Tunnelblick
Die Abstimmungsdebatte zum Covid-Gesetz hält ein paar Überraschungen bereit. Zum Beispiel, dass verdiente Aktivisten im Kampf gegen Überwachung jedes Mass verlieren.
Von Daniel Binswanger, 30.10.2021
Jetzt also das Covid-Zertifikat. Wir leben in verworrenen Zeiten, Zeiten der Auflösung politischer Frontlinien, des Irrelevant-Werdens von Partei-Loyalitäten, der themenbezogenen und instabilen Allianzen. Der Abstimmungskampf um das Covid-Gesetz beweist nun eindrücklich: Die Verwirrung ist inzwischen gross geworden. Bedrohlich gross.
Bis zu einem gewissen Grad stellt die neue Ungewissheit zwar einen Gewinn dar für die Politik: weil neue Formen der Mobilisierung entstehen; weil flexible und informelle Netzwerke grosse Wirkung haben können; weil Sachkompetenz und Informiertheit neue Möglichkeiten bekommen, auf unmittelbare Weise zu einem Machtfaktor zu werden.
Sie ist aber auch ein Problem: weil politische Systeme nicht mit einem unbegrenzten Mass an Unvorhersehbarkeit umgehen können; weil Parteien nicht nur träge Machtmaschinen, sondern auch Integrationsinstanzen sind; weil ein funktionierender öffentlicher Diskurs mehr sein muss als die Summe gepushter Spezialagenden.
Nun hat sich mit den «Geimpften gegen das Zertifikat» eine neue Gruppe von Covid-Gesetz-Gegnern in den aktuellen Abstimmungskampf eingeschaltet. Sie setzt sich primär aus Netzaktivistinnen zusammen, deren Ablehnung des Covid-Gesetzes nicht durch Impfwiderstand oder Massnahmenkritik motiviert ist, sondern durch die Befürchtung, das Covid-Zertifikat könnte dem Überwachungsstaat Vorschub leisten. Sie stellt die Behauptung in den Raum, es generalisiere eine Ausweispflicht, die Schule machen und die Grundrechte bedrohen könne, und es diskriminiere auf unzulässige Weise die Ungeimpften, auch Menschen, die sich gar nicht impfen lassen können.
Spätestens seit sich mit Autorin Sibylle Berg eine prominente linke Stimme starkmacht für die Zertifikatsablehnung und damit ihre üblichen politischen Verbündeten verärgert (im Chor jubeln stattdessen Alex Baur in der «Weltwoche» und Benedict Neff in der NZZ), beginnen die geimpften Zertifikatsgegner eine gewisse Wirkung zu entfalten. Es wäre von bitterer Ironie, wenn ausgerechnet Aktivisten wie Hernâni Marques, der seit Ausbruch der Pandemie über das Öffentlichkeitsgesetz das Bundesamt für Gesundheit unter Druck gesetzt hatte, um eine konsequentere und weniger Opfer in Kauf nehmende Corona-Politik zu erzwingen, nun das Fundament der heutigen Covid-Strategie zerstören würden – das Zertifikat.
Die Republik-Autorinnen Adrienne Fichter und Patrick Seemann haben in einem Faktencheck dargelegt, weshalb die Überwachungsstaat-Bedenken gegenüber dem Covid-Gesetz zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber vollkommen überzogen sind. Weshalb die grossen Tech-Konzerne schon heute viel tiefer in unsere Privatsphäre eindringen und schon heute viel mehr über uns wissen, als das auf der Basis der Zertifikats-App jemals der Fall sein könnte. Das scheint aber eine untergeordnete Rolle zu spielen für einen harten Kern von Netzaktivistinnen. Agenda ist Agenda. Und jeder noch so weit hergeholte und noch so fragwürdige Anlass muss dafür herhalten, ein quasi monothematisches Programm mit allen Mitteln durchzuziehen.
