Wir haben ihn so geliebt, den Rechtsstaat
Wird der «Übergang in die neue Realität» zur Dystopie? Der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer sieht aufgrund der Corona-Notverordnungen «erhebliche Grundrechtsprobleme» – und ist besorgt, ob das Parlament wieder Tritt finden wird.
Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Kostas Maros (Bilder), 17.04.2020
Wir Schweizerinnen sind ein freiheitsliebendes Volk. Das haben wir von Wilhelm Tell gelernt. Doch die Corona-Krise lehrt uns, dass wir unseren preussischen Nachbarn in Sachen Untertänigkeit in nichts nachstehen. Nicht dass ein Lockdown unsinnig wäre. Aber die Vehemenz, mit der zahlreiche Hobbyvirologen aus geräumigen Altbauwohnungen totale Ausgangssperren forderten, gab uns zu denken. «Bleibt zu Hause» an seinen Klarnamen anzuhängen, wurde auf Social Media zum Lieblingsprädikat im Wettbewerb darum, der beste vernünftigste Bürger zu sein.
Das Parlament hat sich zurückgezogen. Endlich Sendepause. Nie stand es um unsere Psychohygiene besser als in den frühen Märzwochen. Aeschi, Martullo, Gössi, Jositsch – alle waren sie von der Bildfläche verschwunden. Stattdessen blüht die Nachbarschaftshilfe, und endlich wird der wahre gesellschaftliche Wert der schlecht bezahlten Lohnarbeiterinnen im Detailhandel und in der Pflege erkannt. Auf der anderen Seite wuchert das Denunziantentum. Der Schweizer Kleinbürger entdeckt seine Kernkompetenz: flink die Notrufnummer 117 wählen, wenn sich irgendwo Menschen im öffentlichen Raum bewegen. Es könnte ja jemand gegen die Corona-Verordnung verstossen.
Wo steuert diese Gesellschaft hin?
Der Bundesrat regiert seit Wochen mithilfe von Notverordnungen. Alle Macht in den Händen der Exekutive. Der Kanton Aargau, nicht nur die Mitte der Schweiz, sondern auch das Zentrum der Schweizer Repression, fängt sogleich an, mit einer flächendeckenden illegalen Kameraüberwachung Verstösse gegen die Corona-Verordnung zu ahnden. In unserem katholischen Lieblingskanton Luzern beginnt die Polizei damit, Menschen in den Garten zu schauen, um sicherzustellen, dass nicht etwa sechs, sondern wirklich nur fünf Leute am österlichen Grillfest feinste Bell-Bratwürste brutzeln.
Als die durch das Homeoffice bedingten Degenerationserscheinungen zwischen der morgendlichen Yoga-Einheit und dem nachmittäglichen Bananenbrotbacken für kurze Zeit nachlassen, fällt uns zwischen unseren Lieblingsvampir-Romanen der «Twilight»-Serie und der neuen, überaus genialen Autobiografie von Roger Schawinski («Erfolgsrezepte eines Pioniers») ein Buch von Carl Schmitt in die Hände. «Politische Theologie» heisst es. Der erste Satz hat es bereits in sich: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.»
Wir fragen uns: Hat dieser Carl Schmitt, Staatsrechtler, Faschist und Unterstützer des Nationalsozialismus, dem das Parlament ein «Gräuel» war, nicht einen weit klareren Begriff, wie politische Herrschaft funktioniert, als liberale Theoretiker, die unsere Gesellschaft als einen Vertragsschluss zwischen freien Individuen betrachten, während sich unsere Bundesversammlung beim ersten Anzeichen einer Krise für mehrere Monate umgehend selbst suspendiert und ohne mit der Wimper zu zucken alle Macht in die Hände der Exekutive gelegt hat?
Einer der wenigen, der diesen Vorgang kritisch kommentiert hat, ist der Appenzeller FDP-Ständerat und Staatsrechtler Andrea Caroni, der in einem Interview mit dem «St. Galler Tagblatt» davor warnte, dass sich durch die jetzige Situation «in der Bevölkerung ein gewisser Anti-Parlamentarismus breitmachen» könnte. Caroni sprach angesichts der weitreichenden Grundrechtseinschränkungen von einer «dramatischen Situation». Der Bundesrat geniesse zwar für seine Krisenarbeit eine gewisse Bewunderung. «Das darf aber nicht in eine allzu gläubige Exekutiv-Verehrung kippen», sagte der Ständerat. «Wir Parlamentarier lobten die sehr gute Arbeit des Bundesrats. Doch wir müssen auch wieder auf das verfassungsmässige Geleise kommen.»
