Wie steht es nach bald zwei Jahren Corona um unsere Grundrechte?

Das Covid-19-Gesetz, das den Behörden erlaubt, Massnahmen gegen die Pandemie zu ergreifen, steht unter Dauerkritik. Ende November wird bereits zum zweiten Mal darüber abgestimmt. Handelt der Staat unrecht­mässig? Das sollten Sie dazu wissen.

Von Oliver Fuchs, Bettina Hamilton-Irvine, Brigitte Hürlimann und Christof Moser, 04.11.2021

Die Bedenken sind häufig zu hören, hin und wieder auch im Republik-Dialog:

Immer wieder wird im Vorfeld der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz vom 28. November gesagt, dass die notwendige gesetzliche Grundlage für die Massnahmen gegen die Corona-Pandemie fehlen würde. Es gäbe keine Basis für eine «ausser­ordentliche» oder eine «besondere Lage». Und der Bundesrat dürfe auf Verordnungs­stufe keine Freiheits­rechte einschränken.

Was ist dran an diesen Einwänden?

Die Verhältnis­mässigkeit

Tatsächlich ist das Ganze nicht einfach zu durchschauen.

Die Grundlagen für die Massnahmen – wie die Zertifikats­pflicht, das obligatorische Masken­tragen oder (hoffentlich nie wieder) Kontakt­beschränkungen – sind die Bundes­verfassung und das Epidemien­gesetz, die den Bundesrat mit weitreichenden Kompetenzen ausstatten. Was allerdings nicht heisst, dass dieser walten kann, wie er will. Es gibt durchaus Leit­planken und Limiten.

Der Bundesrat ist zwar verpflichtet, Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu erlassen – er hat dabei aber Schranken zu achten, und das nicht nur in Zeiten der Pandemie. Er ist gebunden durch die Grundlage allen rechts­staatlichen Handelns: die Verhältnis­mässigkeit.

In Artikel 5 der Bundes­­­verfassung, Absatz 2, heisst es:

Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnis­mässig sein.

Wenn die Regierung Verordnungen zur Corona-Bekämpfung erlässt, so stützt sie sich zunächst auf ein Sonder­recht in der Bundes­verfassung, auf Artikel 185 Absatz 3. Darin wird das Notverordnungs­recht des Bundes­rats geregelt:

Er kann, unmittelbar gestützt auf diesen Artikel, Verordnungen und Verfügungen erlassen, um eingetretenen oder unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen. Solche Verordnungen sind zu befristen.

Für den Spezialfall der Pandemie greift der Bundesrat zusätzlich zum Not­recht auf die Basis von Artikel 7 des Epidemien­gesetzes zurück. Dort heisst es:

Wenn es eine ausser­ordentliche Lage erfordert, kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landes­teile die notwendigen Massnahmen anordnen.

Diese «ausserordentliche Lage», die dem Bundesrat ausser­ordentliche Kompetenzen einräumte, mit denen er die Freiheits­rechte in der Schweiz empfindlich einschränkte, dauerte vom 16. März bis zum 19. Juni 2020. Es gab in jener Phase kaum ein Grund­recht, das nicht beschnitten worden wäre – erklärter­massen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und aus Sorge darüber, das Gesundheits­system könnte wegen Corona zusammen­brechen.

Doch selbst in dieser Extrem­situation konnte die Schweizer Regierung nicht uneingeschränkt schalten und walten.

Der Kern der Grund­rechte ist unantastbar

Eingriffe in die Grundrechte sind nur dann zulässig, wenn sie auf einer ausreichenden gesetzlichen Grund­lage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen oder dem Grundrechts­schutz Dritter dienen. Jede Einschränkung muss verhältnis­mässig sein – und der Kern der Grund­rechte ist unantastbar. Der Bundesrat darf nur dann zum Mittel der notrechtlichen Verordnung greifen, wenn eine schwere Störung sowie eine zeitliche und sachliche Dringlichkeit vorliegen. Und wenn die Regierung ihre Massnahmen nicht gestützt auf bereits bestehende Gesetze erlassen kann.

