Rund um den White Sands National Park befindet sich die Militär­einrichtung White Sands Missile Range, in der bis heute Waffen­tests durchgeführt werden.

Als der Himmel auf die Erde fiel

Es ist eine Geschichte über Vergessen und Verrat: Am 16. Juli 1945 explodierte auf einem Testgelände in New Mexico die erste Atombombe der Welt. Die Folgen für die Menschen in der verseuchten Zone werden bis heute verschleiert.

Eine Reportage von Joshua Wheeler (Text), Stephan Pörtner (Übersetzung) und Reto Sterchi (Bilder), 16.10.2021

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Hunderte funkelnde Lichter, 500 Kerzen in braunen Papier­tüten stehen als Laternen auf dem Baseball­feld. Eine drei­köpfige Familie sitzt mit grossen Klang­schalen zwischen den Beinen auf dem Rasen, sie ziehen Klöppel die Glas­ränder entlang und bringen die Luft zum Dröhnen. Stunden­lang dröhnt die Luft, während die Laternen, eine nach der anderen, von Gestalten gelöscht werden, die im Dunkeln umher­gehen. Es steigt ein weiterer Rauch­faden aus einem erstickten Docht auf, und wir beenden, für dieses Jahr, das Gedenken an ein weiteres Opfer des Gadgets – dieser Meister­leistung des Manhattan-Projekts, der ersten Atom­explosion der Welt, am 16. Juli 1945, hier in Trinity, nahe der kleinen Gemeinde Tularosa im Süden New Mexicos.

Oben in der Presse­kabine wechselt sich ein Sprecher-Trio beim Vorlesen der Namen all der Menschen ab, die an Krebs gestorben sind. Verursacht, heisst es, vom radioaktiven Nieder­schlag des ersten Atemzugs des Atom­zeitalters.

Stunden­lang, ein Name nach dem anderen.

So also verklingt die Explosion des Gadgets, des Geräts, wie der Codename der Bombe lautete: ein Feuerball, 10’000 Mal heisser als die Sonnen­oberfläche. Eine Explosion, von der noch 160 Kilo­meter entfernt die Fenster zitterten. Nach dem Aufwirbeln von 210 Tonnen radio­aktivem Sand, der mit Asche vermischt zu einem 12 Kilo­meter hohen Atompilz aufstieg. Nach sieben Jahr­zehnten hallt die Explosion auf diesem Baseball­feld nach, wenn ein weiterer Name im Gedenken an jemanden, der an Krebs gestorben ist, verlesen und eine weitere Flamme gelöscht wird.

Hinter dem Mittelfeld steht ein rostiges Karussell. Die Kinder rennen im Kreis, treiben es an, bis es gefährlich schnell dreht und sie aufspringen und sofort wieder herunter­geschleudert werden. Während des ganzen Verlesens der Namen und des Löschens der Laternen hört das Karussell nie auf zu quietschen und zu rotieren, die Kinder von Tularosa hören nicht auf zu rennen und zu schreien, und sie lassen sich in die Nacht schleudern.

Fast so, als wüssten sie gar nicht, dass sie die Kinder der Bombe sind.

Oder des Gadgets.

Kinder des Gadgets.

Henry Herrera sitzt in seinem Garten­stuhl neben der Tribüne und sagt: «Das Ding ging ab, und das Feuer stieg hoch, und die Wolke erhob sich, und die untere Hälfte ging in diese Richtung.» Er zeigt über meinen Kopf hinweg in Richtung Spielfeld. «Doch dann kam der obere Teil, der Kopf des Pilzes, hierher zurück und ging auf alles nieder.» Er fuchtelt mit beiden Armen in unsere Richtung und um uns herum, mit seinen alten, dünnen und verkrümmten Armen, als könne er eine Atom­explosion pantomimisch darstellen oder als würde er ihren Geist beschwören oder den Feuerball auffordern, noch einmal herab­zuregnen, damit wir, die nicht dabei waren, es auch wirklich verstehen.

Nur 72 Kilometer nord­westlich der Kinder, die auf dem Karussell die Übelkeit erregende Freude an der Physik entdecken, liegt das Trinity-Test­gelände. Jede Bombe ist die Bombe, aber diese erste von Trinity wurde Gadget genannt – ein Code­name aus Gründen der Geheim­haltung. Ein Name, durch die Formalität verwässert, dass es sich bloss um ein Test­objekt handelte. Ein Name, der die Bedeutung dessen verbergen sollte, was die USA im Begriff waren zu tun.

Nur so ein Dingsda, ein Gimmick.

Ein kleiner Knallfrosch.

Nichts weiter als ein gott­verdammtes Gadget.

Nur ein Spiel mit der Übelkeit erregenden Freude an der Physik.

Doch zurück zu Henry. Er ist so etwas wie eine Berühmtheit hier, einer der wenigen noch lebenden Menschen in der Gegend von Tularosa, die Zeuge der Explosion des Gadgets waren. Ein Mann, der den Krebs schon dreimal besiegt hat und der sagt, er würde ihn wieder bezwingen, wenn es denn nötig sein sollte. Er sitzt neben mir, nestelt an den Perlmutt­knöpfen seines Western­hemds herum, streicht sich das weisse Haar hinter die grossen Ohren und erzählt die Geschichte in Schüben, kurze Strophen zwischen langen Lücken des Sinnierens, diese Pausen stillen Überlegens, die auch im Alter nicht aufhören zu wachsen – wie die Ohren unserer wohl wirklich alten Geschichten­erzähler, die gewillt sind, eine Pause so lange hinzuziehen, bis ein Aphorismus oder eine Anekdote auf ihrer Zunge gereift und servier­bereit ist. Hier kommt eine: «Ich wette zehn Dollar gegen einen Donut, dass deine Mama dir nie die Schuld an der Atom­bombe gegeben hat.»

Und der Rest seiner Geschichte mäandert dahin, während die Laternen brennen.

