekte aus.
Shoppingmalls statt Menschenrechte
«Die Politik ist im Prinzip dieselbe wie unter Mubarak», sagt die Wohnbau-Aktivistin. Schon bei den Immobilienprojekten unter dem 2011 gestürzten Autokraten seien nicht die Leute, sondern Investorinnen und das Erscheinungsbild der Stadt im Fokus gewesen. Mit einem wesentlichen Unterschied: Unter Mubarak gab es eine einigermassen unabhängige Justiz. Demonstrieren war weniger gefährlich als heute, wo Leute schon wegen eines T-Shirts, das den Sicherheitskräften missfällt, im Gefängnis verschwinden. «Damals konnten sich die Betroffenen wehren», sagt sie. «Das ist heute nicht mehr so.»
Die Repression im heutigen Ägypten, acht Jahre nach dem Aufstand gegen Mubarak, hat ungekannte Ausmasse erreicht. Zehntausende sitzen in Ägyptens überfüllten Gefängnissen, die für Misshandlung und Folter berüchtigt sind – teilweise wegen eines Eintrags auf Facebook oder weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Von Tausenden Verhafteten fehlt jede Spur. Nach einer Welle seltener Proteste, die sich im September an den Luxusbauten der Regierung entzündeten, zogen die Schergen von Präsident Sisi die Schrauben erneut an. Innert zwölf Tagen wurden über 2300 Personen verhaftet, unter ihnen über 100 Minderjährige.
Sisi wird grosse Bewunderung für das Modell seiner Verbündeten nachgesagt, der Vereinigten Arabischen Emirate: Shoppingmalls statt Menschenrechte, Konsumgesellschaft statt Teilhabe am politischen Leben. Ein Überwachungsstaat ohne Raum für kritische Stimmen, in dem wirtschaftlich mit der grossen Kelle angerührt wird.
Der Unterschied zum reichen Golf: In Kairo leben 70 Prozent der Bewohner in den ashwa’iyat, den informellen Vierteln. Dutzende Millionen Menschen im ganzen Land verdienen ihr Geld in der informellen Wirtschaft. Schicke Apartments, Swimmingpools, teure Restaurants und Cafés: All das ist für die meisten ein unerreichbar ferner Traum.
Und so ziehen die Reichen und Mächtigen in die Gated Communitys, schirmen sich ab vom Rest des Landes. Es wirkt wie eine Realität gewordene Dystopie: Kairo ist vollgestellt mit riesigen Werbetafeln, die Luxusvillen zum Kauf anpreisen, während in ihrem Schatten ärmere Bewohnerinnen aus ihren Häusern verdrängt werden. Doch verschwinden werden die ashwa’iyat nicht: «Wenn die Führung das Problem der Armenviertel nicht anpackt und Wohnraum schafft, der auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnitten ist, werden die ashwa’iyat weiter wuchern. Hier wird ein Viertel abgerissen, aber dort werden Leute erneut irregulär Häuser bauen, weil sie keine andere Wahl haben», sagt die Wohnbau-Aktivistin.
Die Eroberung
Zurück auf der Tahya-Masr-Brücke treffen wir an einem Freitagabend mehr Fussgänger als Autos an. «Wollt ihr ein Foto machen?», fragt uns hier ein schlaksiger Junge, der eine ziemlich neue Nikon bei sich trägt. Hinter ihm hängen seine Kumpels auf der Brüstung ab, die den Fussgängerbereich der Brücke von der Fahrbahn trennt. Viele von ihnen haben Kameras um den Hals, neue Modelle, nicht billig. Andere halten Ringblitze, Reflektoren und Softboxen in den Händen, was man halt so braucht, um im fahlen Licht der Strassenbeleuchtung gute Porträtbilder zu schiessen. Ein Pfund kostet das Bild, übertragen über das Handynetz. Die Jungs haben investiert, und die neue Brücke ist die Grundlage ihres Geschäfts.
Nur alle paar Minuten fährt ein Auto über die mehrspurige Brücke, stattdessen bummeln junge Pärchen, Gruppen von Mädchen machen Selfies vor den baumdicken Aufhängungen der Brücke, Väter mit müden Gesichtern tragen ihre Kleinkinder herum. Dort, wo der Fussgängerweg nach etwa hundert Metern an einer Absperrung endet, hat sich eine Familie auf ihrer orangen Decke zum Picknick niedergelassen. Für jene, die es sich nicht leisten können, dem aufreibenden Alltag in einem der exklusiven Clubs mit ihren Gärten und Pools zu entfliehen, ist das ein valabler Abendausflug.
Weit unten liegt schwarz der Nil, etwas flussabwärts leuchten und blinken in allen Farben die Partyschiffe, auf denen sich junge Touristen vom Golf vergnügen, bevor sie in die Nachtclubs weiterziehen. Ein sanfter Wind lässt Haare und Kleider flattern, trägt die staubige Hitze, das Hupen, das Knattern und die Abgase der Grossstadt weg. Die Megabrücke ist ein Ort der Gelassenheit. Vielleicht wurde sie für die Reichen gebaut – aber auf ihre Weise haben die Armen die Brücke längst erobert.
Diese Reportage wurde aus dem Rechercheetat der Project R Genossenschaft realisiert.
Die Arabistin Monika Bolliger arbeitet als Analystin und Forscherin in Beirut und Zürich. Zuvor war sie als Nahostkorrespondentin der NZZ in Jerusalem, Kairo und Beirut tätig. Amir Ali war fünf Jahre Co-Leiter des Strassenmagazins «Surprise». Seit diesem Sommer ist er als freier Journalist tätig, der Schwerpunkt seines Interesses gilt den Ländern im Nahen Osten.
Heba Khamis, geboren 1988, dokumentiert in ihren Langzeitprojekten vorwiegend heikle gesellschaftliche Themen, die mit dem Körper zu tun haben. In ihren jüngsten Arbeiten widmet sie sich etwa heterosexuellen Flüchtlingen in Deutschland, die auf den Schwulenstrich gehen. Khamis wurde für ihre Arbeit mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit einem World Press Photo Award.