Per 19. Juni 2020 hat der Bundesrat die «ausser­ordentliche Lage» beendet. Seither befindet sich die Schweiz in der «besonderen Lage», die in Artikel 6 des Epidemien­gesetzes geregelt ist; und zwar so lange, bis die Regierung den Normal­zustand ausruft. Auch in der «besonderen Lage» verfügt der Bundes­rat, gestützt aufs Epidemien­gesetz, über zusätzliche Kompetenzen – aber er muss die Kantone zuerst anhören, bevor er Massnahmen anordnet.

Das Covid-19-Gesetz präzisiert diese Anforderung:

Der Bundesrat orientiert sich an den Grundsätzen der Subsidiarität, Wirksamkeit und der Verhältnismässigkeit. Er richtet seine Strategie auf die mildest- und kürzest­mögliche Einschränkung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens aus (…).

Ein ausgesprochen wichtiges Wort aus diesem Absatz ist: «kürzestmöglich».

Aus Notverordnungen wird ein Gesetz

Ursprünglich hat der Bundesrat die meisten Massnahmen zur Eindämmung des Corona­virus auf der Basis von «Covid-19-Verordnungen» erlassen. Doch Notverordnungen gelten höchstens sechs Monate; es sei denn, der Bundesrat legt dem Parlament einen Entwurf für ein Gesetz vor.

Die Regierung beschloss deshalb im April 2020, die im Zusammen­hang mit der Corona-Krise erlassenen Notverordnungen – die Covid-19-Verordnungen, aber auch weitere Verordnungen – in ein Bundesgesetz zu überführen. Im Juni 2020 schickte der Bundesrat das dringliche, aber grundsätzlich bis Ende 2021 befristete Covid-19-Gesetz in die Vernehmlassung. So sollten die per Notrecht erlassenen Massnahmen vom Parlament nachträglich abgesegnet werden.

Am 25. September 2020 stimmte das Parlament dem Covid-19-Gesetz zu, das den Ausnahme­zustand regelt. Weil das Gesetz für dringlich erklärt wurde, trat es sofort in Kraft. Seither wurde es mehrmals revidiert. Am vergangenen 13. Juni sagte die Schweizer Stimm­bevölkerung zum ersten Mal Ja zum Gesetz – mit 60 Prozent deutlich.

Am 28. November kommt das Covid-19-Gesetz nun zum zweiten Mal an die Urnen – weil erneut das Referendum ergriffen worden ist. Das Gesetz ist Grundlage sowohl für die weitere Bekämpfung der Pandemie als auch für die Unterstützungs­massnahmen zugunsten aller, die finanzielle Einbussen erlitten haben oder noch erleiden.

Abgestimmt wird diesmal nicht über das gesamte Gesetz, sondern nur über jene Änderungen, die das Bundes­parlament am 19. März 2021 beschlossen hat. Der Bundesrat schlug ursprünglich bloss ein paar wenige Änderungen vor, das Parlament hatte aber zusätzlichen Regelungs­bedarf gesehen und den Änderungs­katalog markant verlängert. Was schliesslich ins Gesetz gegossen wurde, betrifft acht sehr unterschiedliche Themen­bereiche.

Wozu genau können die Stimm­berechtigten nun konkret Ja oder Nein sagen?

Worum es am 28. November geht

Die Änderungen, um die es in dieser Abstimmung geht:

  1. Finanzielle Hilfe: Unter anderem wird die Härtefall­hilfe ausgebaut, die Kurzarbeits­entschädigung und die Unter­stützung für Arbeitslose und Selbstständig­erwerbende ausgeweitet; Kultur­schaffende, Kitas, Sportclubs und Veranstalter bekommen zusätzliche finanzielle Hilfe.

  2. Contact-Tracing: Der Bund hat zusammen mit den Kantonen ein schweizweites System zur Nachverfolgung der Kontakte von Infizierten sicherzustellen. Dieses System muss den Datenschutz gewährleisten. Die Kantone werden für ihren Aufwand entschädigt.

  3. Covid-Zertifikat: Eine Impfung, eine Genesung oder ein negatives Testergebnis soll einheitlich und fälschungs­sicher dokumentiert werden. Der Bund schafft dafür die gesetzliche Grundlage für ein national und international anerkanntes Covid-Zertifikat. Das ist einer der umstrittensten Punkte in dieser Abstimmungs­vorlage – und ein Artikel, der erst auf Anregung von Nationalrat Lorenz Hess von der Mitte-Fraktion in das Gesetz eingefügt wurde. Das Zertifikat erleichtert Auslands­reisen und erlaubt den Zutritt zu Innen­räumen wie beispiels­weise Restaurants, Fitness­clubs, Kinos oder Museen.