Eine lustige, traurige Geschichte

Henry war 11 und kurz vor Sonnen­aufgang aufgestanden, um den Kühler des Fords seines Vaters zu füllen. Das war seine erste morgendliche Aufgabe. Der Kühler eines alten Modell A musste jede Nacht entleert und jeden Morgen gefüllt werden, wenn man sich keine schicken Zusätze wie Schmier­mittel oder diesen neumodischen Frost­schutz leisten konnte. Und die Herreras konnten sich nichts Schickes leisten. Es war 1945, und es ging ihnen wie allen anderen Leuten in Tularosa, die meisten waren Hispanics und arbeiteten auf Ranches, bauten so viel wie möglich ihr eigenes Essen an und sammelten den Grossteil ihres Trink­wassers während der sommerlichen Monsun­regen. Der kleine Henry stand also da und hielt mit seinen dünnen Armen den Eimer über den Einfüll­stutzen am Kühler­grill des Fords, und woran er sich am besten erinnert, ist, dass seine Mama Wäsche zum Trocknen an die Leine gehängt hatte. Er erinnert sich daran, wie die Wäsche im Wind wehte.

Mahnwache sieben Jahr­zehnte nach der Explosion: Die Namen der Verstorbenen hallen über das Baseball­feld, die Kerzen sind ein Symbol für die Opfer.

«Eigentlich seltsam, dass es kurz vor der Morgen­dämmerung windet. Ihre ganze Weiss­wäsche», sagt er. «Bett­wäsche, Hemden und Unterwäsche flattern im Wind.»

Und dann der Blitz: auf dem glänzenden Stahl des Kühler­grills des Ford und dem matten Stahl des Eimers, auf der flatternden weissen Bettwäsche, auf der Netzhaut des kleinen Henry. Licht. «Die Nacht wurde zum Tag», sagt er.

«Als ob der Himmel auf die Erde gefallen wäre.»

Die Explosion und das Beben und dann wieder Dunkelheit.

Stille.

Bomben­explosionen waren hier nichts Besonderes. Seit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden auf dem Bomben­abwurf- und Schiessplatz von Alamogordo ständig welche gezündet. Aber diese Explosion war anders.

«Sie war gewaltig, und nach ein paar Minuten kam dieser dünne Staubfilm», sagt Henry. «Feine dunkle Asche fiel herab und legte sich über alles. Mamas Kleider, die an der Leine hingen, wurden nahezu schwarz. Sie würde alles noch einmal waschen müssen. Stell dir eine fuchsteufels­wütende Mexikanerin vor.» Er lacht beim Gedanken an das Gesicht seiner Mutter, die sieht, wie ihre gesamte Weiss­wäsche dunkelgrau ist und schreit: «Was zum Teufel hast du hier draussen in die Luft gesprengt, Henry?»

Das also ist die Geschichte, wie Henrys Mutter ihm die Schuld an der Atom­bombe geben wollte. «Eine lustige Geschichte, bis man weiss, dass wir das Zeug getrunken und gegessen und auch sonst alles damit gemacht haben. Nur, dass wir das jahrelang nicht wussten. Bis die Leute zu sterben begannen.»

Henry flicht in seine Geschichte des Gadgets Erzählungen ein, wie er 10 Jahre nach Trinity beim Militär war und nach dem Krieg Hiroshima und Nagasaki besuchte, weil er besessen war von dem, was er als Kind gesehen hatte – «die Nacht wurde zum Tag, als ob der Himmel auf die Erde gefallen wäre». Er wollte sehen, was die Bombe den Feinden seines Landes angetan hat, und er hat gewiss alles gesehen: die völlige Verwüstung, die Trümmer und die Asche und die Schatten, die an den Wänden klebten, und «denk bloss, all diese Familien», sagt er.

Seine Augen werden wässrig; er weint, wie alte, harte Kerle aus der Wüste weinen, mit bebenden Lippen und kaum nassen Augen, aber zum Ausgleich zusammen­gebissenen Zähnen. So stark beisst er die Zähne zusammen, dass es aussieht, als wolle er nicht nur seine eigenen Tränen stoppen, sondern alles Leid der Welt ganz allein vertreiben. In seinem Gesicht: nicht nur die Traurigkeit über die bei den Bomben­angriffen getöteten japanischen Zivilisten und die bei den Tests getöteten amerikanischen Zivilistinnen – sondern auch die Wut über die Unvermeidbarkeit des Ganzen. «Wir haben das getan», sagt er. «Wir Amerikaner haben das getan. Wir mussten es tun, ich weiss. Aber niemand erinnert sich daran, dass wir es zuerst hier getan haben.»

Die letzten Zeugen: Henry Herrera (rechts) geht auf die 90 zu und hat den Krebs schon dreimal besiegt.
Die Bewohnerinnen wussten jahrelang nichts von der Gefahr. Bis sie zu sterben begannen.

So halten sie eine Mahn­wache: drei Generationen von Familien aus dem Tularosa Basin, einem Wüsten­gebiet südöstlich von Trinity, zwischen den San Andres und den Sacramento Mountains, das von Carrizozo bis hinunter nach Alamogordo reicht. Das Dorf Tularosa liegt genau in der Mitte. Und die Laternen auf dem Baseball­platz des Dorfes sind ihre Art, nach all dieser Zeit zu sagen: «Wir waren da. Die Wüste, die ihr in die Luft gejagt habt, war nicht so einsam. Wir sind immer noch da, aber wir sterben. Wenn ihr uns nicht retten könnt, lasst uns wenigstens unsere Geschichte erzählen.»

Die «menschen­leere Wüste» und andere Mythen

Die Geschichten über die erste Atom­bomben­explosion der Welt am 16. Juli 1945 wurden lange Zeit von den Legenden über den Ort des Geschehens überschattet.

Einige davon greifen weit in die Vergangenheit zurück, sodass der Eindruck entsteht, die Bombe sei eine historische Unvermeidbarkeit gewesen. Eine Legende besagt, die Bombe sei auf der Jornada del Muerto explodiert – einer besonders gefährlichen Route der spanischen Konquistadoren im 16. Jahr­hundert auf der Suche nach den Schätzen der sagenumwobenen sieben goldenen Städte Mexikos. Gemäss dieser Legende war die Gegend schon immer unbewohnt – und somit prädestiniert als Geburts­ort der ersten Massen­vernichtungs­waffe der Welt.

