Ist es diesmal anders? Ein Wellenvergleich
Die Pandemie ist komplexer geworden: Mutierte Viren können die dritte Welle hochtreiben, Impfungen können sie runterdrücken. Wo wir in der Schweiz gerade stehen.
Von Marie-José Kolly, 26.04.2021
Kommt die dritte Welle nun so richtig? Kommt sie nicht? Kommt sie? Kommt sie nicht?
Seit März hängen wir in der Schwebe. Vermögen die Impfungen die Epidemie wirklich schon zu bremsen und eine weitere tödliche Welle zu verhindern?
Was die Impfkampagne bewirkt
Auf den ersten, hoffnungsvollen Blick sieht es tatsächlich so aus. Wir betrachten hierfür erst einmal die tägliche Zahl derer, die mit Covid-19 ins Spital müssen – für Vergleiche zwischen verschiedenen Phasen der Epidemie ist das besser geeignet als Infektionszahlen, weil dafür unterschiedliche Teststrategien und Testhäufigkeiten keine Rolle spielen.
Die erste Welle vor einem Jahr und die zweite im Herbst stiegen während der ersten 30 Tage fast gleich schnell.
Der Anstieg der Spitaleintritte kam jeweils einer Sturmflut gleich. Demgegenüber verläuft die aktuelle Phase der Epidemie viel ruhiger. Die Zahlen steigen schon – nur eben viel langsamer.
Die langsamere Steigung geht vermutlich zumindest zu einem Teil auf die Impfkampagne zurück. Denn je höher die Impfrate bei jenen Menschen ist, die das Coronavirus ohne Impfschutz am heftigsten treffen würde – ältere Leute, chronisch Kranke –, desto weniger Menschen werden wegen Covid-19 ins Spital müssen. Seit die Mehrheit der Bewohnerinnen in Pflegeheimen geimpft sei, komme es bei ihnen kaum mehr zu schweren Krankheitsverläufen, sagte etwa der Zuger Kantonsarzt Rudolf Hauri kürzlich.
Die bereits erfolgten Impfungen halten vermutlich auch die Kurve der Todesfälle in Schach, gemeinsam mit den mittlerweile besseren und vielfältigeren Möglichkeiten, die Krankheit zu behandeln.
Aber erklärt der Impfeffekt die grossen Unterschiede zwischen dem Anstieg der ersten beiden und dieser dritten Welle? Und bremsen die Impfungen auch schon die Kurve mit den Fallzahlen?
Um das zu beantworten, hilft erst einmal ein Blick auf verschiedene Altersgruppen. Bisher vollständig geimpft sind rund 60 Prozent der über 80-Jährigen, rund 35 Prozent der Personen zwischen 70 und 79 Jahren und rund 9 Prozent der Personen zwischen 60 und 69 Jahren. Betrachtet man die Zahl der täglich neu Infizierten nach Alter, so fällt auf: Die Kurve der über 70-Jährigen, von denen schon viel höhere Anteile geimpft sind, verläuft flach, während die der Jüngeren steigt. Bei der 1. und der 2. Welle war das anders: Hier verliefen beide Ansteckungskurven ähnlich.
Allerdings ist es schwierig, abzuschätzen, inwiefern die abgeflachte Kurve auf die Impfungen zurückgeht – und inwiefern auf das möglicherweise veränderte Verhalten dieser Altersgruppe. Denn bei den Älteren sanken die Infektionszahlen schon im Januar – da war es vielerorts für einen Impfeffekt noch zu früh.
Ebenfalls zu früh ist es heute vermutlich für einen Impfeffekt über alle Altersgruppen hinweg, denn hier sind wir von der Herdenimmunität noch sehr weit entfernt: Mittlerweile sind landesweit 9,5 Prozent vollständig geimpft. Und auch wenn man optimistisch davon ausgeht, dass zusätzlich jede fünfte Person in der Schweiz die Infektion durchgemacht hat (und darum nun über einen gewissen Immunschutz verfügen könnte), ist noch deutlich über die Hälfte der Bevölkerung derzeit komplett ungeschützt.