  4. Quarantäne: Geimpfte und Genesene müssen nach dem Kontakt mit einer positiv getesteten Person nicht mehr in Quarantäne. Auch diese Änderung ist umstritten – sie führe zu einer Diskriminierung der Ungeimpften, argumentieren die Gegnerinnen.

  5. Tests: Der Bund soll Covid-Tests fördern und die ungedeckten Kosten tragen.

  6. Medizinische Güter: Das Covid-Gesetz erlaubt es dem Bundesrat, wichtige medizinische Güter nicht nur zu beschaffen, sondern auch herstellen zu lassen.

  7. Politische Rechte: Nicht nur für Referenden, sondern auch für Volks­initiativen können während der Pandemie die Unter­schriften ohne Bescheinigung der Gemeinden eingereicht werden.

  8. Beschränkungen für den Bundesrat: Die Landes­regierung wird verpflichtet, die Kantone stärker in ihre Krisen­politik miteinzubeziehen. Sie muss die Einschränkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens so klein wie möglich halten.

Sagt die Schweizer Stimmbevölkerung Ende November Nein zum aktuellen Covid-Gesetz, müssten sämtliche Gesetzes­änderungen am 19. März 2022 ausser Kraft gesetzt werden; ein Jahr nach Inkraft­treten. So wollen es die Regeln bei dringlichen Bundes­gesetzen.

Was bedeutet das für das Covid-Zertifikat?

Bei einem Nein dürften ab dem 19. März 2022 also keine neuen Zertifikate mehr ausgestellt werden – weil es an einer gesetzlichen Grundlage fehlt. Bereits ausgestellte Zertifikate (für Geimpfte aktuell etwa 7 Millionen und für Genesene nochmals gut 300’000) – bleiben hin­gegen bestehen. National- und Ständerat hätten zudem die Möglichkeit, eine neue Gesetzes­grundlage für Zertifikate zu schaffen, zum Beispiel im Epidemien­gesetz. Auch dagegen könnte wieder ein Referendum ergriffen werden.

Einmal angenommen, die umstrittenen März-Gesetzes­änderungen würden vom Stimmvolk abgelehnt und müssten per 19. März 2022 ausser Kraft gesetzt werden – alle anderen Artikel im Covid-19-Gesetz, die vor März entstanden sind, wären davon nicht betroffen. Dazu kommt, dass die meisten dieser Bestimmungen (Stand heute) sowieso nur bis zum 31. Dezember 2021 in Kraft bleiben. So ist es im Gesetz festgehalten.

Das Covid-19-Gesetz, so jung und unbeständig es auch ist, hat eine begrenzte Wirkungszeit – die von Anfang an feststand. Das entspricht Sinn und Zweck eines Erlasses, der eine vorüber­gehende Ausnahme­situation zu regeln hat.

Herauszufinden, wie lange welcher Artikel in Kraft bleiben soll, über das Ende des laufenden Jahres hinaus, verlangt allerdings detektivisches Talent. Für diverse Bestimmungen ist nämlich eine längere Geltungs­dauer festgelegt worden; etwa für die finanzielle Unter­stützung oder aber für das Zertifikat. Die Zertifikats­grundlage soll bis Ende 2022 in Kraft bleiben. Falls der entsprechende Artikel in der kommenden Abstimmung nicht versenkt wird.

Der Schweiz stehen bis Ende November weitere emotionale Wochen bevor.

Was die Gegnerinnen sagen

Das Referendumskomitee gegen das Covid-19-Gesetz spricht von einer «extremen und unnötigen Covid-Verschärfung» und warnt vor dem Contact-Tracing: «Das bedeutet nichts anderes als eine umfassende elektronische Massen-Überwachung der Bürger, ihres Lebens und ihrer sozialen Kontakte, ihrer Bewegung und ihrer Reisen.» Auch linke, technologieaffine Kritikerinnen befürchten aufgrund der Zertifikats­pflicht eine Massen­überwachung. Weiter wird die «Spaltung der Gesellschaft» kritisiert: Ohne Zertifikat könnten gesunde Menschen nicht mehr vollständig am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben teil­nehmen. Die Quarantäne­regeln führten ausserdem zur Diskriminierung jener Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten oder könnten.