Andere Mythen stammen aus Hollywood, wie der Film «Them!» aus dem Jahr 1954. Der Streifen erzählt von der Gadget-Explosion in Trinity, woraus riesige mutierte Ameisen entstanden, die massenhaft Einheimische töteten, bevor sie aus New Mexico entkamen und den Rest der USA terrorisierten.

Oder die Legenden spielen in Parallel­universen wie jenen der Marvel- und DC-Comics, wo bei einem schief­gelaufenen Physik­experiment in der Wüste Doctor Manhattan entsteht oder andere wie Captain Atom oder Starlight oder Spider Man, die aus Pannen mit der radio­aktiven Strahlung jener Atomkraft hervor­gehen, die ihre Wurzeln in Trinity hat.

Es gibt keine Super­helden und keine mutierten Mörder­ameisen. Und die Expeditionen der Spanier verliefen gar nicht durch das heutige Trinity, und es waren auch keine glorreichen Feldzüge, sondern Schlachten zur Versklavung der indigenen Völker.

Nun könnte man die Geschichte der Konquistadoren mit der Entstehung der Atom­bombe verknüpfen und ein Axiom über die unausrottbare Torheit der Eroberer aller Epochen aufstellen – grosse Krieger, die ihre Moral opfern, um einer Illusion von Reichtum, Ruhm oder Macht nachzujagen.

Aber die Tatsache, dass es die Konquistadoren gab, offenbart eine wichtige Wahrheit über den Süden New Mexicos: Obwohl die Gegend um Trinity grössten­teils eine Wüste mit wenig Wasser ist, war sie nie völlig menschen­leer. Sie wurde zunächst von Stämmen der Pueblo und der Apachen besiedelt, später von Menschen mexikanischer und US-amerikanischer Herkunft. Jornada del Muerto bedeutet also nicht, dass es kein Leben gab, sondern eher: «Hier ist Leben, das wir ignoriert haben.» Und wie die Legenden von Killer­ameisen und Super­helden andeuten, hat die Beschäftigung mit Atom­waffen Konsequenzen für alles Leben rundherum.

Die offizielle Version der Gadget-Explosion in Trinity enthielt lange eine Variante solcher Legenden: dass die Geschichte der Atom­bombe in einem unbewohnten Teil der einsamen Wüste begann. Selbst die renommierteste Publikation über die Entstehung der Atom­bombe, «The Making of the Atomic Bomb» von Richard Rhodes, ein 800 Seiten starker Wälzer, der alles abdeckt, von kleinsten Details der theoretischen Physik des späten 19. Jahr­hunderts bis zur Geschlechts­krankheits­rate auf dem Trinity-Stütz­punkt (die niedrigste der gesamten Nation), ignoriert die Tatsache, dass nicht weniger als 13’000 Einheimische im Umkreis von 80 Kilo­metern um die Explosion lebten.

Paul Pino ist im Vorstand des Tularosa Basin Down­winders Consortium.
Die Stadt Alamogordo wird auch «Atomic City» oder «Rocket City» genannt.
Ein roter Himmel erinnert manch einen an den Morgen, als die Bombe explodierte.
Tina Cordova kämpft für die Anerkennung der Trinity-Downwinders.

«Eine Bombe, die in einer Wüste gezündet wird, zerstört nicht viel ausser Sand und Kakteen und der Reinheit der Luft», schreibt Rhodes. In jüngeren Artikeln über Trinity wird gelegentlich die Formulierung «dünn besiedelte Region» verwendet. Und es stimmt, dass die Tausenden von Hispanics, Ureinwohnern, armen Ranchern und Dorf­bewohnerinnen, die im Umkreis von 80 Kilometern um Trinity lebten, geradezu verblassen im Vergleich zu der halben Million Japaner, die 1945 in Hiroshima und Nagasaki der Bombe zum Opfer fielen. Doch für Leute wie Henry Herrera ist diese Rechnung ein schwacher Trost, denn es kommt ihnen vor, als seien sie im Verborgenen vergiftet – und von ihrer eigenen Sieger­nation unter den Teppich gekehrt worden.

Verschleierungs­politik seit 76 Jahren

Als ich 2015 zum ersten Mal über die Down­winders (Menschen, die in Gebieten wohnen, die nuklearem Nieder­schlag ausgesetzt waren. Der Begriff kommt von downwind: in Wind­richtung liegend) im Tularosa Basin berichtete, kämpften sie, als die ersten Down­winders weltweit, schon seit über 10 Jahren um Anerkennung und Entschädigung. Seit 1990 hat die US-Regierung Zahlungen an Personen geleistet, die durch ihre Nähe zu Anlagen der Atom­waffen­industrie geschädigt wurden: für Menschen, die in Uran­minen und Aufbereitungs­anlagen arbeiteten, für Transporteure und Soldaten auf Test­geländen. Auch an Downwinders wurden 24’000 Entschädigungen gezahlt, vor allem im Bundes­staat Nevada.

Aber an keine der Familien in der Nähe von Trinity. Denn: Bis heute behauptet die US-Regierung, dass bei der Geburts­stunde des Atom­zeitalters am 16. Juli 1945 in New Mexico keine Gesundheits­schäden durch radioaktiven Nieder­schlag verursacht wurden.

Vor einigen Jahren schien es, als sei die Bewegung der Trinity-Downwinders kaum aufzuhalten. Es erschienen mehr Medien­berichte, geschädigte Familien kamen vermehrt zu Wort. Es sah gut aus für die Anerkennung der Folgen von Trinity: Die Downwinders der Region würden genau wie die anderen Betroffenen entschädigt werden. Doch nach Jahren gescheiterter Gesetzes­änderungen und emotionaler Zeugen­aussagen vor dem Senat ist die Lage für diese Menschen heute düster.