Daniel Koch, bis vergangene Woche Chef der Abteilung «Übertragbare Krankheiten» beim Bundesamt für Gesundheit, und die sonst gerne sehr verhassten sozialdemokratischen Bundesräte werden in den Kommentarspalten der Onlinemedien als neue Väter und Mütter der Nation gefeiert. Doch ist es womöglich gar nicht so unproblematisch, wenn der Bundesrat mit Notverordnungen regiert und mehrere Grundrechte beschneidet und aushebelt? Wird eine derartige plötzliche totale Machtverschiebung von der Legislative auf die Exekutive das Land verändern? Wird die Stimmung immer autoritärer?
Wir schalten nach Basel. Standleitung zu Markus Schefer, Professor für Staatsrecht. Der Appenzeller Grundrechtsexperte grüsst guter Laune. Das Homeoffice scheint ihm weniger übel mitgespielt zu haben als uns.
«Meine grösste Sorge ist, dass das Parlament den Tritt nicht wieder findet», sagt Schefer dann etwas nachdenklicher. «Die jetzige Situation ist sehr anspruchsvoll. Getrieben durch die Verwaltung, machen Bundesrat und Kantone mit ihren Massnahmen zügig vorwärts. Das Parlament muss das Heft wieder in die Hand kriegen für die Fragen, die anstehen. Bei der ausserordentlichen Session, die jetzt angesetzt ist, soll es weniger um kleine Dinge gehen wie etwa ein Obligatorium für das Maskentragen als darum, eine Perspektive dazu einzunehmen, wie der Prozess des Übergangs in die neue Realität aussehen wird. Das sind Dinge, die man nicht der Exekutive überlassen darf.»
«Übergang in eine neue Realität» klingt irgendwie poetisch schön, könnte aber auch der Titel eines dystopischen Science-Fiction-Romans von Philip K. Dick sein, und wir fragen Schefer, was er damit meine.
«Wir werden eine Weile lang damit leben müssen, dass es einerseits Menschen gibt, die infiziert waren und somit Antikörper und vielleicht Immunität entwickelt haben», sagt er. «Und andererseits Menschen, die das nicht haben. Es wird weiterhin eine Gruppe von Menschen geben, deren Risiko erheblich grösser ist. Wie geht man mit diesen unterschiedlichen Verletzlichkeiten um? Den unterschiedlichen Gefährdungen, die entweder von Personen ausgehen oder denen Personen ausgesetzt sind? Das sind schwierige Fragen, bei denen das Parlament als Volksvertretung die treibende Kraft sein muss. Die jetzigen Massnahmen sind auf sechs Monate befristet. Aber wir wissen nicht, wie die Lage in sechs Monaten aussehen wird. Wenn das Parlament in dieser Übergangsphase den Tritt nicht wieder findet, stehen wir vor dem Problem einer verstärkten Exekutivstaatlichkeit. Das wäre keine gute Entwicklung.»
«Warum denn eigentlich nicht?», fragen wir. «Seit einem Monat läuft der Laden rund. Die Parlamentarierinnen in Bern haben das Zepter abgegeben. Der Bundesrat regiert mehr oder weniger ideologiefrei, getrieben von Sachzwängen.»
«Das ist eine rhetorische Frage, oder?»
«Nein», sagen wir. «Erklären Sie uns das Problem einer Exekutivstaatlichkeit.»
«Es ist nicht die Idee, dass wir wertfrei unser Staatswesen gestalten», sagt Schefer. «Sondern dass jeder von uns ein Individuum ist, das zur Selbstgesetzgebung fähig ist. Dass wir alle vernunftfähig sind und gemeinsam darüber entscheiden können, welche Gesetze wir schaffen, und dass wir uns nach diesen verhalten. Wenn Sie von diesem Menschenbild ausgehen, bleibt nichts anderes übrig als eine demokratische Staatsform.»
«Schön und gut. Aber warum ist unser Parlament dann so passiv, obwohl es eine viel höhere demokratische Legitimation geniesst als der Bundesrat? In Deutschland tagt das Parlament beispielsweise noch immer. Ist die jetzige Situation nicht eine völlige Blamage für unser Parlament und unsere Demokratie?»