Man könnte also erwarten, dass die Impfungen zwar die Kurven der Spitaleintritte und Todesfälle bremsen, die Infektionen aber fast unbeeinflusst weiterfahren. Aber sie unterscheiden sich gar nicht gross: Die Fallzahlen steigen nur wenig schneller als die Spitaleintritte.
Das vorsichtige Fazit also: Wir dümpeln trotz Impfungen mit Aufwärtstrend vor uns hin. Und wenn wir die coronamüde Impfzuversicht kurz ausblenden, erinnern wir uns vielleicht an den vergangenen Sommer.
Ist es die Ruhe vor dem Sturm?
Wie ein Blick auf den Reproduktionswert zeigt, sah die Situation im Sommer 2020 ganz ähnlich aus wie diejenige, in der wir uns jetzt befinden.
Der Reproduktionswert hatte sich damals und hat sich auch heute auf wenig mehr als 1 eingependelt. Das bedeutet: Die Fallzahlen wachsen zwar exponentiell, verdoppeln sich aber nicht alle paar Tage, sondern alle paar Wochen.
Was heute anders ist als damals: Bei leicht höherer Positivitätsrate – ein Hinweis auf eine höhere Dunkelziffer – liegt der tägliche Grundstock an bestätigten Infektionen bedeutend höher. Wir mögen vor uns hindümpeln, tun das aber bei sehr hohem Wasserstand.
Man kann es sich auch so vorstellen: Im Februar 2020 fuhren wir auf einer nebligen Kantonsstrasse auf den Frühling zu, und scheinbar aus dem Nichts drückte uns die massive Beschleunigung gegen die unbequeme Rücklehne des Beifahrersitzes.
Im Spätsommer 2020 tuckerten wir auf einer ruhigen Landstrasse vor uns hin, aber immer ein wenig schneller – und plötzlich mit massiver Beschleunigung. Viele sassen dann ganz verblüfft und ziemlich zerquetscht im Sitz, auch derjenige im Fahrersitz.
Die Molekular-Epidemiologin Emma Hodcroft hat uns im Herbst anschaulich erklärt, wie das zustande kommt: Man stelle sich ein Velo vor, dessen Bremsen schon ziemlich abgenutzt sind. Man merkt natürlich, dass die Bremsklötze alt sind: Es dauert etwas länger, bis das Velo anhält. Aber es hält. Ein paar Wochen später hält es ebenfalls, nur ist der Bremsweg wieder etwas länger. «Aber nun verlassen Sie sich auf eine ganz dünne übrig gebliebene Schicht», sagte Hodcroft damals. Und irgendwann ist sie weg, diese dünne Schicht, und die Bremsen bremsen nicht mehr. Woraus genau die letzte Schicht bestanden hat, ob aus sonnigem Wetter oder einer bestimmten Einschränkung, das wissen wir nicht.
Heute rasen wir mit hohem Tempo auf der Autobahn, immer schneller, aber etwas hält uns noch zurück. Brennstoff wäre genug da – in Form von ansteckenderen und kränker machenden Virusvarianten, die sich mittlerweile gegenüber dem sogenannten Wildtyp durchgesetzt und überall Fuss gefasst haben.
Was den Anstieg zurückhält
Und jetzt? Können wir auf eine Impfbremse hoffen? Oder zeigen unsere Grafiken wieder nur die Ruhe vor der Sturmflut?
«Beides sind sehr valide Theorien», sagt Hodcroft am Telefon. Die Kurvenverläufe nach diesen beiden Faktoren aufzuschlüsseln, sei aber schwierig, die Lücken zwischen den verschiedenen Kurven schwer zu lesen. Sie hoffe aber, in den Daten der vergangenen Monate einen Impfeffekt zu sehen.
Sofern er für die älteren Bewohnerinnen der Schweiz schon greift, ist ein Teilziel erreicht: jene Menschen zuerst zu schützen, die Sars-CoV-2 am meisten gefährdet. Aber noch sind nicht alle geimpft, die bei einer Infektion besonders viel riskieren.