Die letzten Zeugen des Tests von 1945 sterben weg. Und am 9. Juli 2022 läuft das Strahlen­schutz­gesetz aus. Das bedeutet, dass die Menschen in New Mexico ab diesem Datum keine Möglichkeit mehr haben, als Strahlen­opfer anerkannt und entschädigt zu werden – es sei denn, ein neues Gesetz wird ratifiziert.

Und so liegt die Frage nahe, ob die Nicht­berücksichtigung der Downwinders in New Mexico im Rahmen des Strahlen­schutz­gesetzes nicht nur ein Versehen, sondern Teil einer lang­jährigen Verschleierungs­politik ist. Warum ist diese Verschleierung nach 76 Jahren immer noch notwendig?

«Diese Gegend war schon lange vor dem Krieg im Krieg»

Die Geschichte von Jolene Dalton-Maes.

Aktivistin im Namen der Downwinders

Die Geschichte von Tina Cordova, Mitgründerin des Tularosa Basin Downwinders Consortium.

«Als wäre der Himmel gelb gefärbt worden»

Die Geschichte von Raymond Najar.

«Wir wurden völlig ignoriert, übersehen»

Die Geschichte von Bernice Gutierrez.

«Ich dachte, die ganze Welt würde untergehen»

Die Geschichte von Irene Kowatch.

Es geht um Geiz, Ignoranz und Inkompetenz

Ein Grund, warum gerade New Mexico davon betroffen sein dürfte: Dieser Bundes­staat ist in jeder Hinsicht die wichtigste Region für die US-Atom­waffen­industrie.

New Mexico ist der einzige Bundes­staat mit einer sogenannten «Cradle-to-Grave»-Atom­wirtschaft: Hier wird Uran abgebaut, hier werden Waffen entwickelt, getestet und gewartet, hier wird Atom­müll gelagert. Es heisst, dass New Mexico, wenn es sich von den USA abspalten würde, die dritt­stärkste Atom­macht der Welt wäre.

Die Befürchtung ist also, dass die Anerkennung der Trinity-Down­winders auch die Anerkennung der Down­winders bei den Labors von Los Alamos und Sandia im Norden des Bundes­staates nach sich ziehen könnte, wo die Schäden jahrzehnte­langer Verkippung radio­aktiver Abfälle noch immer behoben werden müssen. Und dann wäre es vielleicht auch angebracht, die Down­winders in der Gegend der WIPP (Waste Isolation Pilot Plant) zu berücksichtigen, ein Atommüll­lager in der Nähe von Carlsbad, wo menschliches Versagen in jüngster Zeit zu mindestens einem schweren Unfall geführt hat, als das übliche Katzen­streu (ja, radio­aktive Abfälle lagern tatsächlich in der Hightech-Substanz Katzen­streu) durch biologisch abbaubares ersetzt wurde, was eine chemische Reaktion auslöste, die Lager­behälter platzen liess.

New Mexico ist, mit anderen Worten, ein sehr empfindliches und teures Zentrum der Atom­waffen­industrie. Aus Sicht der Regierung könnte das geringste Nachgeben – wie das Eingestehen der Vertuschungs­aktionen in Trinity und das Anerkennen der dortigen Down­winders – eine unerwünschte Ketten­reaktion auslösen, die (metaphorisch) alles in die Luft sprengen würde.

Ein anderer Grund, warum die Regierung die Geheim­haltung in Trinity so lange nach dem Test aufrecht­erhält, ist schlicht und einfach: Gewohnheit.

Trinity wurde vom ersten Moment an verschleiert. Das Manhattan-Projekt, in dessen Rahmen das Gadget gebaut wurde (ebenso wie Fat Man und Little Boy, die Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden), war das grösste wissenschaftliche Projekt, das es bis dahin gegeben hatte, und alles geschah unter strengster Geheim­haltung. Nach dem Trinity-Test wurde der Presse lediglich mitgeteilt, ein Munitions­depot sei explodiert, «es habe keine Verletzten oder Toten» gegeben. Selbst als nach den Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki heraus­kam, dass es sich in Trinity um einen Atom­bomben­test gehandelt hatte, blieb es bei der Aussage «keine Toten oder Verletzten».

Und als die Bombe explodierte, spalteten sich 80 Prozent des Plutonium­kerns nicht. Der grösste Teil des hoch radioaktiven Materials – mit einer Halbwerts­zeit von 25’000 Jahren – wurde in winzigen Partikeln durch die Luft geschleudert und landete, nun ja: überall. Den Armee­angehörigen, die den Nieder­schlag messen sollten, versagten die Funk­geräte – zu weit entfernt verfolgten sie ihn von der Detonations­stelle. Andere wurden mit Staub­saugern der Haushalts­marke Filter Queen losgeschickt, um den radioaktiven Nieder­schlag zu beseitigen, als handle es sich um Hausstaub. Die Ärzte waren fassungslos, als sie kurz nach dem Test im Umkreis von 30 Kilo­metern Ranches, Farmen und Häuser wie die der Gallegos und Ratliffs sahen, die vollständig mit diesem Nieder­schlag bedeckt waren.

Feuerwerks­stände ausserhalb von Tularosa: Nach einem «Vortest» am 7. Mai 1945 mit TNT, das mit Plutonium gespickt war, warnten Ärzte eindringlich vor weiteren Explosionen – vergebens.

Diese Tatsachen waren für mich ein Hinweis, dass die «bedeutendste wissenschaftliche Errungenschaft der Menschheit», wie das Manhattan-Projekt oft genannt wurde, von grosser Inkompetenz umgeben war. Ich glaubte damals, dass es bei so vielen Unbekannten, bei so viel Ignoranz, für das Militär wohl noch wichtiger war, nichts durch­sickern zu lassen, und dass die Tatsache, dass sie sich selbst (und andere) nicht vor ihrer eigenen Ignoranz geschützt haben, der Grund ist, warum es die Trinity-Downwinders gibt und sie eine Entschädigung verdienen.