«Dass die Frühlingssession abgebrochen wurde, ist aufgrund der Ansteckungsrisiken nachvollziehbar», sagt Schefer. «Was ich jedoch nicht nachvollziehen kann, ist, warum die Sondersession nicht schneller angesetzt worden ist. Das Finanzhaushaltsgesetz sagt, dass sich angesichts der Kredite, die gesprochen wurden, das Parlament drei Wochen später hätte treffen müssen. Stattdessen tagt man nun erst Anfang Mai. Ich kenne die Gründe nicht, warum man sich so viel Zeit gelassen hat. Ich hoffe, sie sind infrastruktureller Art. Es wäre wichtig gewesen, dass man so schnell wie möglich zusammentritt. Darin zeigt sich, dass das Parlament angesichts der Krise seine Rolle neu finden muss.»
Wir konfrontieren den Staatsrechtler Schefer mit den Befürchtungen des FDP-Ständerats Caroni und Carl Schmitts Vorstellung, dass der demokratische Parlamentarismus in Krisen handlungsunfähig sei. «Das Beste in der Welt ist ein Befehl», so Schmitt. Neudeutsch: «Stay the fuck at home.»
«Carl Schmitt hat vor dem Hintergrund der Weimarer Republik argumentiert», sagt Schefer. «Einer Republik, die von den tragenden Kräften keine Zustimmung hatte. Ein Beamtentum, das nach wie vor im Kaiserreich feststeckte. Auf der anderen Seite die Sozialisten. In dieser Situation ist der erste Versuch eines parlamentarischen Systems in Deutschland gescheitert. Diese Gefahr sehe ich bei uns nicht. Ich denke nicht, dass die Kritik am Parlament in der Schweiz so tief geht, dass ein substanzieller Teil unserer Bevölkerung Schmitts Ansicht folgen würde. Ich würde es niemals so negativ sehen, so pessimistisch. Ich sehe auch nicht, dass es eine Art wäre, unser Land zu führen. Die direkte Demokratie wird nicht von weiteren Kreisen infrage gestellt.»
«Wie muss ich Ihre Gesichter deuten?», fragt Schefer plötzlich während der Videokonferenz. «Ich sehe ein tiefes Unbehagen.»
Ja, irgendwie schon. Die Liste ist ziemlich lang. Polizisten im ganzen Land halten Menschen an und weisen sie darauf hin, dass man mit weniger als zwei Metern Abstand zueinander läuft. Weisen Menschen von Plätzen weg und verteilen Bussen. In einer Verfügung der Zürcher SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli wird mit Strafe bedroht, wer Personen aus Alters- und Pflegeheimen in ein Spital einweisen lässt, wenn nicht garantiert sei, dass «der Spitalaufenthalt Aussicht auf einen Behandlungserfolg» hat. Kurz: Die Alten und Schwachen im Zweifelsfall sterben lassen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie verhältnismässig es ist, zum Schutz vor Ausbreitung der Epidemie das halbe Gewerbe in den Ruin zu treiben. Wann können wieder Demonstrationen stattfinden? Wie lange kann man Grundrechte wie die Versammlungs- oder die Wirtschaftsfreiheit dermassen stark einschränken? Wo führt das hin?
«Sie haben am Anfang gesagt, dass unser Land derzeit ideologiefrei von der Verwaltung geführt werde», sagt Schefer. «Das stimmt natürlich nicht. Die jetzigen Massnahmen sind das Ergebnis von Güterabwägungen. Diese enthalten immer stark ein politisches Element und müssen entsprechend demokratisch fundiert sein. Etwas anderes bleibt uns nicht.»
«Aber sie sind ja nicht demokratisch fundiert», sagen wir. «Es ist doch ein Unterschied, ob Gesetze vom Parlament erlassen werden oder eben nicht.»
«Die Notverordnungen sind ein höchst unvollkommener Ersatz für die Gesetzgebung. Unvollkommen in demokratischer Hinsicht, und deshalb höchstens befristet zulässig. Die Voraussetzungen zum Erlass solcher Notverordnungen sind angesichts des Schutzes vor einer exponentiellen Ausbreitung der Coronaviren gegeben. Aber die Situation ist schon ausserordentlich. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit existiert im Moment in der Schweiz nicht. Ein anderer Punkt ist: Es wird viele Konkurse geben. Es ist Teil der Verhältnismässigkeit, dass man die Leute, die vom Konkurs betroffen sind, nicht einfach sich selbst überlässt. Diese Krise wird massive finanzielle Belastungen der Sozialversicherungen zur Folge haben. Das Parlament muss Antworten auf die Frage finden, wie wir mit den neuen ökonomischen Ungleichheiten umgehen sollen.»
