Binswanger

Blind, aber mit Vollgas

Die Corona-Politik der Schweiz setzt wieder auf Turbo-Öffnungen. Dafür zahlten wir schon einmal einen entsetzlichen Preis. Und diesmal?

Von Daniel Binswanger, 17.04.2021

Die Eidgenossenschaft hat die erste Welle bekanntlich glänzend gemeistert. Die Regierung reagierte schnell und konsequent, organisierte Kurzarbeit und wirtschaftliche Nothilfe mit einmaliger Geschwindigkeit. Sie hielt einen Shutdown inklusive Schul­schliessungen so lange aufrecht, bis die Fallzahlen in den einstelligen Bereich und damit auf ein Niveau gesunken waren, auf dem das Infektions­geschehen durch konsequente Test- und Tracing-Strategien leicht hätte beherrschbar bleiben müssen.

Doch dann schlug das Pendel massiv in die Gegen­richtung aus.

Dieselbe Landesregierung, die bei Ausbruch der Krise nicht zögerte, die Verantwortung zu übernehmen, die ausser­ordentliche Lage auszurufen und einen Shutdown zu verordnen, wollte im letzten Sommer, als die Pandemie schon weitgehend besiegt schien, lieber ihren Triumph auskosten denn als übervorsichtige Spassbremse dastehen. Die Medien überschlugen sich in polternden Öffnungs­forderungen. Die Kantone wollten schnellstens ihre Macht zurück. Politisch war diese Wende nach­vollziehbar. Pandemisch war sie eine Katastrophe.

Auch deshalb wurde die Schweizer Antwort auf die zweite Welle zu einem unfassbaren Desaster. Tausende von Bürgerinnen, die nicht hätten sterben müssen, wenn die Politik die Warnungen der Wissenschaft ernst genommen und verantwortungs­voll agiert hätte, sind zwischen Oktober und Januar der Pandemie zum Opfer gefallen. Die Eindämmungs­massnahmen im Spätherbst erfolgten zu spät und zu zögerlich. Sie stiessen auf enorme Widerstände, und das Regime der besonderen Lage führte zu Konsultationen mit den Kantonen, die sich hinzogen, während täglich gegen hundert Menschen starben.

Schliesslich liessen die horrenden Opfer­zahlen und die Überlastung des Gesundheits­systems das entschlossene Brechen der Welle jedoch alternativ­los werden. Das Pendel schlug wieder kräftig in die Gegen­richtung aus. Mit den Massnahmen vom 22. Dezember (Schliessung von Restaurants, Freizeit-, Sport- und Kultur­einrichtungen) und vom 18. Januar (Homeoffice-Pflicht, Schliessung von Läden des nicht täglichen Bedarfs) liessen sich die Fall­zahlen bis Ende Februar wieder senken, wenn auch nie unter den 7-Tage-Durchschnitt von 1000.

Dass beim Abflauen der zweiten Welle niedrige Fallzahlen gar nicht mehr angestrebt wurden, dass Anfang März mit der Wieder­eröffnung des Detail­handels auf dem Niveau von 1000 Fällen pro Tag ein bedeutender Lockerungs­schritt bereits vollzogen wurde, demonstriert, wie weitgehend die Zielgerichtetheit, welche die Schweiz in der ersten Welle zu mobilisieren vermochte – die Schweiz, die Corona kann –, inzwischen abhanden­gekommen ist. Dennoch erscheint die Phase, die Ende Dezember begann, als eine von minimaler Vorsicht und einem wenigstens kohärenten Konzept geprägte: Die bundesrätliche Taskforce schien mit ihren Empfehlungen besser durch­zudringen, die mutierten Varianten wurden rasch erfasst und in die Lagebeurteilung einbezogen.

Als die Landesregierung am 22. März trotz des fortgesetzten Anstiegs der Fallzahlen von Verschärfungen absah, auf weitere Lockerungen aber ebenfalls praktisch vollständig verzichtete, stiess sie mit dieser Vorgehens­weise auf mächtigen politischen Wider­stand, konnte sich aber auf die Modell­rechnungen der Taskforce berufen. Die zweite Welle sass den Verantwortungs­trägern offensichtlich tief in den Knochen. So folgenschwer und fahrlässig wie im Oktober sollte die wissenschaftliche Lage­beurteilung nicht ein zweites Mal ignoriert werden.