Aber ein vor kurzem erschienenes Buch hat mir gezeigt, dass Ignoranz zwar eine grosse Rolle spielte – es sich aber in vielen Fällen um eine klare und wissentliche Gefährdung von Zivilisten handelte.

Opfer? Einkalkuliert

James L. Nolan Jr. kennt die ethische Kulisse dieses Atom­waffen­tests. Sein Grossvater arbeitete als Arzt für das Manhattan-Projekt, dessen Geschichte hat er im Buch «Atomic Doctors: Conscience and Complicity at the Dawn of the Nuclear Age» (Harvard, 2020) aufgearbeitet. Es zeigt, wie Ärzte, die an der Entstehung der US-Atom­waffen­industrie beteiligt waren, versuchten, auf dem schmalen Grat zwischen patriotischer Unter­stützung ihres Landes und der Einhaltung der obersten Maxime ihres Berufs­standes, «keinen Schaden anzurichten», zu balancieren.

Zwar hält Nolan seinem Grossvater und dessen Kolleginnen zugute, dass sie immerhin ihre Besorgnis über die Strahlung geäussert haben, während sie furchtbare Atom­waffen­tests und Einsätze mitmachten. Doch gerade weil er ihre Bedenken hervorhebt, macht er deutlich: Im Fall von Trinity waren die vom radio­aktiven Nieder­schlag betroffenen Zivilisten kein Zufall.

Die Downwinders waren ein bewusstes Opfer, das die Militärs für den Einsatz von Atom­waffen in Kauf nahmen.

25. April 1945: Drei Monate vor dem Trinity-Test schrieben Ärzte des Manhattan-Projekts an dessen Direktor J. Robert Oppenheimer, dass «die Strahlungs­effekte zusätzlich zu den Explosions­schäden erhebliche Schäden verursachen könnten» und dass «die Strahlung des aktiven Materials und der Spalt­produkte ausreichen würde, um ein Gebiet von einem bis einhundert Quadrat­kilometern unbewohnbar zu machen».

7. Mai 1945: Zwei Monate vor dem Trinity-Test wurden auf dem Gelände 90 Tonnen TNT als eine Art «Vortest» detoniert. Auf Wunsch der Ärzte wurde das TNT mit Plutonium «gespickt». Ratten wurden in unterschiedlichen Abständen zur Explosion festgebunden. Diese Ratten bildeten das einzige Experiment zum radio­aktiven Nieder­schlag, das vor der Trinity-Test­bombe durchgeführt wurde. Das Experiment ging gründlich daneben. Entweder wurden die Ratten durch die Explosion komplett pulverisiert – oder von ihren Leinen losgerissen und nie wieder gesehen. Die grosse Explosions­wolke aus dem «Vortest» mit TNT beunruhigte die Ärzte jedoch dermassen, dass sie am 16. Juni einen Bericht verfassten: «Es besteht definitiv die Gefahr, dass Staub, der radio­aktives Material und Spalt­produkte enthält, auf die Ortschaften in der Nähe von Trinity niedergeht und deren Evakuierung erforderlich macht.»

Diese Warnung – wie so viele andere der Ärzte – wurde in den Wochen vor dem Test weitgehend ignoriert. Wie Nolan schreibt, war die Haltung von General Leslie Groves, der für das Manhattan-Projekt verantwortlich war, ein Produkt seines «verbissenen Strebens nach (…) Geheim­haltung».

Groves interessierte sich nicht für die Bedenken der Ärzte. Nach seiner Auffassung hätten gross angelegte Sicherheits­vorkehrungen dazu führen können, dass die Bewohnerinnen der Gegend und dann vielleicht die Japaner oder, schlimmer noch, die sowjetischen Verbündeten der USA von der Existenz der Geheim­waffe erfuhren (ironischer­weise waren zwei der Physiker und ein Maschinist Spione und hatten bereits Monate zuvor geheimes Material an die Sowjets geschickt).

Die Ärzte durften zwar beschränkte Unter­suchungen über mögliche Folgen des Nieder­schlags und der Rest­strahlung vornehmen. Aber es gab keinerlei Massnahmen für die Sicherheit der in der Gegend lebenden Rancherinnen und Dorf­bewohner.

Und auch der Zeitpunkt des Tests war fahrlässig: bei Sturm. Sowohl die Ärzte als auch der interne Meteorologe warnten vor den exponentiell erhöhten Risiken. Als Letzterer davon erfuhr, dass das Datum für den Trinity-Test auf den 16. Juli festgelegt worden war, schrieb er in sein Tagebuch: «Mitten in einer Gewitter­periode … Was für ein Scheiss­kerl tut so etwas?»

General Groves ignorierte sämtliche Warnungen. Er legte den 16. Juli als Termin fest. Denn am folgenden Tag sollte ein Treffen zwischen US-Präsident Harry S. Truman, dem sowjetischen Minister­präsidenten Josef Stalin und dem britischen Premier­minister Winston Churchill stattfinden. An diesem sollte die Nachkriegs­ordnung verhandelt werden, nachdem Nazi­deutschland wenige Wochen zuvor kapituliert hatte. Es liegt nahe, dass Groves – und vielleicht auch Truman – mit der Bombe über ein Druck­mittel der USA insbesondere gegenüber der Sowjet­union verfügen wollte.

Und so wurde am Morgen des 16. Juli die Bombe gezündet.

«Du hast die Show verpasst»

Ein Arzt des Manhattan-Projekts erinnerte sich: «Das Wichtigste war, das verdammte Ding explodieren zu lassen; über die Strahlung machte sich niemand grosse Gedanken.»

Es wurden Strahlen­beobachter in die umliegenden Gebiete entsandt – mehr aus Angst vor rechtlichen Schritten als aus Sicherheits­gründen. Viele der Proben gingen schliesslich verloren (was an der Glaub­würdigkeit der offiziellen Daten zweifeln lässt). Es gab einen höchst rudimentären Evakuierungs­plan – der nicht zur Umsetzung geeignet war. General Groves hatte den Gouverneur von New Mexico über eine mögliche Verhängung des Kriegs­rechts informiert. Dies diente nicht der Sicherheit, sondern der Geheim­haltung: für den Fall, dass die Bewohner zu sterben begannen.

