Liebe Leserinnen und Leser – and everyone beyond
Politik ist allzu oft, wenn jeder glaubt übervorteilt worden zu sein.
So wie bei den Covid-Zertifikaten, die man seit Mitte September für den Ausflug in die Bar, ins Restaurant oder ins Sportcenter braucht. Und bei den wiederholten Covid-Tests, ohne die eine ungeimpfte und nicht nachweislich genesene Person nicht an ein solches Zertifikat kommt.
Am Freitag hat der Bundesrat entschieden, dass der Bund nur noch die aktuelle Woche für diese Testkosten aufkommt (mit ein paar wenigen Ausnahmen).
Er bleibt also dabei, dass er ab dem kommenden Montag, dem 11. Oktober, jede Testerin selber bezahlen lassen will, weil schliesslich demnächst fast alle Menschen Gelegenheit gehabt hätten, sich impfen zu lassen.
Dies auch, weil die Testerei den Bund und damit letztlich die Steuerzahler sonst dieses Jahr voraussichtlich 2,4 Milliarden Franken gekostet hätte. (Zum Vergleich: Das ist etwa ein Fünftel aller Direktzahlungen, die jedes Jahr an die Schweizer Bäuerinnen fliessen.) Die Kosten für zehn Tage Gratistests schätzte der Bundesrat am 24. September auf rund 160 Millionen Franken.
Diese Härte gegenüber den Testern dürfte einige Bürgerinnen sehr freuen – viele sind der Ansicht, das sei eigentlich nicht Sache der Allgemeinheit. Viele andere waren allerdings schon vorher sauer: Darüber, dass sie überhaupt ein Zertifikat vorzeigen müssen – Ungeimpfte empfinden das oft als Druckversuch, um sie vom Impfen zu überzeugen.
Was natürlich stimmt.
Was aber auch stimmt: Die Testmöglichkeit an sich war bereits ein politisches Zugeständnis.
Gegen den diffusen politischen Missmut hilft es manchmal, ein paar Dinge klar beim Namen zu nennen – das hat nicht selten den Effekt, die allgemeine Gereiztheit etwas zu mildern. Also.
1. Die Testmöglichkeit war ein politisches Zugeständnis
Das oberste Anliegen der Zertifikatspflicht ist es, die Wahrscheinlichkeit von Covid-Infektionen in gemeinsamen öffentlichen Räumen zu senken. Alternativ könnte man die Bäder und Bars auch einfach schliessen – aber das wäre aus verschiedenen Gründen (potenzielle wirtschaftliche Schäden, Impfmöglichkeit etc.) unverhältnismässig.
Stattdessen darf – mit Zertifikat – nur hinein, wer geimpft, genesen oder getestet ist. Genau das aber ist bereits ein erster politischer Kompromiss. Aus zahlreichen Studien (siehe etwa hier) weiss man inzwischen, dass Covid-Tests eine (zu) hohe Rate an falsch negativen Ergebnissen haben (viele Getestete also eigentlich positiv sind), insbesondere wenn der Test zu einem frühen Zeitpunkt nach einer Ansteckung gemacht wird. Darum gibt es beispielsweise in Deutschland auch die Option, als Restaurant den Einlass auf «2G» (geimpft oder genesen) zu beschränken und dafür weniger Auflagen (Masken, Gästezahl) erfüllen zu müssen.
Dass sich die Schweiz wie viele andere Länder entschieden hat, auch Tests für ein Zertifikat zu akzeptieren, ist ebenfalls der Verhältnismässigkeit geschuldet. Schliesslich senkt ein Zertifikat auf Testbasis die Wahrscheinlichkeit von Ansteckungen doch etwas mehr als gar nichts. Insbesondere unter der Annahme, dass sich viele Ungeimpfte von der ständigen Testerei doch hie und da abschrecken lassen und den Ausgang reduzieren.
Oder, tatsächlich: sich impfen lassen.
2. Ja, das Ziel waren und sind mehr Impfungen
Experten haben es in den letzten anderthalb Jahren immer wieder betont: Massnahmen sind kein Selbstzweck. Ihr Ziel ist es immer, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen – auf eine Weise, die Infektionen erschwert. Das kann man mit dem Holzhammer erreichen, also etwa mit Verboten und Shutdowns, aber eben auch mit dem, was Ökonomen Nudging nennen: also mit Anreizen, die Bürgerinnen in eine bestimmte Richtung schubsen.