Ende Februar wurde erstmalig ein Kriterienkatalog für weitere Öffnungs­schritte kommuniziert, der das Erwartungs­management verbessern sowie Planbarkeit und Perspektiven schaffen sollte, und offiziell von den Kantonen abgesegnet. Am 19. März folgte der Kriterienkatalog für allfällige Verschärfungen. Zudem wurde mit dem 3-Phasen-Plan der Impf­fortschritt auf transparente Weise in die Entscheidungs­grundlagen einbezogen. So viel Nachvollziehbarkeit war nie.

Aber hélas: Das alles hat genau bis letzten Mittwoch gegolten. Jetzt schlägt das Pendel erneut massiv zurück. Es wird sich zeigen, ob auch wieder ein epidemiologischer GAU ins Haus steht.

Offensichtlich war die Vernunftehe zwischen Wissenschaft und Bundesrat von kurzer Dauer. Beunruhigt musste man schon sein, als am letzten Samstag Manuel Battegay, einfluss­reiches ehemaliges Mitglied der Taskforce und bisher niemals als offensiver Kritiker der Landes­regierung aufgefallen, auf Twitter klipp und klar die Forderung aufstellte: «Die Fallzahlen = Patientinnen und Patienten müssen jetzt runter!» Ob er am letzten Wochen­ende schon ahnte, welche Überraschung uns der Bundesrat am Mittwoch bereiten würde?

Gefolgt wurde diese präventive Ermahnung von den Reaktionen der Wissenschaftlerinnen auf die Bekannt­gabe der neuen Lockerungs­schritte, mit denen offensichtlich kein Mensch gerechnet hatte. Christian Althaus spricht von einem Schuss ins eigene Knie. Die Virologin Isabella Eckerle warnt: «Die heute beschlossenen Lockerungen bei steigenden Fallzahlen […] werden unnötig Kranke und Tote zur Folge haben.» Dominique de Quervain – das einzige Taskforce-Mitglied, das in Reaktion auf den Kurswechsel zurück­getreten ist – hält fest: «Schon bald wird man einen umso höheren Preis dafür bezahlen müssen

Und ein verzweifelt um Diplomatie bemühter Infektiologe Jan Fehr sagt auf SRF: «Für mich ist es das Gefühl, über eine Kreuzung zu fahren bei Orange.» Um sicher­zugehen, dass jeder die Dramatik seines Bildes versteht, fügt der Leiter des Departements Public & Global Health an der Uni Zürich hinzu: «Und dann schluss­endlich noch die Augen zu schliessen.» Blind, verspätet, das Ampel­system missachtend, aber mit Vollgas: Das ist aus ärztlicher Warte die diplomatisch bestmögliche Beschreibung des aktuellen Regierungs­handelns.

Noch viel lauter als alle diese Kommentare ist jedoch das penetrante Schweigen der Taskforce. Ausser zartem Einspruch gegen die Öffnung der Fitness­center durch Taskforce-Präsident Martin Ackermann – nichts. Schon seit einigen Wochen hat sich der Kommunikations­stil der Taskforce merklich gewandelt. Ausserhalb der offiziellen Kanäle werden öffentliche Stellung­nahmen selten, während der fast allwöchentlichen Presse­konferenz achtet der Taskforce-Präsident penibel darauf, fast jeden seiner Sätze zu beginnen mit «aus wissenschaftlicher Sicht». Das kann offenbar auch heissen: vorbehaltlich der völligen Irrelevanz für den Entscheidungs­prozess.

Es war verständlich, dass die Taskforce weniger offensiv kommuniziert, solange man den Eindruck hatte, dass der Bundesrat bei seinen Entscheiden ihre Analysen auch mitberücksichtigt. Dieser Eindruck besteht seit Mittwoch beim allerbesten Willen nicht mehr. Ob es da «aus wissenschaftlicher Sicht» nicht angezeigt wäre, die Dinge jetzt deutlich beim Namen zu nennen? Bevor wir ein kleines Remake des letzten Novembers erleben.