«Mir wird schlecht, wenn ich daran denke, dass wir Versuchs­kaninchen waren», sagt Rosemary Cordova.
«Jeder hier in der Gegend stirbt an Krebs.»
Die Strahlen­belastung in den betroffenen Gebieten war noch 2009 10’000 Mal höher als erlaubt.

Die Ärzte hatten eine «sichere» Strahlen­belastung für Trinity festgelegt. Sie lag mehr als 800 Mal über dem, was zwei Jahr­zehnte später als akzeptabel angesehen wurde. (Selbst diese absurd hohe Grenze wurde um ein Vielfaches überschritten.) In einem Regierungs­bericht zum Trinity-Test aus dem Jahr 2009 wurde festgestellt, dass «die (…) Strahlen­belastung in den betroffenen Gebieten 10’000 Mal höher war als derzeit erlaubt».

Der Verantwortliche für radiologische Sicherheit im Manhattan-Projekt, Stafford Warren, schrieb danach einem abwesenden Arzt: «Junge, das war verdammt knapp. Hätten wir bei stetigem Wind abgeworfen, wie geplant war, als du gegangen bist, hätten wir eine hohe Sterblichkeit gehabt!!! … Du hast die Show verpasst, dafür wirst du länger leben!»

Nach Trinity empfahl Warren dem Militär, Atom­tests mindestens 240 Kilo­meter von der Zivil­bevölkerung entfernt durch­zuführen. Quasi ein stilles Eingeständnis, dass in der Nähe von Trinity viel zu viele Zivilisten gelebt hatten. (Das Militär hat sich nie ganz an diese Empfehlung gehalten: Das Test­gelände in Nevada, auf dem ein Grossteil der amerikanischen Atom­explosionen durchgeführt wurde, liegt nur rund 160 Kilo­meter von Las Vegas entfernt.)

Vertuscht wurde nicht nur in Trinity. Unmittelbar nach dem Abwurf der Atom­bomben auf Hiroshima und Nagasaki begannen die USA unter der Führung von General Groves, sich gegen die Behauptung zu wehren, dass die Strahlung der Bombe weit über die Explosion hinaus Menschen töten könnte.

Obwohl die USA bis heute die Auswirkungen der Strahlung in den Wochen nach den Bomben­angriffen auf Japan öffentlich nicht anerkennen, gibt es zahlreiche interne Militär­berichte über Japaner und Amerikaner, die verstrahlt wurden, als sie die Städte Tage, Wochen oder Monate nach den Angriffen betraten.

Menschen­versuche mit Plutonium

Im Fall von Trinity ist es wichtig, die Frage der Rest­strahlung, also der Strahlen­belastung nach einer Atom­explosion, zu verstehen. Was radio­aktive Elemente anbelangt, so ist Plutonium, wie es für das Gadget verwendet wurde, relativ sicher. Einfache Schutz­massnahmen wie eine Schürze oder Hand­schuhe können vor äusserer Einwirkung schützen. Wirklich gefährlich für den Menschen ist Plutonium nur, wenn es eingenommen wird.

Im Vorfeld des Trinity-Tests sammelte das Manhattan-Projekt durch Unfälle und Experimente umfassende Erfahrungen mit der Einnahme von Plutonium.

1. August 1944: Ein Jahr vor Trinity schluckte ein Chemiker in Los Alamos Plutonium, als er während eines Experiments ausrutschte, das «den Drachen­schwanz kitzeln» genannt wurde. Dieser Unfall löste grosse Sorge über die Wirkungen radio­aktiver Stoffe im Innern des Körpers aus (im Gegensatz zu Röntgen­strahlen, die äusserlich verabreicht werden und mit denen die Ärzte bereits einiger­massen vertraut waren).

Als Folge dieser vom «Drachen» verursachten Einnahme genehmigte Oppen­heimer Menschen­versuche.

Im März 1945 wurde ein Plan entwickelt, ahnungslosen «Freiwilligen» Plutonium zu spritzen. «Der erste für diesen Test ausgewählte Patient», schreibt Nolan in «Atomic Doctors», «war ein dreiundfünfzig­jähriger ‹farbiger Mann› namens Ebb Cade. Während er nach einem Auto­unfall mit Knochen­brüchen im Kranken­haus lag, «erhielt Cade den Code­namen HP-12 (Human Product 12) und bekam am 10. April 4,7 Mikro­gramm Plutonium injiziert, knapp das Fünf­fache dessen, was damals als maximale Belastungs­grenze für eingenommenes Plutonium galt. Es war nicht genug Plutonium, um akute Symptome hervor­zurufen, aber man wusste schon damals, dass es ausreichen würde, um Krebs zu verursachen.»

Ebb Cade war eine von 18 Personen, denen von Ärzten des Manhattan-Projekts Plutonium injiziert wurde. Nur wenige dieser Patienten litten an unheilbaren Krankheiten, und niemand wurde darüber informiert, was gespritzt wurde. Viele starben früher, Cade hatte Glück und verschied 8 Jahre nach der Injektion an einem Herzinfarkt.

Überall radioaktiver Staub

Die Studie über die Einnahme von Plutonium wenige Monate vor dem Trinity-Test ist in mehrfacher Hinsicht verräterisch. Einerseits haben diese Ärzte die «Patientinnen», denen sie die Injektion verabreichten, im wahrsten Sinne des Wortes geschädigt, wenn nicht sogar getötet. Anderer­seits deutet die Tatsache, dass diese Experimente durch­geführt wurden, darauf hin, dass das Militär oder zumindest die Ärzte sich darüber im Klaren waren, dass die wirkliche Gefahr eines geheimen Atom­tests in New Mexico (und später des Atom­bomben­einsatzes in Japan) nicht nur in der unmittelbaren äusseren Strahlen­belastung bestand, sondern in der fortgesetzten Aufnahme dieser Strahlung über einen Zeitraum von Wochen nach der Explosion.