Und: «Ältere Menschen zu schützen, reicht nicht», sagt Hodcroft. Eine grosse dritte Welle würde bedeuten, dass auch junge Menschen schwer erkranken oder gar sterben würden. Und dass viel mehr Menschen an Langzeitfolgen der Infektion, sogenanntem Long Covid, leiden könnten.
Schon heute befinden sich mehr und mehr auch jüngere Covid-19-Patientinnen in Krankenhausbetten, die Intensivstationen füllen sich. Hinzu kommt, dass die Infektionszahlen, die das Bundesamt für Gesundheit publiziert, die wirkliche Lage vermutlich seit Ende März stärker unterschätzen als zuvor – das suggeriert zumindest die Kurve der Virusmenge, die im Zürcher Abwasser schwimmt.
Bisher konnten die Infektionen mit der ansteckenderen Variante B.1.1.7 in der Schweiz einigermassen in Schach gehalten werden. Insbesondere dadurch, dass der Bundesrat im Januar und mit Blick auf die damalige Situation in Grossbritannien Einschränkungen verordnet hatte.
Staaten, die Sars-CoV-2 mehrheitlich losgeworden sind, haben hart dafür gearbeitet. «Man behält die Fallzahlen nicht durch Glück niedrig», sagt Hodcroft, «sondern by design.» Mit einer Strategie, die klare Kriterien für Öffnungs- und Schliessungsschritte benennt. Entscheidungen lassen sich unter Druck leichter fällen, wenn man einen Plan hat. Und der Schweizer Plan ist wieder bedeutend weniger sicher als noch im März.
«Wenn wir unter die Oberfläche schauen, sehen wir Hinweise darauf, dass wir die Übertragungen nicht völlig unter Kontrolle haben», sagt Hodcroft. Und da die Zahl der durchgeführten Tests seit Ostern wieder sinkt, entgleitet uns diese Kontrolle weiter.
Vielleicht helfen die Impfungen bereits ein wenig. Vielleicht auch die reduzierten Kontakte über die Sportferien. Ziemlich sicher die bis vor kurzem geschlossenen Restaurants, Cafés und Bars. Möglicherweise hilft auch das sonnige Wetter: Man kann sich gerade ganz gut draussen treffen. Was, wenn etwas davon die dünne Schicht auf dem Bremsklotz ist?
«Die nächsten drei Monate werden challenging», sagt Hodcroft. Denn bis wir durch Impfungen Herdenimmunität erreicht haben werden, wird es in der Schweiz noch eine Weile dauern – ganz zu schweigen von einer weltweiten Immunität.
Was ist diesmal anders?
Neue Faktoren beeinflussen die Epidemie mit: Impfungen, welche die Ansteckungen bremsen können. Und auf der anderen Seite des Spielfelds: Virusvarianten, die sie antreiben. Akteure aus verschiedenen Wirtschaftszweigen, die mehr und mehr Druck auf Regierungen ausüben.
Auch das Verhalten der Menschen hat sich verändert: Viele sind müder geworden, vielleicht etwas nachlässiger. Manche von uns haben um liebe Menschen bangen müssen, als diese im Spital lagen. Viele haben einen oder mehrere Mitmenschen verloren. Es ist noch nicht vorbei, aber es werden bessere Zeiten kommen.
Wir sitzen mittendrin im grossen Aushalten.
Es hilft alles nichts: «Jetzt ist nicht die Zeit, aufzugeben», sagt Hodcroft.
Bleiben Sie gesund.
Wir zeigen in den Grafiken die ersten 90 Tage ab dem Start der verschiedenen Epidemiewellen. Den Start definieren wir als den tiefsten Punkt, bevor die Werte jeweils stärker zu steigen begannen: ein sogenanntes lokales Minimum der Kurve.
Für die Fallzahlen ist das
bei der ersten Welle der 24. Februar 2020,
bei der zweiten der 28. September 2020
und bei der dritten der 20. Februar 2021.
Für die Spitaleintritte ist es
bei der ersten Welle der 24. Februar 2020,
bei der zweiten der 26. September 2020
und bei der dritten der 26. Februar 2021.
Für die Todesfälle ist es
bei der ersten Welle der 9. März 2020,
bei der zweiten der 8. Oktober 2020
und bei der dritten der 6. März 2021.