Das kann eine simple Geldprämie oder eine andere Belohnung sein. So wie die kostenlosen Bratwürste, die im deutschen Bundesland Thüringen an Impfwillige verteilt wurden. Oder die neue Idee des Bundesrats, dass 50 Franken bekommen soll, wer jemanden vom Impfen überzeugt.
Nudging kann aber auch das Gegenteil sein: Hindernisse, Mühsal oder Kosten, die einen dann veranlassen, vielleicht doch lieber den anderen Weg zu nehmen.
In diesem Sinne soll durchaus auch die Zertifikatspflicht wirken: Weil das ständige Testen tatsächlich sehr mühsam ist, entscheidet sich der eine oder die andere vielleicht doch lieber fürs Impfen – so die Hoffnung.
Die Nudging-Methode ist nicht unumstritten – Menschen mit Zuckerbrot und Peitsche traktieren?! –, und vor allem ist essenziell: Menschen spüren das. Wenn Ungeimpfte sich durch die Zertifikatspflicht gestupst und ermahnt fühlen, so ist diese Wahrnehmung richtig.
Und ja, die Überlegung, die Testkosten an die Bürger zu übergeben, ist jetzt ein weiteres Signal in diese Richtung: Es sei nicht Sache der Allgemeinheit, länger die Testkosten für Personen zu übernehmen, die sich nicht impfen lassen wollten, hiess es vom Bundesrat.
Es war übrigens nicht so, dass die Parteien geschlossen hinter der Regierung gestanden hätten, ganz im Gegenteil. Die FDP sprach sich als einzige Partei offensiv dafür aus, dass Tester die Kosten selber tragen sollten, mit teilweiser Unterstützung der Grünliberalen. Alle anderen Parteien sprachen sich tendenziell dafür aus, dass der Bund die Kosten weiter übernehmen soll. Insbesondere die SVP.
3. Endlich Ideen!
Nun macht der Bundesrat den Ungeimpften das Leben noch ein bisschen mühsamer und teurer. Egal, wie man persönlich diesen Entscheid beurteilt: Die Schweiz hat sich die individuelle Wahlfreiheit beim Impfen eine beachtliche Menge Geld und Geduld kosten lassen.
Gleichzeitig kann man auch als Impfbefürworterin durchaus kritisch sein, was die Behörden bisher an Überzeugungsarbeit, Antworten und Impfmöglichkeiten geboten haben. Die europaweit spektakulär tiefe Impfquote ist ziemlich sicher kein Zufall (und es wäre seltsam, wenn die Impfskepsis in allen vier Himmelsrichtungen gleich nach der Grenze stark fällt).
Vergangene Woche erschien in der Republik ein Text aus Dänemark. Alle, die sich dafür interessieren, wie ein Land auch ohne Zwängerei eine hohe Impfquote bekommen kann, finden da spannende Erklärungen.
Am Freitag hat der Bundesrat auch einige mutige Ideen zu den Kantonen in die Vernehmlassung geschickt: Eine «nationale Impfwoche» soll es geben, Dutzende neue mobile Impfbusse sollen zu den Menschen hinfahren, 1700 Berater Aufklärungsarbeit leisten – und all jene sollen belohnt werden, die ihre Freundinnen vom Piks überzeugen.
150 Millionen Franken soll diese Offensive kosten – also etwas weniger als 10 Tage Gratistests.
Das sollten Sie diese Woche wissen:
Ein Medikament gegen Covid-19 scheint sich in Studien zu bewähren. Letzte Woche haben Sie in diesem Newsletter unter anderem gelesen, warum es so schwierig ist, ein Medikament gegen das Sars-CoV-2-Virus zu entwickeln. In der Zwischenzeit hat die Pharmafirma Merck Zwischenergebnisse aus einer Studie verkündet (sie sind noch nicht unabhängig überprüft worden). Das Medikament heisst Molnupiravir und hindert das Virus daran, sich im Körper zu vermehren. Wenn es innerhalb von fünf Tagen nach einer Ansteckung geschluckt wird, sinke das Risiko sehr deutlich, dass man trotzdem ins Spital müsse, sagt die Herstellerin. Bis es in der Schweiz angewendet werden könnte, wird es aber auf jeden Fall noch eine Weile dauern.