Um zu verstehen, was diese Explosion für die Trinity-Downwinders bedeutet, muss man die Lebens­umstände dieser Menschen in der amerikanischen Wüste der 1940er-Jahre kennen: Strom gab es zu der Zeit fast nirgends. Auch kein fliessendes Wasser. Das Fiese an Plutonium ist, dass die Einnahme dieses Nieder­schlags exponentiell gefährlicher ist als die äussere Einwirkung. Und die Geheim­haltung vor und nach Trinity hat die Einnahme von Plutonium hier unvermeidlich gemacht.

Die Trinkwasser­qualität im Tularosa-Graben und in dem Gebiet, das heute als White Sands Missile Range bekannt ist, ist äusserst schlecht. Sogar das vorübergehend in Trinity stationierte Militär schaffte Trink­wasser herbei, weil das Wasser aus den Brunnen der Umgebung zum Trinken zu alkalisch war. Die ansässigen Rancherinnen und Bauern sammelten das Regen­wasser, das bei Unwettern von den Dächern floss, in grossen Stein- oder Metall­zisternen.

Manchmal wurde Brunnen­wasser zum Putzen und Waschen verwendet, aber auch dieses Brunnen­wasser wurde häufig in überirdischen Auffang­becken gespeichert. Da es keinen Strom gab, wurden Wind­mühlen zum Pumpen des Wassers eingesetzt. Wann immer der Wind wehte, füllten die Pumpen die Becken, damit das Wasser für den späteren Gebrauch zur Verfügung stand.

Im Jahr 1945 verfügte jede Ranch oder Farm in der Nähe von Trinity über zwei bis drei Zisternen mit Regen- und Brunnen­wasser. Diese waren offen – und somit dem radio­aktiven Nieder­schlag der Atom­bombe ausgesetzt. Es konnte sich um den Wasser­vorrat für mehrere Monate handeln, der dabei mit Plutonium kontaminiert wurde. Die Bewohner wurden nie gewarnt.

Sie tranken dieses Wasser.

Sie kochten mit diesem Wasser.

Sie wuschen sich mit diesem Wasser.

Und sie bewässerten ihr Gemüse mit diesem Wasser.

In dieser ländlichen Gegend gab es keine Lebens­mittel­geschäfte. Alles, was die Menschen assen, wurde von ihnen selbst oder ihren Nachbarn angebaut. Die Kulturen wurden in den Tagen nach Trinity mit dem Nieder­schlag kontaminiert. Dasselbe passierte mit dem Vieh. Manche Rinder mutierten durch den Nieder­schlag der Bombe: Ihr Fell bleichte durch die Strahlung stellenweise oder vollständig weiss aus. Rancher, die einen Preisverfall aufgrund von Gerüchten über mutierte Kühe vermeiden wollten, verkauften und schlachteten die Tiere umgehend. Diese gerieten in die Nahrungskette – und wurden gegessen.

Der Doppelhammer

Ähnliches geschah wohl auch im Dorf Tularosa, das über das grösste offene Wasser­netz in ganz New Mexico verfügt. Bis zum heutigen Tag versorgen diese Kanäle das Dorf mit Wasser und sind immer noch offen, genau wie am Morgen des Trinity-Tests, als Henry Herrera, wie so viele andere, seine morgendlichen Pflichten erledigte, unmittelbar vor dem ersten feurigen Atem­hauch des Atom­zeitalters.

Die Familie Gililland wohnte 32 Kilo­meter von Trinity entfernt. Edna Hinkle – deren Grosseltern damals die Ranch gehörte – zählt 25 Krebs­opfer in ihrer Familie. Die Gilillands sind nicht nur Down­winders, sie gehören auch zu den vielen Rancher-Familien in der Gegend, deren Land vom Militär enteignet wurde, um die White Sands Missile Range zu schaffen, was einige Rancher in der Gegend als «Doppel­hammer» bezeichnen, weil man sie erst einer Atom­bombe aussetzte – und dann aus ihren Häusern vertrieb.

Die Ranch, die 1945 der Familie Gallegos gehörte, lag nur 20 Kilometer von Trinity entfernt. Auch sie trank das Wasser aus den offenen Zisternen. In den 4 Jahren nach Trinity mussten Frank und Adela Gallegos den Tod von 3 Neugeborenen hinnehmen. Frank Gallegos starb 1953 an Magen­krebs und Adela Gallegos 1975 an Schild­drüsen- und Bauch­speichel­drüsen­krebs. 6 ihrer 8 Kinder erkrankten an Krebs.

Die Explosion, das Beben, dann wieder die Dunkelheit: «Die Nacht wurde zum Tag», sagt Henry Herrera 76 Jahre danach.

Studien des National Cancer Institute über die in Nevada durchgeführten Atomtests kamen zu dem Schluss, dass immer noch Tausende von Erwachsenen in diesem Bundes­staat ein Risiko für Schild­drüsen­krebs haben. Und zwar wegen des «Milchpfads» – dieser hat Kinder 15 bis 70 Mal mehr Strahlung als bisher bekannt ausgesetzt. Da Kühe und Ziegen auf kontaminierten Weiden grasten, wurde ihre Milch mit Jod 131 kontaminiert, heisst es in einem Bericht im «Bulletin of the Atomic Scientists». Kinder tranken vergiftete Milch – und ihre kleinen Schild­drüsen, die sich noch am Entwickeln waren, saugten diese auf.

Im ländlichen New Mexico wurden 1945 Butter, Sahne und Milch aus dem eigenen Vieh­bestand durch Tausch­handel mit Nachbarn oder von kleinen regionalen Molkereien bezogen. Es war nicht ungewöhnlich, dass grössere Molkereien in der Nähe von bevölkerungs­reicheren Gebieten, wie die City Dairy in der Stadt Alamogordo, ihre Milch von einzelnen Erzeugern in ländlichen Orten wie Tularosa oder Carrizozo kauften. Dieser «Milchpfad», beschreibt Bill Lockhart in «The Dairies and Milk Bottles of Otero County», hat dazu beigetragen, den Nieder­schlag aus den am stärksten betroffenen ländlichen Gebieten auf die Kinder in den bevölkerungs­reicheren Dörfern und Städten zu übertragen.