Die Folge davon: ein indirekter Impfzwang.

Das ist, wie bereits im Covid-19-Uhr-Newsletter der Republik nachzulesen war, ein durchaus valabler und auch kaum bestrittener Punkt für die Gegner.

Hingegen ist die Furcht vor einer Massen­überwachung eher unbegründet.

Was Kritiker sagen

Bedenken über die Macht­fülle der Regierung in Krisen­zeiten wie während dieser Pandemie äussern nicht nur Massnahmen­kritiker.

  • Pascal Couchepin, ehemaliger FDP-Bundesrat, sagte Ende Juli in der «Schweiz am Wochenende»: «Ich war nicht gegen Notrecht, ich war ja auch verantwortlich für den Absatz im Gesetz, der dem Bundesrat im Fall einer Epidemie Vollmachten gab. Aber ich hatte nie damit gerechnet, dass eine solche Epidemie zwei, drei Jahre dauern könnte.» Und weiter: «Was mich besorgt: Nach dem Zweiten Weltkrieg (…) brauchte es mehrere Volks­initiativen, um den Bundesrat zu zwingen, seine Vollmachten abzugeben. Die Situation scheint mir heute ähnlich.»

  • Andreas Kley, Professor für öffentliches Recht an der Universität Zürich, kritisierte vor zwei Wochen in einem Gastkommentar für die NZZ das Gesetz als «weiterhin verfassungs­widriges Vorhaben». «Der Bundesrat kann, kann, kann (…) Mit dem Covid-19-Gesetz hat der Bundesrat von der Bundes­versammlung ein Kompetenz­geschenk angenommen», und das Parlament habe mit diesem Geschenk «die schweizerische Demokratie grob beschädigt». (Weil der Gast­kommentar von Massnahmen­kritikern umgehend gefeiert wurde, folgten schnell Repliken, zum Beispiel vom Verein «Unser Recht»: «Selbst wenn das Gesetz inhaltlich dünn wäre, wäre das (…) gerechtfertigt. Krisen benötigen Handlungs­fähigkeit und Reaktions­schnelle. Dass die Legislative der Exekutive eine längere Leine liesse, wäre richtig. (…) Das Covid-19-Gesetz stellt dies sicher und wahrt die demokratisch gebotene Mitbestimmung des Parlaments noch dazu.»)

  • Beat Rieder, Walliser Mitte-Ständerat und Präsident der Kommission für Rechts­fragen des Ständerats, kritisierte Ende Oktober gegenüber dem «St. Galler Tagblatt» die Zertifikats­pflicht als «unhaltbar und grundrechts­widrig». Für Rieder ist das Covid-Zertifikat «ein Kontroll­system, welches offensichtlich geeignet ist, die Bevölkerung in der Schweiz zu spalten, und welches in Teilen der Bevölkerung für enorme Beunruhigung sorgt».

(Über Ausnahme­zustände und die Schwierigkeit, sie wieder zu beenden, wenn sich Regierungen einmal daran gewöhnt haben, führte die Republik zu Beginn der Pandemie Gespräche, die heute unverändert lesenswert sind:

Was die Befür­worter sagen

Auch die Befürworter geben offen zu, dass das Covid-Gesetz keinen Schönheits­wettbewerb gewinnen würde. Sie appellieren an den Pragmatismus.

Der Bundesrat und eine (überaus grosse) Parlaments­­mehrheit empfehlen, die abgeänderte Gesetzes­fassung anzunehmen. Was die besonders umstrittenen Covid-Zertifikate angeht, betont die Regierung, diese stünden nicht nur den Geimpften zur Verfügung, sondern auch genesenen und getesteten Personen. Die Zertifikate seien freiwillig; sie erleichterten das Reisen im Ausland und trügen im Inland dazu bei, dass auf Schliessungen oder Verbote auch bei einer verschlechterten Pandemie­situation verzichtet werden könne.

Funfact: Weil sich der Bundesrat bei der Bekämpfung der Pandemie nach wie vor in erster Linie aufs Epidemien­gesetz stützt, kann er selbst dann, wenn das Covid-19-Gesetz abgelehnt würde, neue Massnahmen anordnen.

Zum Beispiel die Masken­pflicht: Sie würden wir auch an der Urne nicht los.