In der Schweiz kommt ein dritter Impfstoff zum Einsatz. Neben den beiden Impfstoffen von Moderna und Pfizer können sich Impfwillige nun auch für den Vektor-Impfstoff von Johnson & Johnson entscheiden. Die Hoffnung der Behörden ist, dass sich nun Menschen impfen lassen, welche der mRNA-Technologie der beiden anderen Impfungen skeptisch gegenüberstehen. Wäre zu hoffen, denn nach einem kurzen Anstieg Mitte September ist die Impfkurve wieder abgeflacht. 150’000 Dosen hat die Schweiz eingekauft.
Australien und Neuseeland haben die Infektionen sehr lange bei praktisch null gehalten – jetzt geben sie auf. Mit der hochansteckenden Delta-Variante ist die sogenannte Elimination-Strategie praktisch unmöglich geworden. Beide Länder wollen nun Neuansteckungen auf geringem Niveau tolerieren, statt sie mit schnellen und harten Lockdowns jedes Mal auszutrocknen. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern verkündete den Schritt heute Morgen. Und Australien kündigte vergangene Woche an, es werde im November die Ein- und Ausreise für geimpfte Bürgerinnen erlauben.
Und zwei Lesetipps aus der Republik:
Seit Beginn der Covid-Pandemie kursieren viele Zahlen, die ein Bild der Situation auf Schweizer Intensivstationen vermitteln sollen. Was verbirgt sich dahinter für den Alltag in der Pflege? Carmen Karde ist am Zürcher Unispital mitverantwortlich für drei Intensivpflegestationen und schildert in ihren eigenen Worten, wie herausfordernd die Lage derzeit ist.
Sind aller guten Dinge drei (Dosen)? Die ersten Länder verimpfen jetzt sogenannte Booster-Shots. Macht das Sinn? Vorweg: Genau genommen ist sich die Fachwelt nicht einmal einig, was genau ein Booster eigentlich ist. Sollten Sie sich um eine dritte Impfung bemühen? Und gibt es vielleicht bald Alternativen? Alles, was Sie dazu wissen sollten.
Und zum Schluss: Das Republik-Ministerium für Musikgeschmack empfiehlt
Was macht eine Musikerin, die wegen der Pandemie nur selten auftreten kann? Sie hört daheim Musik. Und übt dann gleich ein paar ihrer Lieblingsnummern ein. Miley Cyrus hat schon früher gern Lieder von anderen gesungen, seit Corona ist aber nichts mehr sicher vor ihr. Sie zeigt Madonna, wie «Like a Prayer» in der Interpretation einer überragenden Sängerin klingt. Rockklassiker von Blondie, Cranberries, Hole, Nine Inch Nails oder Pink Floyd schmettert sie mit einer Verve, dass manche Originale verblassen. (Wobei auch eine Miley Cyrus nicht hexen kann, die Kollaboration mit Metallica verlinken wir daher nicht, die müssen Sie bei Interesse und Leidensbereitschaft schon selbst suchen.) Lassen Sie sich von dieser Stimme Corona-Ärger und Herbsttrübsal wegblasen – auch oder gerade wenn Sie bis hierhin im Irrglauben lebten, diese Miley Cyrus sei doch nur was für Teenies.
In diesem Sinne: Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.
Reto Aschwanden, Oliver Fuchs und Olivia Kühni
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Während die Berge von Toilettenpapier aus den panischen ersten Wochen der Pandemie wohl unterdessen abgebaut sein dürften, wagen wir die Behauptung: In den Zivilschutzkellern der Nation lagern noch immer tonnenweise ungenutzte Trockenpasta. Auch bei Ihnen? Wir gratulieren! Was damals als Hamsterkauf verlacht wurde, entpuppt sich jetzt als weise Geldanlage. In den letzten Wochen sind nämlich die Preise für Hartweizen in die Höhe geschossen – wie die «Zeit» schreibt, droht sogar eine globale Nudelknappheit. Lassen Sie also das gelbe Gold ruhig weiter im Keller – vielleicht sind Sie in ein paar Monaten Fusilli-Millionär!