Staatshaftung komme kaum infrage, sofern der Staat bei der Ausführung seine Sorgfaltspflicht nicht verletze.
«Sehen wir das richtig: Wenn ich zum Beispiel jetzt meinen Job nicht mehr ausüben und deshalb meine Miete nicht mehr bezahlen kann, kann mich der Vermieter einfach aus der Wohnung schmeissen, und es ist rechtens?», fragen wir.
«So wie ich die Verordnungen lese, ist das der Fall», sagt Schefer. «Ich habe es vermutlich schon zehnmal gesagt, aber auch das ist ein Grund, weswegen sich das Parlament dringend treffen muss: damit man Massnahmen gegen entsprechende Probleme verabschiedet. Denn die Betroffenen werden grosse Mühe haben, Ansprüche gegen den Staat durchzusetzen.»
«Was heisst das?»
«Ich will dieses Gericht sehen, das in der gegenwärtigen Situation eine Beurteilung vornimmt, die sich von derjenigen des Bundesrats substanziell unterscheidet.»
«Wir sind auf Gedeih und Verderb der Verwaltung ausgeliefert?»
«Nicht der Verwaltung. Wir sind dem Bundesrat ausgeliefert. Die Juristen vom Bundesamt für Justiz beraten den Bundesrat, dass die Massnahmen verfassungskonform sind. Wenn der Bundesrat diese Massnahmen aber anders gestalten will, dann ist zurzeit niemand da, der ihn daran hindert. Höchstens die Kantone bei der Umsetzung. Sie können faktisch entscheiden, wie weit sie den bundesrätlichen Vorgaben folgen oder nicht. Der Föderalismus kann eine Chance sein für mehr Rechtsstaatlichkeit.»
«Oder die Sache schlimmer machen. Wie im Kanton Aargau.»
«Der Föderalismus eröffnet auch die faktische Möglichkeit, dass ein Kanton weiter geht, als er soll», sagt Schefer. «Sie dürfen dabei aber nicht weiter gehen, als es Bundesrecht erlaubt. Da stellt sich die Frage, wie der Bund seine Aufsicht wahrnimmt.»
Oder die Frage des sogenannten Contact Tracings: Die Ethikkommission des Bundes veröffentlichte vergangene Woche eine Empfehlung, wonach eine derartige App zur Überwachung der Bevölkerung und zur Eindämmung des Coronavirus unter bestimmten Umständen zulässig sei.
«Diese Vorgehensweise ist seltsam», sagt Schefer. «Warum fragt das Eidgenössische Departement des Inneren die Ethikkommission? Denn es ist nicht Aufgabe der Ethikkommission, die rechtliche Zulässigkeit einer solchen App zu beurteilen. Es handelt sich hier in erster Linie um eine verfassungsrechtliche Frage: das Recht auf Privatsphäre, insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Und dieses würde durch eine solche App massiv beschnitten. Die Ethikkommission meint, eine zentrale Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen App sei ihre Freiwilligkeit. Aber Freiwilligkeit kann keine gesetzliche Grundlage ersetzen für einen solch schwerwiegenden Eingriff in die Privatsphäre.»
«Was wäre die korrekte Vorgehensweise?»
«Das Parlament müsste eine rechtliche Grundlage schaffen. Oder allenfalls der Bundesrat mittels Notverordnung, um diese dann so schnell wie möglich in ein ordentliches Bundesgesetz oder übergangsweise eine Parlamentsverordnung zu überführen. Solche Apps werden ja derzeit auf europäischer Ebene diskutiert. Und das zeigt schön die Problematik auf, die wir bereits angesprochen haben, vom Übergang in die neue Realität: die Frage, wie es nach dem Lockdown auf längere Sicht weitergehen soll. Und wie das dann alles mit unseren Grundrechten vereinbar ist. Da wird es schnell viel problematischer, als es heute schon ist. Und eine derartige App ist in der Tat hoch problematisch. Denn damit könnte man 24-Stunden-Bewegungsprofile von Personen erstellen. Somit wäre zwar die Rückverfolgbarkeit der Ansteckungskette wohl möglich. Gleichzeitig hätten Sie faktisch dasselbe Ergebnis, wie wenn Sie uns alle rund um die Uhr observierten. Bei derart schwerwiegenden Grundrechtseingriffen ist es Aufgabe des Staates, nach Methoden zu suchen, die vielleicht etwas weniger effektiv sind, aber dafür die Privatsphäre des Einzelnen viel weniger beeinträchtigen.»