Die Folgen von radioaktivem Nieder­schlag erlangen insbesondere in land­wirtschaftlich stark genutzten Gebieten ein neues, fürchterliches Ausmass.

Die letzte Chance

Ich habe im Laufe der Jahre über Trinity berichtet, um die Ignoranz und die vorsätzliche Nachlässigkeit des US-Militärs bei der Erprobung und dem Einsatz der Atom­bombe aufzudecken. Aber auch, und das ist ebenso wichtig, um diese «karge» Landschaft – die so oft als mythologisierter Schauplatz für die Entstehung der Atom­bombe dient – wieder zu bevölkern. Es sind die Geschichten und Gesichter der Trinity-Down­winders, die ebenso sehr oder mehr noch als jedes körnige Bild eines Atom­pilzes unser Denken über die Entwicklung amerikanischer Massen­vernichtungs­waffen definieren sollten.

Die Trinity-Downwinders befinden sich in den letzten Monaten ihres jahrzehnte­langen Kampfes um Entschädigung für die Belastung durch den Nieder­schlag der ersten Atom­bombe der Welt. Am 22. September 2021 wurde ein neues Gesetz in den Kongress eingebracht. Es sieht eine Ausweitung der Entschädigung im Rahmen des Strahlen­schutz­gesetzes auf die Trinity-Down­winders und andere Betroffene vor. Dies ist die letzte Chance für ein solches Gesetz. Wenn es nicht verabschiedet wird, läuft es aus und die Opfer des ersten Atom­bomben­tests der Welt könnten vielleicht nie eine Entschädigung oder Entschuldigung erhalten.

Was auch immer der Grund für die fortgesetzte Vertuschung ihrer Geschichte durch die Regierung sein mag, sei es, um die mächtige Atom­waffen­industrie New Mexicos zu schützen oder aus einer starren Tradition der Geheim­haltung heraus, Geld ist sicher nicht das Problem.

Tina Cordova, Mitbegründerin des Tularosa Basin Down­winders Consortium, schätzt, dass bis zu 200 Millionen Dollar an Trinity-Down­winders im Süden New Mexicos ausgezahlt werden könnten, zusätzlich zur medizinischen Versorgung der betroffenen Familien.

In der Gemeinde Tularosa, in der fast 40 Prozent der Bevölkerung hispanischer Abstammung sind und das mittlere Haushalts­einkommen fast 25’000 Dollar unter dem nationalen Durchschnitt liegt, wäre ein Betrag von annähernd 200 Millionen Dollar absolut existenziell, nicht nur für die Empfängerinnen, sondern für die gesamte Region, in der das Geld ausgegeben würde. Im Kontext der US-Atom­waffen­industrie entspricht dieser Betrag bestenfalls einem Rundungs­fehler.

Nach Angaben des Brookings Institute «gaben die USA von 1940 bis 1996 fast 5,5 Billionen Dollar für Atom­waffen und waffen­ähnliche Systeme aus, in Dollars von 1996 ausgedrückt». Seit 1996 hat das Land zwischen 35 und 50 Milliarden pro Jahr für die Instand­haltung des Atom­waffen­arsenals aufgewendet.

Schätzungen des Congressional Budget Office gehen davon aus, dass bis 2028 weitere 494 Milliarden Dollar für die Versorgung der US-Atom­streitkräfte benötigt werden, wobei andere Schätzungen die Zahl eher auf 634 Milliarden Dollar beziffern.

Im Vergleich zu diesen Milliarden und Billionen sind die 200 Millionen Dollar für die Trinity-Downwinders nichts. Selbst wenn man alles Geld zusammen­zählt, das die USA seit 1945 für die Entschädigung von Opfern der Atom­waffen­industrie ausgegeben haben, kommt man bloss auf rund 2,5 Milliarden Dollar.

Konservativ geschätzt haben die USA ungefähr 6 Billionen Dollar für Atom­waffen ausgegeben, was bedeutet, dass die Entschädigungs­zahlungen an Menschen, die durch Waffen­tests geschädigt wurden, weniger als 0,0005 Prozent des Betrags ausmachen, der für den Bau und die Wartung dieser Waffen ausgegeben wurde. Tina Cordova zitiert Repräsentant Hank Johnson aus Georgia, einen der wenigen Abgeordneten, die sich für die Trinity-Down­winders eingesetzt haben: «Das ist ein Klacks.»

Im Juli 2021 hielten die Trinity-Downwinders in Tularosa ihre zwölfte jährliche Mahn­wache ab. Es waren dieses Jahr fast 200 Laternen mehr, die Krebs­opfer repräsentierten, als 2015, im Jahr meiner ersten Teilnahme an einer Mahnwache.

Viele Menschen, die ich über die Jahre kennen­gelernt habe, sind inzwischen gestorben. Aber Tina Cordova war noch da und leitete den Kampf. Und Henry war da. Er geht auf die 90 zu, und obwohl er vor kurzem seine Frau verloren hat und sein Gesundheits­zustand sich so sehr verschlechtert hat, dass er bei seiner Tochter lebt, ist er immer noch in der Lage, hinzustehen und seine Geschichte zu erzählen. Um von jener Wolke zu berichten, die sich über seine Heimat legte. Und deren Schöpfer daran zu erinnern, dass diese Wüste gar nicht so einsam ist.

Zum Autor

Joshua Wheeler ist Journalist und Schriftsteller aus Alamogordo, New Mexico, sowie Autor von «Acid West», einer Essay-Sammlung über den Süden New Mexicos. Er unterrichtet Creative Writing an der Louisiana State University und hat unter anderem in der «New York Times», in «Buzzfeed» und «Harper’s Bazaar» veröffentlicht.

Teile dieses Beitrags sind in ähnlicher Form in Joshua Wheelers Buch «Acid West» erschienen – angereichert durch eine Recherche vom Juli 2021.