Ein grosses Rätsel bleibt: Wie kommt es überhaupt zum aktuellen Pendel­ausschlag? Alain Bersets Recht­fertigung, man müsse auf die eigenen Öffnungs­kriterien keine Rücksicht mehr nehmen, weil Impfungen und Testungen inzwischen Fortschritte gemacht hätten, ist absurd. Die Durchimpfung und das Testen waren von Anbeginn die eingepreiste Grundlage der Öffnungs­kriterien. Vor allem aber: Der Impffortschritt bleibt weiterhin empfindlich zurück hinter der Geschwindigkeit, die von den bisherigen Modell­rechnungen vorausgesetzt wird. Die Zielgrösse von täglich 100’000 Dosen ist immer noch nicht erreicht. Die Schweiz bekommt bisher weder die Impfungen noch die Massen­tests wie vorgesehen auf die Reihe. Und diese Pannen sollen Turbo-Öffnungen rechtfertigen?

Auch das Argument, der Jugend seien die Massnahmen nicht mehr zumutbar, wird verblüffend hoch gehängt. St. Gallen, Liestal: Alles schwer bedenklich! Einigermassen surreal ist die Unermüdlichkeit, mit der sämtliche Schweizer Medien sich auf die Jagd nach Teenagern gemacht haben, denen man das Mikrofon hinhalten kann. Du findest es also auch cool, wenn du wieder Work-out machen kannst? Wow!

Es wäre allerdings ein absolutes Novum, wenn die Schweizer Politik tatsächlich durch einen Ostschweizer Gross­botellón und eine Demonstration mit ein paar tausend Unentwegten diktiert würde. Natürlich ist es sehr begrüssens­wert, dass die zunehmende psychische Belastung für junge Menschen anerkannt und adressiert wird. Aber die Behauptung, dies sei nun die Grundlage für die Pandemie­politik, ist, gelinde gesagt, nicht ernst zu nehmen.

Nein, es sind wieder einmal viel prosaischere Gefilde, in denen substanzielle Gründe für den erratischen Kurswechsel gesucht werden müssen. Am Freitag letzter Woche forderte Arbeitgeber­präsident Valentin Vogt eine Durch­seuchung von bis zu 30’000 täglichen Fällen, am Mittwoch folgte der bundes­rätliche Schwenk. Eine zufällige Abfolge?

Sicherlich, Vogt löste einen Shitstorm aus, musste zurückkrebsen, wurde sogar von Economiesuisse in den Senkel gestellt. Er hat es mit der altbewährten Strategie der exzessiven Maximal­forderung, die dann eingemittet werden soll, für einmal etwas zu bunt getrieben. Aber der ungehemmte Druck nicht nur sämtlicher Wirtschafts­verbände, sondern auch der bürgerlichen Parteien – wie die Frühlings­session dramatisch vor Augen führte, nicht nur der SVP, sondern auch der FDP und der Mitte –, hat offensichtlich sein Werk getan. Und vielleicht ist auch für den Gesundheits­minister, wie schon im letzten Frühsommer, nun wieder der Moment gekommen, wo es politisch opportun erscheint, ja nicht als Spiel­verderber dazustehen.

Die grösste Herausforderung der Pandemie – wir lernten die Lektion auf denkbar brutale Weise – liegt darin, dass sie in Wellen­bewegungen verläuft. Die grösste Heraus­forderung der Pandemie­politik sind ihre irrationalen Pendel­bewegungen. Wir haben für das Hüst und Hott schon einmal einen entsetzlichen Preis bezahlt. Und diesmal?

Illustration: Alex Solman

Hinweis: Wir haben in einer früheren Version geschrieben, das «Regime der ausser­ordentlichen Lage im Spätherbst» habe zu Konsultationen mit den Kantonen geführt – richtig ist, dass wir uns damals in der besonderen Lage befunden haben. Wir entschuldigen uns für den Fehler.