Es ist ja völlig richtig: Die in der Informationsgesellschaft entstandenen Überwachungsmöglichkeiten sind eine fundamentale, vielleicht die fundamentale Herausforderung für heutige Demokratien. Aber nein: Es ist dennoch nicht so, dass deshalb alle übrigen Menschheitsprobleme sekundär wären. Und dass Abwägungsfragen erst gar nicht gestellt werden müssten.
Wir leben im Zeitalter der politischen Idiotie – Idiotie in seinem etymologischen Sinne, das heisst im Sinne der Eigenwilligkeit, der vollständigen Fixierung auf ein bestimmtes eigenes Anliegen und auf nichts sonst. Nicht nur im Bereich der Netzpolitik nimmt die aktivistische Komplexitätsreduktion zuweilen bizarre Formen an.
So ist es grossartig und extrem verdienstvoll, dass die Klimabewegung die Massnahmen zur Erfüllung der CO2-Neutralität zum unverhandelbaren Zentrum der heutigen Politik machen will. Dennoch ist es nicht so, dass sich damit die Fragen, wen entsprechende Massnahmen betreffen und wie die sozialen Folgen aufgefangen werden können, einfach erübrigen.
Es ist bereichernd und äusserst wichtig, dass das Bewusstsein für gendergerechtes und Diskriminierungen vermeidendes Sprechen immer stärker wird und immer nachhaltiger die Praxis prägt. Dennoch wird an dem Tag, an dem wir endlich gelernt haben, korrekt über sie zu sprechen, diese Welt nicht urplötzlich gerecht und diskriminierungsfrei werden.
Auch die relevantesten und legitimsten Anliegen dürfen nicht fetischisiert werden, sondern müssen irgendwie gewichtet und eingeordnet werden in unsere Gesamtwahrnehmung der politischen Realitäten. Sonst führen sie zu Realitätsverlust. Oder dazu, dass überall in Europa die Fallzahlen wieder anziehen, sich die Intensivstationen wieder füllen – und Sibylle Berg in gemeinsamer Front mit Nicolas Rimoldi das Covid-Zertifikat zu Fall bringt.
Natürlich sind solche Irrläufe des politischen Engagements kein neues Phänomen. Man kann sie mit einem klassischen Begriffspaar interpretieren als Ausdruck des Gegensatzes von Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Der Konflikt zwischen politischem Realismus und ideologischem Anspruch ist gewissermassen der Motor der Weltgeschichte. Unterlag politisches Engagement nicht schon immer dem Spannungsverhältnis zwischen Realpolitik und Moral?
Was neu ist in der heutigen Zeit oder sich zumindest stark verschärft hat, ist nicht dieser Gegensatz, sondern die immer stärkere Fragmentierung der ideologischen Weltzugänge. Der Ein-Thema-Aktivismus ersetzt mehr und mehr die umfassende Welterklärung. Das hat auch positive Effekte. Doch was heute die politische Vernunft gelegentlich zu bedrohen scheint, ist weniger die reine Lehre als die monothematische Regression.
Interessanterweise wird gegen radikalen Aktivismus der klassische Vorwurf, er neige zum «Totalitarismus», eigentlich gar nie mehr erhoben. Das ist inzwischen zu offensichtlich absurd. Wenn schon, neigt er zum «Fragmentarismus».
Es gibt allerdings auch gute Nachrichten – obschon auch in diesem Fall die Konfusion nur noch grösser werden dürfte. Die Aargauer SVP-Kantonalpartei, Homebase ihres Präsidenten Andreas Glarner, des vermutlich bestausgewiesenen Betonkopfes der Schweizer Politik, hat vor drei Tagen knapp entschieden, das Covid-Gesetz zu unterstützen. Vielleicht hat im Zuge der Schwächung der klassischen Volksparteien die ideologische Sklerose ja einfach die Seiten gewechselt: Der Ein-Themen-Aktivismus wird verbohrt und weltfremd. Aber die schweren Tanker der fundamentalistischen Welterklärung werden etwas wendiger – und sogar zu pragmatischen Kurswechseln fähig.
Illustration: Alex Solman